Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 218



97 IV 218

38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. November 1971 i.S. Leu
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Vorsichtspflichten des Linksabbiegers (Art. 34 Abs. 3 SVG) und des
in zweiter Position Überholenden (Art. 32 Abs. 1, 35 Abs. 5 und 6 SVG).

Sachverhalt

    A.- Am Samstag, den 9. April 1970, fuhren bei schönem, trockenem
Wetter vier Autos in grösseren Abständen ausserorts auf der geraden, 7,5
m breiten Betonstrasse von Oberbuchsiten nach Egerkingen. Zuvorderst
der spanische Arbeiter Vasquez im VW-Kombiwagen seines Arbeitgebers,
gefolgt vom jugoslawischen Kellner Mladen in einem Opel-Rekord; ihre
Geschwindigkeit betrug ca. 60-70 km/h. Von hinten näherte sich ihnen mit
gut 100 km/h der Opel-Kadett des Lehrers Martin von Arx. Noch rascher,
nämlich mit ca. 120-150 km/h holte der weiter zurückliegende Otto Leu
mit seinem Jaguar auf die vorausfahrenden Personenwagen auf. Von Arx
überholte korrekt den vor ihm fahrenden Mladen und schickte sich an,
auch Vasquez zu überholen. Er bemerkte frühzeitig, dass Vasquez den
linken Blinker betätigte, gegen die Strassenmitte einspurte und seine
Geschwindigkeit auf ca. 50 km/h herabsetzte. Von Arx schloss richtig, dass
Vasquez beabsichtigte, nach links in den Steinbruchweg einzuschwenken. Es
handelte sich dabei um eine 5 m breite Naturstrasse. An der Abzweigung
ist die Betonstrasse mit Signal 307 als Hauptstrasse, der Steinbruchweg
mit Signal 116 als Nebenstrasse gekennzeichnet.

    Da von Arx das Einspur-Abschwenkmanöver des Vasquez auf genügende
Distanz bemerkt hatte, überholte er den VW korrekt und gefahrlos auf der
rechten Seite.

    Der Jaguarfahrer Leu hatte inzwischen aufgeholt und wollte mit
unvermindertem Tempo die drei vor ihm fahrenden Autos überholen. Während
Mladen durch von Arx überholt wurde, verdeckte dieser für kurze Zeit dem
Leu die Sicht auf den Kastenwagen des Vasquez. Leu glaubte, Vasquez fahre
rechts weiter, und beabsichtigte, ihn hinter von Arx und anschliessend auch
diesen zu überholen. Für Leu überraschend bog dann aber von Arx nach rechts
und begann auf der rechten Strassenseite den in die Mitte eingespurten
Kastenwagen zu überholen. Leu sah jetzt auch, dass am Kastenwagen der
linke Blinker eingeschaltet war. Der Jaguar war in diesem Augenblick noch
ca. 70 m vom VW-Bus entfernt. Wegen seiner hohen Geschwindigkeit vermochte
Leu weder seinen Wagen hinter von Arx abzubremsen und diesem rechts am VW
vorbei zu folgen, noch hinter dem verlangsamten Kastenwagen anzuhalten. So
versuchte er noch links an Vasquez vorbeizukommen. Durch Hupsignal will er
Vasquez gewarnt haben, um ihn zum Anhalten zu veranlassen. Vasquez weiss
nichts von einem solchen Signal. Als er nach links in die Nebenstrasse
einbog, bremste Leu im letzten Moment ab und fuhr noch weiter nach
links. Auf dem Radfahrweg ausserhalb der eigentlichen Fahrstrasse prallte
der Jaguar mit grosser Wucht auf die linke hintere Flanke des Kastenwagens,
der zur Seite geschleudert und umgekippt wurde.

    Es entstand grosser Sachschaden. Die Mitfahrer in beiden Autos erlitten
leichtere Verletzungen.

    B.- Der Amtsgerichtspräsident von Balsthal verurteilte am 13. November
1970 Leu wegen schwerer Verletzung der Art. 31 Abs. 1, 32 Abs. 1, 35 Abs. 5
und 6 in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2 SVG zu einer bedingt löschbaren
Busse von Fr. 150.--, Vasquez wegen Verletzung von Art. 34 Abs. 3 und 90
Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 50.-.

    Leu führte Kassationsbeschwerde an das Obergericht des Kantons
Solothurn. Dieses bestätigte am 19. Mai 1971 die Verurteilung gemäss
Art. 31 Abs. 1, 32 Abs. 1 und 2, 35 Abs. 5 und 6 SVG. In teilweiser
Gutheissung der Kassationsbeschwerde verneinte es dagegen eine grobe
Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG. In
Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 wurde die Busse auf Fr. 120.-- herabgesetzt.

