Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 42



97 IV 42

13. Urteil des Kassationshofes vom 19. Februar 1971 i.S. Jacob gegen
Statthalteramt Horgen. Regeste

    Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 21 Abs. 1 und 54 Abs. 3 SSV.

    1.  Während des Sicherheitshalts in Stopstrassen darf die Front des
Fahrzeuges nicht über die weisse Haltelinie hinausragen (Erw. 1 und 2).

    2.  Vorsichtspflicht des Wartepflichtigen bei der Wegfahrt aus einer
unübersichtlichen Stopstrasse (Erw. 1c).

Sachverhalt

    A.- Werner Jacob führte am Nachmittag des 4. Mai 1969 in Oberrieden
einen Personenwagen (Opel-Commodore) durch die Bindernstrasse, die an
der Einmündung in die Alte Landstrasse als Stopstrasse signalisiert ist.
Nachdem Jacob seinen Wagen an der Einmündung angehalten hatte, wobei
die Vorderräder auf der Stoplinie standen, streifte ein auf der Alten
Landstrasse nahe am Stopsack vorbeifahrender Personenwagen den Opel,
dessen Vorderteil ungefähr 40 cm über die Haltelinie hinausragte.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Horgen
erklärte Jacob, der gegen eine Strafverfügung des Statthalteramtes
Horgen Einsprache erhoben hatte, der Übertretung von Art. 27 Abs. 1 SVG
in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 und Art. 54 Abs. 3 SSV (Missachtung der
Stoplinie) schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 40.-.

    Die vom Verurteilten gegen dieses Urteil eingereichte kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wurde von der I. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Zürich am 7. Dezember 1970 abgewiesen.

    C.- Jacob führt Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht mit
dem Antrag, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 21 Abs. 1 SSV ist der Fahrzeugführer verpflichtet, in
Stopstrassen vor der Querstrasse einen Sicherheitshalt einzuschalten
und den auf der Querstrasse verkehrenden Fahrzeugen den Vortritt
zu gewähren. Art. 54 Abs. 3 SSV bestimmt, dass die beim Stopsignal
angebrachte weisse Haltelinie anzeigt, wo das Fahrzeug gegebenenfalls
angehalten werden muss.

    a) Richtig ist, dass keine der beiden Bestimmungen ausdrücklich
erklärt, ob mit den Vorderrädern oder mit der Front des Fahrzeuges an
der Stoplinie anzuhalten ist. Letzteres ergibt sich jedoch aus dem Sinn
und Zweck der erwähnten Vorschriften. Mit dem obligatorischen Halt an
der Einmündung von Stopstrassen will in den Querstrassen ein möglichst
flüssiger und gefahrloser Verkehrsablauf erreicht werden. Zu diesem
Zweck schreibt Art. 21 Abs. 1 SSV vor, dass der Sicherheitshalt vor der
Querstrasse gemacht werden muss, um zu verhindern, dass Wartepflichtige
während des Halts die Fahrbahn der Querstrasse in Anspruch nehmen und
den Verkehr der Vortrittsberechtigten stören oder behindern. Soll die
Pflicht zum Anhalten vor der Querstrasse den beabsichtigten Zweck erfüllen,
so kann dies nur heissen, dass der den Vortrittsberechtigten zustehende
Raum frei bleiben muss und haltende Fahrzeuge nicht in die Querstrasse
hineinragen dürfen.

    Art. 54 Abs. 3 SSV ist nicht anders zu verstehen. Mit der Vorschrift,
dass auf Stopstrassen mit Hartbelag die Haltestelle stets durch eine
weisse Linie zu kennzeichnen ist, will den Wartepflichtigen deutlich
sichtbar gemacht werden, wo die Querstrasse beginnt, um jeden Irrtum
auszuschliessen und unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse eine
klare und gefahrenfreie Verkehrslage zu schaffen. Die Bodenmarkierung hat
somit die Bedeutung einer verbindlichen Abgrenzung zwischen Stopstrasse
und Querstrasse; sie bestimmt im einzelnen Falle eindeutig die Stelle,
die in Art. 21 Abs. 1 SSV allgemein umschrieben wird. Dem Zweck dieser
Bestimmung entsprechend kann daher auch die weisse Haltelinie beim
Stopsignal nur den Sinn haben, dass sie die Grenze bezeichnet, bis zu
der die Front des Fahrzeuges beim Sicherheitshalt vorstossen darf. Die
davon abweichende Auffassung des Beschwerdeführers wäre mit dem Gebot der
Verkehrssicherheit nicht vereinbar. Dürfte mit den Vorderrädern bis auf
die Stoplinie gefahren werden, könnte dies bei den Vortrittsberechtigten
den Eindruck erwecken, der Wartepflichtige schalte keinen Halt ein oder
breche diesen zur Unzeit ab. Diese Unsicherheit würde noch dadurch erhöht,
dass der dem Querverkehr zur Verfügung stehende Raum, wenn er von der
jeweiligen Bauart und Länge der wartepflichtigen Fahrzeuge abhinge,
unvoraussehbaren Schwankungen unterworfen wäre.

