Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 43



97 II 43

6. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. März 1971 i.S. Felix
gegen Thomann. Regeste

    Grundlagenirrtum.

    1.  Art. 24 Abs. 1 Ziff.4 OR. Geschäftsübernahme mit Aktiven und
Passiven durch Kauf der Aktien; Irrtum des Käufers über die finanzielle
Lage der Gesellschaft (Erw. 2).

    2.  Art. 25 Abs. 1 OR. Dass die Gesellschaft, wie der Verkäufer
behauptet, nach der Übernahme Verluste erlitten hat, hindert den Käufer
nach Treu und Glauben nicht, sich auf Irrtum zu berufen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Novoplast GmbH eröffnete im Jahre 1964 als Nebenbetrieb eine
Werkstatt für Wartung und Instandstellung von Motorfahrzeugen. Am 9. Juli
1964 gründete ihr geschäftsführender Gesellschafter Leo Felix zwecks
Weiterführung dieser Werkstatt die Touring-Sport AG. Ihr Grundkapital
beträgt Fr. 50 000.--, wovon Fr. 20 000.-- einbezahlt wurden. Einziger
Verwaltungsrat dieser Gesellschaft war Felix. Die Arbeit in der Werkstatt
und den Verkauf von Automobilen besorgte René Thomann, der diesem Betrieb
schon im Dienste der Novoplast GmbH vorgestanden hatte.

    Am 30. März 1966 verkaufte Felix dem Thomann "den Aktienmantel der
Touring-Sport AG Stein mit allen Aktiven und Passiven zum Preis von
Fr. 50 000.--".

    Thomann kaufte die Aktien in der.Meinung, die Gesellschaft verfüge über
einen dem Kaufpreis ungefähr entsprechenden Überschuss an Aktiven. Er hatte
Felix zwei bis drei Tage vor dem Abschluss des Vertrages wegen Schulden
der Touring-Sport AG gegenüber der Settelen Autohandels AG von ungefähr
Fr. 31 000.-- für bezogene Autos zur Rede gestellt, weil ihn ein Vertreter
der Autoverkäuferin ungefähr Mitte März gebeten hatte, die Schuldnerin zur
Zahlung zu bewegen. Felix hatte dem Thomann aber unwahrerweise geantwortet,
es sei alles bezahlt, er habe die Bank schon zur Zahlung angewiesen, doch
vergehe eine gewisse Zeit, bis sie den Auftrag ausgeführt habe. In die
Buchhaltung der Touring-Sport AG hatte Thomann keinen Einblick. Sie war
von der Tochter des Felix unsorgfältig und unvollständig geführt worden
und befand sich zur Zeit der Kaufsverhandlungen samt den Belegen bei
Albert Weiss, den Felix im Januar 1966 beauftragt hatte, sie nachzuführen.

    Anfang April 1966 erfuhr Weiss, dass Thomann die Aktien der
Touring-Sport AG gekauft hatte. Er begab sich zum Käufer und bat ihn um
Übergabe weiterer Buchungsunterlagen. In dieser Unterredung äusserte sich
Thomann dahin, es könne in bezug auf die Autos etwas nicht stimmen. Er
fragte Weiss, wie es um die Bilanz der Aktiengesellschaft stehe. Weiss
antwortete, nach seiner groben Schätzung gingen die Aktiven und die
Passiven null zu null auf. Thomann wurde stutzig. Als Weiss ihm einige Tage
später die ganze Buchhaltung zur Verwahrung anvertraute, weil er Ferien
machen wollte, übergab Thomann sie der Treuhand AG Kaderli, damit sie auf
den 31. März 1966 eine Bilanz erstelle. Diese wurde am 22. Februar 1967
errichtet. Sie ergab einschliesslich der Forderung von Fr. 30 000.-- für
ausstehendes Grundkapital Aktiven im Werte vom Fr. 78 256.75 und Passiven
in der Höhe von Fr. 141 518.15. Unter den letzteren waren ausser dem
Grundkapital von Fr. 50 000.-- unter anderem eine Schuld von Fr. 31 161.80
gegenüber der Settelen Autohandels AG für die Lieferung von vier Motorwagen
und eine Kontokorrentschuld von Fr. 27 984.50 gegenüber Felix angeführt.

    Am 1. März 1967 eröffnete Thomann dem Felix, er wolle den Kaufvertrag
vom 31. März 1966 nicht halten.

    B.- Am 15. März 1968 klagte Thomann gegen Felix auf Feststellung der
Unverbindlichkeit des Aktienkaufes und auf Zahlung von Fr. 50 000.--
nebst Zins.

    Das Bezirksgericht Rheinfelden hiess die Klage gut.

    Auf Appellation des Beklagten, der seinen Antrag auf Abweisung
der Klage wiederholte, erkannte das Obergericht des Kantons Aargau am
30. Oktober 1970, der Beklagte werde verpflichtet, dem Kläger Zug um Zug
gegen unbeschwerte Herausgabe der Aktien Fr. 50 000.-- nebst 5% Zins seit
1. März 1967 zu zahlen.

