Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 31



97 IV 31

8. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. März 1971
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden gegen N. Regeste

    Art. 254 StGB, Unterdrückung von Urkunden; Verhältnis zu Art.  57 -
Abs. 1 Satz 2 PVG.

    Die beiden Tatbestände stehen inbezug auf Postsendungen mit
Urkundencharakter nicht in Idealkonkurrenz, sondern in unechter
Gesetzeskonkurrenz.

Sachverhalt

    A.- Am 13. März 1968 zahlte die Kassiererin der Sektion B. der
Krankenkasse Konkordia, Frau F., am Schalter des Postbüros B. den
Betrag von Fr. 1000.-- an die Krankenkasse Konkordia in Luzern ein. Die
Lehrtochter N. nahm das Geld entgegen, stempelte Abschnitt, Stamm und
Empfangsschein und übergab den letztern der Einzahlerin. Den Betrag von Fr.
1000.-- trug sie nicht in die Einzahlungsrechnung der Postkasse ein;
Stamm und Abschnitt vernichtete sie.

    Am. 21. März 1968 zahlte Frau F. an die gleiche Adresse einen
weitern Betrag von Fr. 800.-- ein. N. wiederholte bei dieser Einzahlung
ihre Machenschaften vom 13. März. Sie stellte am gleichen Tag einen
Einzahlungsschein über Fr. 1000.-- aus, wobei sie als Adressatin die
Krankenkasse Konkordia in Luzern und als Einzahlerin Frau F. einsetzte.
Hierauf trug sie den Betrag von Fr. 1000.-- in die Einzahlungsrechnung
der Postkasse ein.

    B.- Das Kantonsgericht von Graubünden erklärte N. am 21.  April 1970
der fortgesetzten Unterdrückung von Urkunden sowie wegen einer weiteren
Verfehlung der Urkundenfälschung schuldig und verurteilte sie zu 3 Monaten
Gefängnis, bedingt aufgeschoben auf eine Probezeit von 2 Jahren; von der
Anklage der Veruntreuung und der Verletzung der Beförderungspflicht (Art.
57 PVG) sprach es sie frei.

    C.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag auf Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Verurteilung
der Angeklagten wegen Veruntreuung und Verletzung der Beförderungspflicht.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gegen die Freisprechung von der Anklage der Verletzung der
Beförderungspflicht bringt die Staatsanwaltschaft vor, wenn durch
die Vernichtung einer Urkunde auch die Beförderung eines Geldbetrages
verunmöglicht werde, ständen die beiden Tatbestände des Art. 254 StGB
und des Art. 57 PVG in Idealkonkurrenz.

    a) Nach Art. 333 Abs. 1 StGB finden die allgemeinen Bestimmungen
des Strafgesetzbuchs auf Taten, die in andern Bundesgesetzen mit Strafe
bedroht sind, insoweit Anwendung, als diese Bundesgesetze nicht selbst
Bestimmungen aufstellen. Das Postverkehrsgesetz enthält lediglich die
allgemeine Bestimmung in Art. 56, dass die in Art. 59 bis 62 genannten
strafbaren Handlungen auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sind. Nach
Art. 63 PVG bleiben für Tatbestände, die im Postverkehrsgesetz nicht
aufgeführt sind, die einschlägigen Strafgesetze des Bundes vorbehalten. In
welchem Verhältnis diese zu den Vorschriften des Postverkehrsgesetzes
stehen, ist damit nicht geregelt. Insbesondere ist nicht gesagt, dass
bei den unter beide Gesetze zugleich fallenden Handlungen das eine dem
andern vorgehe, sei es in dem Sinne, dass Vorschriften mit der Androhung
schwererer Strafen anwendbar wären, sei es als Sondergesetz. Mangels einer
solchen besonderen Regelung ist nach den allgemeinen Grundsätzen über das
Zusammentreffen verschiedener Strafvorschriften zu entscheiden, wie sie
für die Anwendung oder Nichtanwendung von Art. 68 StGB bestimmend sind,
also danach, ob der Unrechtsgehalt der zu beurteilenden Handlung durch
die Bestrafung bereits nach einer der zusammentreffenden Bestimmungen
völlig abgegolten werde oder nicht (vgl. BGE 91 IV 32 E 2).

    b) Schutzobjekt des Art. 57 Abs. 1 Satz 2 PVG ist die
"Postsendung". Postsendungen sind im vorliegenden Fall die Abschnitte
der Postzahlscheine, ausser man wolle in ihnen Mitteilungen der Post
selbst erblicken, womit eine Anwendung von Art. 57 PVG von vornherein
entfiele. Der Abschnitt (wie der sog. Stamm) des Einzahlungsscheins ist
geeignet, Tatsachen von rechtlicher Bedeutung zu beweisen; er ist also
Urkunde im Sinne von Art. 110 Ziff. 5 StGB. Urkunden sind aber auch
Schutzobjekt von Art. 254 StGB. Die Handlung der Beschwerdegegnerin,
das Vernichten, ist in Art. 254 StGB wie in Art. 57 PVG unter Strafe
gestellt. Die beiden Bestimmungen unterscheiden sich - abgesehen davon,
dass unter Art. 57 PVG auch Postsendungen ohne Urkundencharakter fallen -
lediglich darin, dass Urkundenunterdrückung nach Art. 254 StGB überdies
Schädigungsabsicht oder unrechtmässige Vorteilsabsicht verlangt. Die
letztere ist bei der Beschwerdegegnerin gegeben, denn sie wollte nach der
Feststellung der Vorinstanz das Kassenmanko verdecken. Mit der Bestrafung
wegen Unterdrückung von Urkunden ist somit der Unrechtsgehalt ihrer
Handlung vollständig abgegolten. Es gebricht ihr an einem mehrfachen
Verschulden, das die Verwirkung mehrerer Freiheitsstrafen nach sich
zöge. Also liegt nicht Idealkonkurrenz, sondern scheinbare Konkurrenz
(unechte Gesetzeskonkur renz) vor.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.