    Das erstinstanzliche Urteil gegen Vasquez ist in Rechtskraft erwachsen.

    C.- Mit der Nichtigkeitsbeschwerde beantragt Leu Freisprechung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    1./2. - ...

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die Schuld am Zusammenstoss
treffe ausschliesslich den Mitbeteiligten Vasquez. Dieser habe ungenügend
nach hinten gesichert, bevor er auf der geraden Hauptstrasse sein
Abbiegemanöver nach links in eine Nebenstrasse einleitete. Er hätte den
Unfall noch im letzten Moment verhindern können, wenn er auf das Hupsignal
des Beschwerdeführers durch einen Sicherheitshalt reagiert hätte.

    Mit Recht verweist der Beschwerdeführer auf den Umstand, dass im
heutigen Strassenverkehr die Linksabbieger eine wesentliche Gefahrenquelle
darstellen und dass besonders derjenige, der im flüssigen Überlandverkehr
auf einer Hauptstrasse verlangsamen und nach links in eine Nebenstrasse
einbiegen will, zu allergrösster Vorsicht verpflichtet ist. Er wird
auf die entgegenkommenden aber nicht minder auf die von hinten nahenden
schnelleren Fahrzeuge achten und stets mit der Gefahr rechnen müssen,
dass seine Zeichengebung übersehen oder missachtet werden könnte (BGE 91
IV 11, 20, 205; 93 II 495).

    In dieser Hinsicht liegt auf Seiten der kantonalen Instanzen keine
Rechtsverletzung vor. Vasquez wurde gebüsst, obwohl er so früh den
Blinker betätigte und nach links einspurte, dass der ihm nachfolgende
Personenwagen, der noch nicht zum Überholen angesetzt hatte, rechtzeitig
reagieren und daher ungefährdet rechts am eingespurten Kastenwagen
vorbeifahren konnte. Wenn Vasquez trotzdem bestraft wurde, so nur deshalb,
weil er nicht noch zusätzlich im letzten Augenblick sich nach hinten
vergewisserte und dem sehr rasch heranfahrenden Beschwerdeführer die an
sich nicht mehr erlaubte Vorfahrt auf der linken Seite (BGE 97 IV 36)
ermöglichte. Damit ist dem in der Nichtigkeitsbeschwerde hervorgehobenen
Erfordernis des modernen Strassenverkehrs zutreffend und ausreichend
Rechnung getragen worden.

    Der Umstand, dass Vasquez sich insoweit nicht vorschriftsgemäss
verhielt, vermöchte den Beschwerdeführer nur dann zu entlasten,
wenn das Verhalten des Abschwenkenden so ausserhalb der normalen
Lebenserfahrung gewesen wäre, dass Leu vernünftigerweise nicht damit
rechnen musste, und wenn das Fehlverhalten des Beschwerdeführers nur
durch diese unvorhersehbare Situation ausgelöst worden wäre (BGE 86 IV
155 ff. E. 1). Von beidem kann keine Rede sein. Dass ein Fahrzeug an einer
Strassenkreuzung ohne Linksabbiege-Verbot von einer Hauptstrasse nach links
in eine Nebenstrasse gesteuert wird, nachdem der Führer rechtzeitig den
Blinker betätigte und nach links einspurte, ist alltäglich. Es liegt auch
keineswegs ausserhalb normaler Erfahrung, dass sich ein solcher Abbieger,
wenn er sein Manöver rechtzeitig vor dem ihm folgenden Fahrzeug durchführt,
nicht noch weiter nach hinten sichert, auch wenn er dies an sich tun
müsste. Besonders fällt aber ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer nicht
erst durch das verkehrswidrige Verhalten des Dritten zu einem Fehlverhalten
veranlasst wurde, sondern dass ihm unabhängig davon mehrfache Verletzungen
von Verkehrsregeln vorzuwerfen sind. Eine Schuldkompensation ist jedoch
im Strafrecht ausgeschlossen (BGE 85 IV 91).

