Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 146



97 IV 146

29. Entscheid der Anklagekammer vom 24. Juni 1971 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Bestimmung des Gerichtsstandes.

    1.  Der Gerichtsstand richtet sich nach den strafbaren Handlungen,
die Gegenstand der Untersuchung bilden und nicht auf einer offensichtlich
haltlosen Beschuldigung beruhen (Erw. 1).

    2.  Voraussetzungen für die nachträgliche Änderung eines von der
Anklagekammer festgesetzten oder von den beteiligten Kantonen vereinbarten
Gerichtsstandes (Erw. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Otto Oppliger, geb. 2. April 1951, und Kurt Scheidegger,
geb. 12. September 1951, die in der Nacht vom 3./4. Januar 1971 aus der
Erziehungsanstalt Tessenberg entwichen waren, gestanden am 7. Januar 1971
vor der bernischen bzw. solothurnischen Kantonspolizei, am 4. Januar 1971
in Brügg und am 5. Januar 1971 in Orpund gemeinsam je einen Versuch
der Entwendung eines Personenwagens zum Gebrauche unternommen und
am 6. Januar 1971 etwa um 00.30 Uhr in Basel gemeinsam einen solchen
Wagen zum Gebrauche entwendet und ihn am gleichen Tage in der Gegend
von Dielsdorf/Buchs zurückgelassen zu haben. Den Entwendungsversuch
von Brügg hatte die bernische Kantonspolizei bereits am 5. Januar
entdeckt und am 6. Januar zum Gegenstand einer gegen unbekannte Täter
gerichteten Strafanzeige gemacht. Der Entwendungsversuch von Orpund
wurde der Polizei erst durch die Aussagen Oppligers bekannt. Er ist in
einer an das Untersuchungsrichteramt Nidau gerichteten Strafanzeige vom
11. Januar 1971 festgehalten. Wegen der Entwendung von Basel erstattete
der Geschädigte am 6. Januar 1971 bei der Polizei des Kantons Basel-Stadt
gegen unbekannte Täter Strafanzeige. Sie lautet auf Einbruchsdiebstahl
und Sachbeschädigung und führt als Deliktsgut den Personenwagen im Werte
von etwa Fr. 4000.--, einen braunen Kapuzenmantel im Werte von etwa
Fr. 200.--, ein Polstersitzkissen im Werte von etwa Fr. 10.- und zwei
Stücke Storenstoff im Werte von je etwa Fr. 30.- an.

    Am 9. Februar 1971 wurde Oppliger auf Ersuchen des
Untersuchungsrichters von Nidau in der Erziehungsanstalt Tessenberg unter
anderem auch zu den strafbaren Handlungen einvernommen, die Gegenstand der
Strafanzeige von Basel bilden. Er bestritt, dass er und Scheidegger einen
Mantel, ein Kissen und Storenstoffe gestohlen hätten. Dagegen erklärte er,
im entwendeten Wagen habe sich eine Art Blache befunden, die sie im Walde
in der Gegend von Zürich, ungefähr 1 km vom Orte entfernt, wo sie den
Wagen zurückliessen, abgelegt hätten. Scheidegger konnte am 9. Februar
nicht einvernommen werden, denn er war in der Nacht vom 7./8. Februar
zum zweiten Male aus der Erziehungsanstalt Tessenberg entwichen.

    Am 17. Februar anerkannte der Generalprokurator des Kantons Bern
gegenüber der Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt den bernischen
Gerichtsstand. Er führte unter anderem aus, die Beschuldigten hätten den
Wagen, an dem sie sich in Orpund zu schaffen machten, etwa um 500-600 m
verschoben, ohne jedoch den Motor in Gang setzen zu können. In diesem
Falle dürfte nicht mehr von einem blossen Versuch der Entwendung
zum Gebrauche gesprochen werden. Ein Diebstahl in Basel könne den
Beschuldigten "im heutigen Zeitpunkt" nicht nachgewiesen werden. In den
Kantonen Bern und Basel-Stadt ständen somit gleichartige Verfehlungen
zur Beurteilung. Deshalb und weil die beiden Beschuldigten auf der Flucht
aus einer bernischen Erziehungsanstalt handelten, sei die Gerichtsbarkeit
des Kantons Bern anzuerkennen. Dies jedoch unter dem Vorbehalt, dass sich
im Laufe des weiteren Verfahrens nicht neue, die örtliche Zuständigkeit
beeinflussende Gesichtspunkte ergäben.

