Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 390



97 II 390

54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Dezember 1971
i.S. Neumühle AG gegen Stadtgemeinde Chur. Regeste

    Auflösung eines unter der Herrschaft des alten kantonalen Rechts
begründeten Dauerschuldverhältnisses. Abgeurteilte Sache.

    Zusammengesetzter Vertrag. Analoge Anwendung der für gegenseitige
Verträge geltenden Grundsätze.

    Art. 2 SchlT/ZGB. Um der Sittlichkeit willen aufgestellte Vorschriften
sind auch auf Verträge anwendbar, welche unter der Herrschaft des alten
kantonalen Rechts abgeschlossen worden sind (Erw. 3).

    Abgeurteilte Sache. Identität gleichlautender individualisierter
Rechtsbegehren? Frage offen gelassen. Keine res iudicata liegt vor,
wenn die zu vergleichenden Rechtsbegehren inhaltlich verschieden oder
seit dem Vorprozess neue erhebliche Tatsachen eingetreten sind (Erw. 4).

    Art. 19 und 20 OR. Ein Energielieferungsvertrag, kraft welchem
das Gemeinwesen einem Grossabnehmer Strom zu Vorzugspreisen überlässt,
verstösst nicht gegen die öffentliche Ordnung (Erw. 5).

    Art. 2 Abs. 2 ZGB. Clausula rebus sic stantibus.  Voraussetzungen und
Rechtsfolgen des richterlichen Eingriffes (Erw. 6).

    Art. 2 und 27 ZGB. Das Gemeinwesen kann einen auf unbestimmte Dauer
abgeschlossenen Energielieferungsvertrag nicht nach Art. 27 ZGB, sondern
nach Art. 2 ZGB durch Kündigung vorzeitig auflösen (Erw. 7).

    Kündbarkeit der Stromlieferungspflicht auf den Zeitpunkt, da die als
Gegenleistung abgetretene Wasserrechtsverleihung abläuft (Erw. 9).

    Art. 74 Abs. 2 der Übergangsbestimmungen zum WRG. Die Dauer einer vor
dem 25. Oktober 1908 erteilten Wasserrechtskonzession bestimmt sich nach
dem damals massgebenden kantonalen Recht (Erw. 10).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1889 hatte die Firma Lendi & Parli in Chur von einem
Julius Martin die Liegenschaft Meiersboden erworben. Dazu besass sie auch
die von der Gemeinde Churwalden erteilte Konzession der Wasserrechte an
der Rabiusa. Da die Stadt Chur als Inhaberin der Gebietshoheit auf der
linken Seite der Rabiusa das Wasser dieses Baches zur Hälfte beanspruchte,
kam es zum Prozess, der am 22. Juni 1891 durch einen Vergleich erledigt
wurde. Der Vergleich lautet u.a.:

    "Art. 1: Die Handelsfirma Lendi & Parli verkauft und überlässt der
Stadt Chur Alles und Jedes, was sie mittelst Kaufbrief vom 28. Januar 1889
von Herrn Jul. Martin erworben hat, und die von der Gemeinde Churwalden
erworbenen Conzessionsrechte und Alles, was sie seither erworben oder
neu erstellt hat;..."

    Der Kaufpreis wurde in Art. 2 festgesetzt auf Fr. 70'000.--. Ausserdem
hatte die Käuferin alle Kosten für Ausbesserungen und andere Arbeiten,
welche die Verkäuferin vorgenommen hatte, zu erstatten. Weiter heisst es
dann in Art. 3 des Vergleichs:

    "Ausserdem überlässt die Stadt Chur der Handelsfirma Lendi & Parli
für zu erstellende Etablissemente mit elektrischer Kraft betrieben in
der Stadt Chur oder deren nächster Umgebung, immerhin auf Territorium
der Stadt Chur, folgende elektr. Kräfte:"

    (es folgen die Bezeichnung dieser Kräfte in PS und die genaue
Umschreibung, zu welchen Zeiten der Strom geliefert wird, ferner
Bestimmungen über die Zuleitung, die Folgen von Betriebsstörungen und
dergleichen). Im zweitletzten Absatz des Art. 3 heisst es u.a.:

    "Für diese Benützung der erwähnten elektr. Kräfte oder Teile derselben
zahlt die Firma Lendi & Parli der Stadt Chur jährlich die Summe von Fr.
1000.-- (tausend Franken)."

    B.- Im Jahre 1901 berief sich die Stadt Chur auf Irrtum und reichte
gegen die Firma Lendi & Parli Klage ein mit dem Hauptbegehren, "der
Vergleich sei für die Stadt Chur unverbindlich, hauptsächlich soweit es
sich um Überlassung von elektrischer Kraft (Wasserkraft) als Gegenleistung
handelt". Das Bezirksgericht Unterlandquart und - auf Appellation der
Klägerin hin - das Kantonsgericht von Graubünden wiesen die Klage am 29.
April 1903 und 4. Mai 1904 ab. Das Bundesgericht trat am 16. September 1904
auf die Berufung der Klägerin mit dem etwas abgeänderten Rechtsbegehren,
der Vergleich sei unverbindlich, soweit es sich um Überlassung von
elektrischer Kraft als Gegenleistung handle, nicht ein, weil es sich bei
der Verpflichtung der Stadt Chur zur Abgabe elektrischer Kraft lediglich um
eine von mehreren "Ergänzungen des Fr. 70'000.-- betragenden Kaufpreises"
zu handeln scheine. Die Klägerin fechte somit die Gültigkeit eines
Liegenschaftenkaufs an, der jedoch dem kantonalen Recht gemäss Art. 231
(alt) OR unterstehe.