    Das Obergericht führte im wesentlichen aus, die Treuhand AG
Kaderli habe die Bilanz auf Grund der vorhandenen Unterlagen richtig
erstellt. Eine gewisse Unsicherheit hafte ihr an, weil der Beklagte
die Buchführungspflicht der Touring-Sport AG nicht ordnungsgemäss
erfüllt habe. Ernsthaft umstritten sei nur, ob der Kläger die Erlöse von
Fr. 6000.-- und Fr. 7000.-- aus zwei der vier von der Settelen Autohandels
AG gelieferten Wagen der Tochter des Beklagten bzw. dem Beklagten übergeben
habe, wie er behaupte. Es sei eher wahrscheinlich, dass die Behauptungen
des Klägers zuträfen, doch könne die Frage offen bleiben. Selbst wenn man
nämlich die Forderung der Settelen Autohandels AG von Fr. 11 969.-- für
die beiden Wagen nicht berücksichtige und auch die Kontokorrentforderung
des Beklagten von Fr. 27 984.50, die dieser nie besessen haben wolle,
aus der Bilanz entferne, bleibe immer noch ein Schuldenüberschuss von
Fr. 2523.70, wobei das Grundkapital ausser Betracht gelassen sei. In
dem für den Beklagten günstigsten Falle habe demnach der Kläger für den
Kaufpreis von Fr. 50 000.-- eine vollständig vermögenslose Gesellschaft
erworben. Dem Kläger sei zu glauben, dass er in den Beklagten Vertrauen
hatte und dieser ihm zusicherte, er mache ein gutes Geschäft, wenn er die
Aktien der Touring-Sport AG kaufe. Er habe sich geirrt, und sein Irrtum
sei im Sinne des Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR wesentlich. Ob der Kauf auch
wegen absichtlicher Täuschung oder Übervorteilung unverbindlich sei,
brauche nicht geprüft zu werden.

    C.- Der Beklagte hat die Berufung erklärt. Er beantragt, die Klage
abzuweisen.

    Der Kläger beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene
Urteil zu bestätigen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR ist an den Vertrag nicht gebunden,
wer sich bei seinem Abschluss über einen bestimmten Sachverhalt geirrt
hat, der ihm notwendige Grundlage des Vertrages war und bei objektiver
Betrachtung, nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr, sein durfte (BGE
84 II 519 und dort erwähnte Entscheide, ferner BGE 87 II 138 Erw. 3,
91 II 278, 95 II 409, 96 II 104 Erw. c).

    Der Irrtum über die finanzielle Lage der Touring-Sport AG, in dem
der Kläger nach den Feststellungen des Obergerichtes beim Kauf der Aktien
befangen war, ist im Sinne dieser Rechtsprechung wesentlich.

    Gewiss hat das Bundesgericht in BGE 41 II 575 entschieden, beim Ankauf
kursfähiger Wertpapiere an der Börse müsse der Erwerber mit der Möglichkeit
rechnen, dass dem Papier der Wert, der ihm vorher im allgemeinen auf
Grund bekannter Unterlagen beigelegt wurde, in Wirklichkeit aus gewissen
nicht in die Öffentlichkeit gedrungenen Gründen abgehe, weshalb mangels
gegenteiliger Abrede der Käufer das Papier insoweit auf seine eigene Gefahr
erwerbe und seine irrtümliche Vorstellung über einen bestimmten Wert der
Kaufsache keine notwendige Grundlage im Sinne der erwähnten Bestimmung
bilde. Dieser Entscheid betrifft aber nur den Kauf von Wertpapieren an
der Börse. Er hat nicht den Sinn, dass der Irrtum eines Aktienkäufers
über den Wert der Papiere stets unwesentlich sei. Das Bundesgericht hat
ihn denn auch im Falle eines Kaufes von Aktien einer Bank, über deren
Vermögen drei Tage später der Konkurs eröffnet wurde, als wesentlich
erachtet (BGE 43 II 493). Ferner hat es einen Aktienkauf, der dem
Käufer die Verfügung über die Gesellschaft und über die ihr gehörenden
Patente verschaffen sollte, in Anwendung des Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR
als unverbindlich erklärt, weil sich nachträglich herausgestellt hatte,
dass die Patente beschlagnahmt waren (BGE 79 II 160 Erw. 4). Das sind
nur Beispiele. Daher geht der Beklagte fehl, wenn er geltend macht, der
vorliegende Fall lasse sich mit ihnen nicht vergleichen, weshalb es bei
der in BGE 41 II 575 ausgesprochenen Regel bleibe.

