Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 36



97 IV 36

10. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. April 1971
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen Prince. Regeste

    Art. 35 Abs. 5 SVG. Der Fahrzeugführer, der ausserhalb einer
Strassenverzweigung die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen, darf
nicht links überholt werden.

Sachverhalt

    A.- Frau Vogel fuhr am 1. November 1969 am Steuer eines Kombiwagens
auf der 7 m breiten Hauptstrasse von Nottwil Richtung Sursee. Sie
beabsichtigte, ausserhalb des Dorfes Nottwil nach links auf den Vorplatz
der von ihr bewohnten Liegenschaft Ei abzubiegen. Sie betätigte deshalb den
linken Blinker, verlangsamte die Geschwindigkeit und fuhr der Leitlinie
entlang. Weber, der mit seinem Personenwagen Frau Vogel gefolgt war,
hielt nach rechts und bremste leicht ab, um den Kombiwagen abbiegen zu
lassen. In diesem Augenblick nahte von hinten der einen Fiat-Personenwagen
lenkende Prince in der Absicht, die Fahrzeuge Vogel und Weber links zu
überholen. Als er Frau Vogel abbiegen sah, bremste er stark. Er konnte es
jedoch nicht mehr verhindern, dass es zu einer Kollision zwischen seinem
Auto und dem Kombiwagen kam.

    B.- Prince reichte gegen die ihm auferlegte Busse von Fr. 60.-wegen
vorschriftswidrigen Überholens im Sinne von Art. 35 Abs. 5 SVG
Kassationsbeschwerde ein.

    Mit Entscheid vom 30. September 1970 sprach das Obergericht des Kantons
Luzern Prince von Schuld und Strafe frei. Es ging davon aus, dieser sei
vortrittsberechtigt gewesen und habe nicht damit rechnen müssen, dass
ein vorausfahrendes Fahrzeug nach links auf einen Hausvorplatz abbiegen
und ihm dadurch den Vortritt verweigern werde.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt gegen dieses Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei
aufzuheben und die Sache zur Bestrafung von Prince im Sinne von Art. 35
Abs. 5 SVG an das Obergericht zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 35 Abs. 5 SVG dürfen Fahrzeuge, deren Führer die Absicht
anzeigt, nach links abzubiegen, nicht überholt werden. Damit ist
ausgesprochen, dass der Führer, der nach links abbiegen will und die
Richtungsänderung ankündigt, entgegen der Auffassung des Obergerichts vor
demjenigen, der überholen will, den Vortritt hat. Das in dieser Bestimmung
enthaltene Verbot des Linksüberholens von Linksabbiegern gilt unbekümmert
darum, ob in oder ausserhalb einer Strassenverzweigung abgebogen wird
(vgl. BGE 91 IV 12/13 und 206). Der Fahrer, der nach links abbiegen will,
ist auch ausserhalb von Strassenverzweigungen verpflichtet, gegen die
Strassenmitte zu halten (Art. 36 Abs. 1 SVG und Art. 13 Abs. 1 VRV). Das
wäre unverständlich, wenn ihn ein nachfolgendes Fahrzeug gleichwohl vor dem
Abbiegen noch links überholen könnte. Das den Linksabbiegern auferlegte
Gebot, frühzeitig gegen die Strassenmitte einzuspuren, ist ja gerade
aufgestellt worden, um nachfolgenden Fahrzeugen das Rechtsüberholen zu
ermöglichen. Wo dies die örtlichen Verhältnisse nicht erlauben, hat das
nachfolgende Fahrzeug zu warten, bis ihm der Linksabbieger die rechte
Fahrbahn freigibt. Damit stimmt überein, dass gemäss Art. 35 Abs. 6 SVG
Fahrzeuge, die zum Abbiegen nach links eingespurt haben, nur noch rechts
überholt werden dürfen. Die im Kommentar BADERTSCHER/SCHLEGEL vertretene
Auffassung (2. Auflage, S. 110), wonach das Linksüberholverbot gegenüber
Linksabbiegern auf Strassenverzweigungen beschränkt sein soll, findet in
der gesetzlichen Ordnung keine Stütze (vgl. unveröffentlichtes Urteil
des Kassationshofes vom 13. Juni 1969 i.S. Berger und vom 9. Januar 1968
i.S. Rihm). Daraus folgt, dass die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat,
wenn sie erklärt, Art. 35 Abs. 5 SVG habe die unter dem MFG geltende
Regelung nicht geändert und demzufolge Prince das Vortrittsrecht einräumt.