    Am 22. März wurde der neuerdings in die Erziehungsanstalt Tessenberg
eingewiesene Scheidegger einvernommen. Er erklärte, in dem in Basel
entwendeten Wagen hätten sich ein weisser Mantel und eine Art Blache
befunden. Er und Oppliger hätten diese Blache im Walde in der Gegend von
Zürich abgelegt; was mit ihr geschehen sei, wisse er nicht. Den weissen
Mantel habe er angezogen; er befinde sich in der Anstalt Tessenberg;
man habe ihm denselben bei seiner Wiederverhaftung abgenommen. Ein Kissen
und Storenstoff habe er nicht gesehen. Er anerkenne, den Mantel gestohlen
zu haben.

    Am 15. April wurde Scheidegger im Auftrage des Untersuchungsrichters
von Nidau in der Anstalt Tessenberg über seine zweite Flucht
einvernommen. Er sagte aus, er und drei weitere mit ihm entwichene Zöglinge
hätten am 8. Februar in Le Landeron einen Personenwagen entwendet und
seien damit nach Marseille gefahren. Dort habe er am Abend des 9. Februar
bei einem Gärtnerhäuschen ein Paar Lederhandschuhe entdeckt und sie an
sich genommen. Am Abend des 10. Februar seien er und seine Begleiter in
der Gegend von Toulon festgenommen worden. In der Folge habe man sie in
die Schweiz zurückgeführt.

    Am 23. April berief sich der Generalprokurator des Kantons
Bern gegenüber der Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt auf das
Geständnis Scheideggers vom 22. März, aus dem in Basel entwendeten Wagen
einen Mantel gestohlen zu haben. Er machte unter Berufung auf einen
Entscheid der Anklagekammer des Bundesgerichtes vom 13. Oktober 1970
i.S. Michel geltend, Begehungsort dieses Diebstahls sei in erster Linie
Basel, wo der Wagen weggenommen wurde. Deshalb dürften nun die Behörden
des Kantons Basel-Stadt zuständig sein, und zwar gemäss Art. 350 Ziff. 1
Abs. 1 StGB, eventuell gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2, wenn die Wegnahme
eines Personenwagens in Le Landeron als Diebstahl gewürdigt werden müsse.

    Am 25. Mai antwortete die Jugendanwaltschaft Basel-Stadt, sie verneine
die Zuständigkeit der Behörden dieses Kantons. Sie machte geltend,
es beständen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschuldigten bei der
Behändigung des Wagens in Basel nicht nur diesen, sondern auch die sich
darin befindenden Gegenstände wegnehmen wollten. Scheidegger habe sich
erst beim Verlassen des Wagens in Dielsdorf entschlossen, sich den Mantel
anzueignen. Deshalb dürften die Behörden des Kantons Zürich zur weiteren
Behandlung dieses Falles zuständig sein.

    B.- Mit Eingabe vom 18./22. Juni 1971 beantragt der Generalprokurator
des Kantons Bern der Anklagekammer des Bundesgerichtes, die Behörden des
Kantons Basel-Stadt, eventuell jene des Kantons Zürich zur Verfolgung
und Beurteilung der den Beschuldigten Oppliger und Scheidegger zur Last
gelegten strafbaren Handlungen zuständig zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Als der Generalprokurator des Kantons Bern am 17. Februar den
Gerichtsstand Bern anerkannte, ging er davon aus, dass die in Orpund
ausgeführte Tat als vollendete Entwendung eines Motorfahrzeuges zum
Gebrauch gewürdigt werden "dürfte", also mit gleich schwerer Strafe bedroht
sei wie die in Basel verübte Entwendung, und dass den Beschuldigten der
in der Basler Strafanzeige erwähnte Diebstahl an einem Mantel usw. im
damaligen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden könne. Diese Überlegungen
hätten, wenn die Anklagekammer damals zum Entscheide angerufen worden wäre,
für die Bestimmung des Gerichtsstandes nicht standgehalten, sondern waren
dem anerkennenswerten Bestreben des Generalprokurators zuzuschreiben,
die aus einer bernischen Erziehungsanstalt entwichenen Beschuldigten im
Kanton Bern beurteilen zu lassen. Einmal war es gewagt, das Hantieren an
einem Personenwagen in Orpund entgegen den Vorwürfen, die Oppliger und
Scheidegger bei der Einvernahme vom 7. Januar und in der Strafanzeige
vom 11. Januar gemacht worden waren, nicht bloss als versuchte, sondern
als vollendete Entwendung zum Gebrauch zu würdigen. Sei dem wie ihm
wolle, war die in Orpund ausgeführte Tat den bernischen Behörden erst am
7. Januar bekannt geworden, während die in Basel begangene Entwendung
eines Personenwagens schon am 6. Januar angezeigt worden war, weshalb
gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB die Gerichtsbarkeit zur Verfolgung
aller Handlungen auch abgesehen vom Vorwurf des Diebstahls den Behörden
des Kantons Basel-Stadt zustand.