    b) Der Beschwerdeführer wendet zu Unrecht ein, der Fahrzeuglenker könne
die Lage der Vorderräder leicht erkennen, dagegen unmöglich feststellen,
wo sich die Vorderkante des Fahrzeuges befinde. Im allgemeinen kann die
Vorderkante der Motorhaube vom Führersitz aus ohne Mühe gesehen werden,
während die Vorderräder meistens verdeckt sind. Dazu kommt, dass die
Beherrschung des Fahrzeuges die Kenntnis seiner Aussenmasse voraussetzt
und die Fahrzeugführer bei der Annäherung an Hindernisse, z.B. beim
Kolonnenfahren und Parkieren, häufig die Lage ihrer Wagenfront beurteilen
müssen. Es ist daher durchaus möglich, vor der breit eingezeichneten
Stoplinie so anzuhalten, dass die Front des Fahrzeuges nicht in die
Querstrasse hineinreicht.

    c) Unzutreffend ist auch der Einwand des Beschwerdeführers, dass der
Sicherheitshalt seinen Zweck nur erfülle, wenn der Fahrzeugführer soweit
vorfahren dürfe, bis er die Querstrasse in beiden Richtungen überblicken
könne. Diese Auffassung verkennt, dass der Sicherheitshalt in erster Linie
die ungehinderte Durchfahrt der Vortrittsberechtigten an der Einmündung der
Stopstrasse zu gewährleisten hat; diesem Hauptzweck kommt gegenüber der
Forderung nach Übersicht des Wartepflichtigen der Vorrang zu. Nach den
vom Eidg. Justiz- und Polizeidepartement genehmigten Richtlinien der
Vereinigung Schweizerischer Strassenfachmänner ist übrigens die Haltelinie
grundsätzlich so anzubringen, dass der haltende Strassenbenützer die
Querstrasse nach beiden Seiten überblicken kann. Wo dies aus Gründen der
örtlichen Verhältnisse aber nicht möglich ist, hat sich der Wartepflichtige
auch bei verdeckter Sicht zunächst an die Haltelinie zu halten. Nach dem
Sicherheitshalt ist in gleicher Weise vorzugehen wie dann, wenn ein nicht
vortrittsberechtigter Führer in einer unübersichtlichen Einmündung in eine
Strasse mit Vortrittsrecht einbiegt. Er hat also, wie in BGE 84 IV 112
ausgeführt wurde, sich langsam und vorsichtig bis zur Stelle vorzutasten,
wo er die Querstrasse nach beiden Richtungen überblicken und sich schlüssig
werden kann, ob es möglich ist, das Einbiegemanöver gefahrlos fortzusetzen,
oder ob allenfalls ein zweiter Halt gemacht werden muss, der entgegen
der Annahme in BGE 89 IV 143 Erw. 2 nicht immer erforderlich ist.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Falle genügte nicht, dass der Beschwerdeführer das
Stopsignal beachtete und irgend einen Sicherheitshalt einschaltete. Dieser
entsprach nicht den Vorschriften der Art. 21 Abs. 1 und 54 Abs. 3 SSV,
indem der Wagen des Beschwerdeführers ca. 40 cm über die Stoplinie
hinausragte und dadurch das Kreuzen vortrittsberechtigter Fahrzeuge
in der Querstrasse behinderte. Der Beschwerdeführer hat sich damit der
Widerhandlung gegen Art. 27 Abs. 1 SVG schuldig gemacht, der vorschreibt,
dass nebst den Signalen auch dieMarkierungen zu befolgen sind.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.