    Dieser Entscheid hilft dem Beklagten nicht, weil der Kläger
die Aktien der Touring-Sport AG weder an der Börse gekauft noch unter
Umständen erworben hat, die denen eines Börsenkaufes ähnlich wären. Der
Beklagte bot dem Kläger die Aktien an, um sich der von ihm beherrschten
Gesellschaft und ihres Betriebes zu entschlagen. Er wusste, dass der
Kläger sie erwerben wollte, um die Werkstatt auf gesunder Anfangsgrundlage
auf eigene Rechnung weiterführen zu können. Er sicherte dem Kläger zu,
dieser mache mit dem Kauf ein gutes Geschäft. Zwei bis drei Tage vor
dem Verkauf machte er ihm ferner die unwahre Angabe, die Forderungen
der Settelen Autohandels AG seien getilgt. Diese Unterredung verlief
heftig und laut, weil die Aufforderung des Vertreters der Gläubigerin,
die Schuldnerin solle zahlen, den Kläger stark bewegt hatte. Der Beklagte
wusste also, dass ein bestimmter Sachverhalt, der für die Beurteilung
seines finanziellen Gebarens und der Vermögenslage der Touring-Sport AG
erheblich war, den Kläger sehr interessierte. Das Obergericht stellt denn
auch verbindlich fest, dem Beklagten habe unter den gegebenen Umständen
nicht entgehen können, dass der Kläger den Willen hatte, durch den Kauf
aller Aktien eine Gesellschaft beherrschen zu können, die über einen
dem Kaufpreis ungefähr entsprechenden Aktienüberschuss verfüge. Der
vorgestellte Sachverhalt war für den Kläger eine notwendige Grundlage
des Vertrages. Er durfte diese Bedeutung auch bei objektiver Betrachtung,
unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben haben.

Erwägung 3

    3.- Der Beklagte macht geltend, es widerspreche Treu und Glauben,
sich auf den Irrtum zu berufen.

    Soweit er diese Auffassung damit begründet, der Kläger habe schon
vor der Unterzeichnung des Kaufvertrages gewusst, dass die Aktiven
und die Passiven der Gesellschaft einander ungefähr die Waage hielten,
ist er nicht zu hören. Das Obergericht hat offen gelassen, ob mit den
Aktien die Passiven - mit Ausnahme der auf das Grundkapital einbezahlten
Fr. 20 000.-- - wirklich bis auf einen Rest von rund Fr. 2500.-- hätten
gedeckt werden können. Sei dem wie ihm wolle, stellt es verbindlich fest,
dass der Kläger vor dem Abschluss des Vertrages über die finanziellen
Verhältnisse der Gesellschaft nicht einmal in groben Zügen im Bilde war.

    Ob auch der Beklagte, wie er weiter geltend macht, die finanzielle
Lage der Touring-Sport AG nicht richtig überblicken konnte, ist
unerheblich. Art. 25 Abs. 1 OR verbietet dem Irrenden nicht, sich aufeinen
vom Vertragsgegner nicht verschuldeten Irrtum zu berufen. Übrigens steht
fest, dass der Beklagte dem Kläger über die Tilgung der Forderungen der
Settelen Autohandels AG unwahre Angaben gemacht, zum mindesten insoweit
also den Irrtum des Klägers schuldhaft gefördert hat.

    Treu und Glauben schliessen die Berufung auf den Irrtum auch nicht
deshalb aus, weil nach den Behauptungen des Beklagten der Kläger vom
1. April 1966 bis 31. Dezember 1967 gewisse Aktiven der Gesellschaft
(Maschinen, Werkzeuge, Öl, Bestandteile) veräussert und den Betrieb nicht
sorgfältig genug geführt haben soll, so dass der Verlust der Touring-Sport
AG im Jahre 1967 rund Fr. 22 000.-- betragen habe. Der Beklagte behauptet
nicht, der Kläger habe sich Aktiven der Gesellschaft angeeignet. Wenn dem
so wäre, könnte er nach dem Rückempfang der Aktien als neuer Verwalter
der Gesellschaft in deren Namen auf Rückerstattung oder Schadenersatz
klagen. Auch für andere Verletzungen der Sorgfaltspflichten eines
Geschäftsführers könnte er den Kläger im Namen der Gesellschaft allenfalls
verantwortlich machen. Schäden, die der Kläger nicht verschuldet hat,
muss dagegen die Gesellschaft und unmittelbar der Beklagte als neuer
Aktionär selber tragen. Die Berufung auf einen wesentlichen Irrtum
setzt nicht voraus, dass die Leistung, die der Irrende erhalten hat,
im Zeitpunkt der Rückgabe mindestens gleichviel wert sei wie zur Zeit
des Empfanges. Das ergibt sich daraus, dass die gegenseitigen Leistungen
der Parteien beim Hinfall eines Vertrages wegen Irrtums nicht unversehrt,
sondern nur nach den Grundsätzen über die ungerechtfertigte Bereicherung
zurückzuerstatten sind (BGE 82 II 428, 87 II 139 Erw. 7).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts (1.
Zivilabteilung) des Kantons Aargau vom 30. Oktober 1970 bestätigt.