    Dazu kommt, dass der Gerichtsstand nicht davon abhängt, was dem
Beschuldigten schliesslich nachgewiesen werden kann. Er richtet sich
nach den strafbaren Handlungen, die durch die Strafverfolgung abgeklärt
werden sollen, d.h. Gegenstand der Untersuchungen bilden, es wäre denn,
dass sich die massgebende Beschuldigung von vornherein als haltlos
erweise (BGE 71 IV 167, 74 IV 125, 87 IV 44, 88 IV 44, 91 IV 55). Der
Diebstahl an einem Mantel, einem Polsterkissen und Storenstoff bildete
Gegenstand der in Basel angehobenen und vom Untersuchungsrichter von Nidau
fortgesetzten Untersuchung, ohne dass am 17. Februar gesagt werden konnte,
die Beschuldigung, gegenüber Oppliger oder Scheidegger oder gegenüber
beiden erhoben, sei von vornherein haltlos. Scheidegger war zu diesem
Vorwurf überhaupt noch nicht einvernommen worden, und Oppliger hatte
am 9. Februar zugegeben, dass sich im Wagen eine Blache befunden habe,
die sie im Kanton Zürich abgelegt hätten. Das wies darauf hin, dass der
Diebstahl am sog. Storenstoff von Oppliger und Scheidegger ausgeführt
worden sein könnte. Ferner ergab sich aus der Strafanzeige vom 6.
Januar, dass die Täter in der Werkstatt des Geschädigten in Basel
einen blauen Reportermantel und zwei Paar Handschuhe zurückgelassen
haben sollen. Das war ein Anzeichen dafür, dass sie sich anderseits
den dem Geschädigten abhanden gekommenen Kapuzenmantel angeeignet
haben könnten. Der Generalprokurator des Kantons Bern hat denn auch am
17. Februar nicht angenommen, der Vorwurf des Diebstahls sei offensichtlich
haltlos, sondern nur, dieses Verbrechen könne den beiden Beschuldigten
"im heutigen Zeitpunkt" nicht nachgewiesen werden.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern hätte daher den Gerichtsstand
dieses Kantons - unter Hinweis auf den Entscheid der Anklagekammer
vom 13. Oktober 1970 i.S. Michel - mit der Begründung ablehnen können,
für die Verfolgung des Diebstahls an den im Wagen befindlichen Sachen
sei Basel zuständig, wo der Wagen weggenommen und schon am 6. Januar
1971 wegen Diebstahls Strafanzeige erstattet worden war. Nachdem er sich
am 17. Februar 1971 mit der Jugendanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt,
wenn auch unter einem Vorbehalt, auf den Gerichtsstand Bern geeinigt hat,
geht die Berufung auf den Entscheid i.S. Michel jedoch fehl, weil nun über
die nachträgliche Änderung eines vorläufig anerkannten Gerichtsstandes
zu entscheiden ist.

Erwägung 2

    2.- Die nachträgliche Änderung eines von der Anklagekammer
festgesetzten oder von den beteiligten Kantonen vereinbarten
Gerichtsstandes ist nur aus triftigen Gründen zu bewilligen (BGE 69 IV
46 Erw. 2, 71 IV 61, 85 IV 210 Erw. 3, 96 IV 93). Die Strafverfolgung
müsste leiden, wenn ein einmal festgelegter Gerichtsstand nachträglich
ohne Notwendigkeit verschoben würde.