Erwägung 4

    4.- An sich wäre nach der Feststellung der kantonalen Instanzen auf
jener Strasse eine Geschwindigkeit von 150 km/h nicht übersetzt. Dem
Beschwerdeführer ist zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass
eine Fahrzeugkolonne in einem Zug überholt werden darf, sofern der
Überholende weder entgegenkommende noch überholte Fahrzeuge behindert und
er insbesondere die Gewissheit hat, nach Überholen der Kolonne oder in eine
bestehende grössere Lücke ohne Behinderung des übrigen Verkehrs einbiegen
zu können (BGE 95 IV 178). Liegt eine solche eindeutige Situation vor,
so ist der Überholende auch nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit
bis nahezu auf diejenige der überholten Fahrzeuge herabzusetzen,

    Diese Rechtslage entbindet den überholenden Fahrer nicht von der
ihm obliegenden Sorgfaltspflicht, im Gegenteil. Er hat während des
ganzen Überholmanövers darauf zu achten, ob nicht Anzeichen für ein
verkehrswidriges Verhalten eines andern Fahrzeuges bestehen (Ausbrechen
aus der Kolonne usw.). Tritt ein Hindernis in Erscheinung, z.B. dadurch,
dass weiter vorne ein Wagen seinerseits überholt, so darf er zwar sein
Manöver fortsetzen, muss aber die Geschwindigkeit und den Abstand auf
den Vorausfahrenden der Situation anpassen. Verdeckt das vorausfahrende
Fahrzeug die Sicht nach vorne, so hat der Überholende seine Fahrweise
und Geschwindigkeit wiederum so einzurichten, dass er allen Gegebenheiten
gewachsen ist.

    Der Beschwerdeführer hat es offensichtlich an der nötigen Sorgfalt
fehlen lassen. Er hat den mit etwas über 100 km/h fahrenden von Arx
gesehen, als dieser Mladen überholte. Leu nahm an, von Arx werde auch
den vorher vor ihm auf der rechten Strassenseite fahrenden Kastenwagen
Vasquez überholen und nachher einbiegen, worauf er, Leu, auch von Arx
überholen könne. Solange aber von Arx die Überholspur benutzte und den
Kastenwagen verdeckte, bestand für Leu keine Gewissheit, wie sich der
weitere Überholvorgang abwickeln werde. Insbesondere konnte er nicht
beobachten, ob der Kastenwagen unverändert rechts und mit gleicher
Geschwindigkeit weiterfahren werde. Beschleunigte er, so konnte sich der
Überholvorgang für von Arx stark verlängern. Der Beschwerdeführer hätte
schon deshalb seine Geschwindigkeit herabsetzen und so viel Abstand auf
von Arx halten müssen, dass er diesem gefahrlos hätte folgen und auch bei
einem Bremsmanöver des von Arx seinerseits rechtzeitig abbremsen können.

    Leu behauptet denn auch in der Beschwerde, er habe einen genügenden
Abstand gehalten. Er hat aber früher selbst das Gegenteil zugegeben. Als
von Arx den links eingespurten Kastenwagen rechts überholte, "versperrte
er" Leu den Weg, d.h. Leu kam mit so grosser Geschwindigkeit und bereits
so kleinem Abstand auf von Arx zugefahren, dass er nicht mehr rechtzeitig
abbremsen konnte, um ihm gefahrlos rechts am Kastenwagen vorbei folgen zu
können. Aus dem gleichen Grund konnte er auch nicht hinter dem Kastenwagen
abbremsen (der zum Abschwenken verlangsamt hatte), um dann zwischen dem
abschwenkenden Wagen und von Arx durchzufahren. Es blieb ihm tatsächlich
nur noch der Versuch übrig, links am Kastenwagen vorbeizukommen.

    Es hilft dem Beschwerdeführer nichts, dass, wie er sagt, "bei der
Einleitung und beim Beginn seines Überholmanövers ... von der Absicht des
Vasquez, nach links abzubiegen noch nichts zu erkennen ... war". Fehlerhaft
war sein Verhalten nicht bei Einleitung des Überholmanövers, sondern in
dem Augenblick, wo von Arx vor ihm auf der Überholspur fuhr, ihm damit den
Weg für die ungehinderte Weiterfahrt mit gleicher Geschwindigkeit verlegte
und ausserdem die Sicht auf den vordersten Wagen verdeckte. In diesem
Augenblick hätte der Beschwerdeführer seine Geschwindigkeit herabsetzen und
einen genügenden Abstand auf von Arx halten müssen. Er fuhr mit übersetzter
Geschwindigkeit und vermochte in der plötzlich aufgetauchten Notsituation
sein Fahrzeug nicht mehr richtig zu beherrschen. Hätte er sich richtig
verhalten, so wäre ihm kein Verstoss gegen das SVG vorzuwerfen und es
wäre ausserdem trotz dem von Vasquez begangenen Fehler mit grösster
Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Kollision gekommen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.