    Ob ein triftiger Grund vorliegt, beurteilt sich nach objektiven
Gesichtspunkten, nicht nach den Überlegungen und Vorstellungen der
Behörde, die den Gerichtsstand anerkannte. Auch wenn bei der Anerkennung
ein Vorbehalt gemacht wurde, können diese Überlegungen und Vorstellungen
nicht schlechthin massgebend sein. Das vertrüge sich mit den Bedürfnissen
einer raschen und zweckmässigen Strafverfolgung nicht immer.

    Im vorliegenden Falle lautete der Vorbehalt des Generalprokurators
des Kantons Bern dahin, "dass sich im Laufe des weiteren Verfahrens
nicht neue, die örtliche Zuständigkeit beeinflussende Gesichtspunkte
ergäben". Dieser Vorbehalt schliesst eine blosse "revisio in iure" des
Gerichtsstandsbeschlusses vom 17. Februar aus. Der Umstand, dass der
Generalprokurator damals annahm, der Diebstahl könne den Beschuldigten
"im heutigen Zeitpunkt" nicht nachgewiesen werden, und er diesen Nachweis
nunmehr für möglich hält, ist kein triftiger Grund zur Änderung des
Gerichtsstandes, da dieser schon damals richtigerweise nicht von der
Möglichkeit des Schuldbeweises, sondern von den erhobenen Beschuldigungen
abhing. Nur neue Beschuldigungen, die sich auf erst nach dem 17. Februar
ausgeführte oder den Behörden bekannt gewordene Handlungen stützen,
können allenfalls Anlass zu einer Änderung des Gerichtsstandes geben.

Erwägung 3

    3.- Neu in diesem Sinne ist der Vorwurf, Scheidegger habe am 8. Februar
in Le Landeron einen Personenwagen zum Gebrauch entwendet oder gestohlen.
Diese Tat war den bernischen Behörden am 17. Februar nicht bekannt. Sie
vermag indessen den Gerichtsstand nicht zu verschieben, da sie später zum
Gegenstand einer Untersuchung gemacht wurde als die Entwendung und der
Diebstahl, die in Basel angezeigt worden sind. Übrigens käme wegen der im
Kanton Neuenburg ausgeführten Tat eine Verschiebung des Gerichtsstandes
nach Basel oder Zürich ohnehin nicht in Frage, denn Scheidegger fuhr mit
dem entwendeten Wagen von Le Landeron nach Genf und Marseille, nicht nach
Basel oder Zürich.

    Neu bekannt geworden ist sodann der Diebstahl an einem Paar
Handschuhen, den Scheidegger am 9. Februar in der Gegend von Marseille
verübt haben will. Da Scheidegger Schweizer ist und sich in der
Schweiz befindet, muss er für diese Tat in der Schweiz verfolgt werden
(Art. 6 StGB). Aber auch dieser Umstand bildet keinen triftigen Grund
zur Verschiebung des Gerichtsstandes nach Basel oder Zürich. Im Ausland
verübte strafbare Handlungen sind in der Schweiz am Wohnort des Täters
und subsidiär an dessen Heimatort zu verfolgen (Art. 348 StGB). Unter
dem Wohnort ist nicht der zivilrechtliche Wohnsitz zu verstehen, sondern
der Mittelpunkt des Lebens des Beschuldigten (BGE 76 IV 269). Dieser
Mittelpunkt befand und befindet sich für Scheidegger vorläufig noch in der
Erziehungsanstalt Tessenberg, also im Kanton Bern, eventuell bei seinen
Eltern in Grenchen, Kanton Solothurn. Wäre anzunehmen, Scheidegger habe
keinen Wohnort, so wäre massgebend, dass er im Kanton Bern heimatberechtigt
ist. Der in der Gegend von Marseille verübte Diebstahl müsste somit an
sich im Kanton Bern, eventuell im Kanton Solothurn, keinesfalls aber
in Basel oder Zürich verfolgt werden, wenn nicht Art. 350 Ziff. 1 StGB
zuträfe. Der Generalprokurator des Kantons Bern beruft sich denn auch
nicht auf diese Tat, um sein Gesuch zu begründen.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen, und die Behörden des Kantons Bern werden
zuständig erklärt, Otto Oppliger und Kurt Scheidegger für die ihnen zur
Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.