    C.- Am 20. September 1967 reichte die Stadtgemeinde Chur gegen
die Rechtsnachfolgerin der Firma Lendi & Parli, die Neumühle AG, beim
Bezirksgericht Plessur eine Klage mit folgenden Rechtsbegehren ein:

    "1) Es sei gerichtlich festzustellen, dass Art. 3 des
Vergleichs zwischen der Stadt Chur und der Handelsfirma Lendi & Parli
(Rechtsvorgängerin der heutigen Beklagten) vom 22. Juni 1891 mindestens
seit dem 1. Dezember 1963 ungültig ist.

    2) Die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin Fr. 22'125.30 nebst
5 % Zins seit 25. Mai 1967 zu bezahlen."

    Die Klägerin führte zur Begründung aus, ihre Stromlieferungspflicht
sei mit der geltenden Rechtsordnung nicht mehr vereinbar; sie verstosse
gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten. Ausserdem bestehe ein
unerträgliches Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, da dem
Kaufpreis von Fr. 70'000.-- eine Energielieferung im Werte von Fr. 1,4
Millionen gegenüberstehe. Eine Wasserrechtskonzession könne übrigens
nach dem eidgenössischen Wasserrechtsgesetz (WRG) nur 80 Jahre dauern,
so dass das Wassernutzungsrecht der Beklagten spätestens im Jahre 1971
erloschen wäre. Die Stromlieferungspflicht könne daher nicht über diesen
Zeitpunkt hinaus bestehen. Die Beklagte beantragte, auf die Klage nicht
einzutreten, da über die gleiche Streitsache schon ein rechtskräftiges
Urteil vorliege. Eventuell verlangte sie, die Klage abzuweisen.

    D.- Das Bezirksgericht Plessur hiess die Klage am 5.  Mai/13. Oktober
1970 gut und stellte fest, dass Art. 3 des Vergleichs zwischen der Stadt
Chur und der Firma Lendi & Parli vom 22. Juni 1891 durch Kündigung auf
den 31. Dezember 1966 hinfällig geworden sei. Ferner verpflichtete es
die Beklagte, der Klägerin den für die Jahre 1964 bis 1966 ausstehenden
Pauschalbetrag von insgesamt Fr. 3000.-- und für die Zeit vom 1. Januar
bis 31. Mai 1967 für gelieferten Strom zu Tarifpreisen Fr. 4642.05,
zusammen Fr. 7642.05 nebst Zins zu 5% seit 25. Mai 1967 zu bezahlen.

    Das Kantonsgericht von Graubünden wies die Berufung der Beklagten gegen
dieses Urteil am 19. März/27. April 1971 ab. Die Einrede der abgeurteilten
Sache, an der die Beklagte festhielt, verwarf es mit dem Bezirksgericht. In
der Sache selber liess es sich im wesentlichen von der Erwägung leiten,
die Energielieferungspflicht der Klägerin sei obligatorischer Natur und
habe nach einhelliger Lehre und Rechtsprechung nicht auf ewige Zeiten
begründet werden können. Der Klägerin, die ihre Pflicht während 75 Jahren
erfüllt habe, müsse deshalb das Recht zugestanden werden, den Vertrag
zu kündigen. Da nicht angenommen werden könnte, die Firma Lendi & Parli
hätte den Vergleich vom 22. Juni 1891 nicht unterzeichnet, wenn sie
damit hätte rechnen müssen, dass die Stromlieferung zu den vereinbarten
Bedingungen nicht ewig, sondern nur bis Ende 1966 dauern werde, bleibe im
übrigen der genannte Vergleich bestehen. Das Urteil der ersten Instanz sei
auch hinsichtlich der Zahlungspflicht der Beklagten für die ausstehenden
Pauschalbeträge und den zum üblichen Tarif gelieferten Strom zu bestätigen.

    E.- Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die Berufung an das
Bundesgericht eingereicht mit den Anträgen, es aufzuheben und auf die
Klage nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen.

    Die Klägerin beantragt die Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Soweit der Vergleich vom Jahre 1891 den Kauf der Liegenschaft
Meiersboden betrifft, wäre er an sich nach altem Bündner Recht
auszulegen, da Grundstückkäufe nach Art. 231 des OR von 1881 dem
kantonalen Recht unterstanden. Anders verhält es sich mit Art. 3 des
Vergleichs. Obwohl die darin umschriebenen Vorteile für die Firma
Lendi & Parli - wirtschaftlich gesehen - ein weiteres Entgelt für die
verkaufte Liegenschaft und die abgetretene Wasserrechts-Verleihung
bildeten, ist diese Bestimmung nicht als Klausel des Kaufvertrags,
sondern als selbständiger Energielieferungsvertrag zu verstehen. Die
gesamte, im Vergleich getroffene Vereinbarung stellt deshalb einen
zusammengesetzten Vertrag dar, bestehend im wesentlichen aus einem Kauf-
und einem Energielieferungsvertrag, die voneinander abhangen. Die für
gegenseitige Verträge aufgestellten Grundsätze sind daher analog anwendbar
(BGE 38 II 554, 43 II 345; MEIER-HAYOZ, SJK Nr. 1135 N. 3). Es wäre somit
in den Jahren 1901 bis 1904 zum vornherein nicht zulässig gewesen, den
Energielieferungsvertrag wegen Irrtums unverbindlich zu erklären und den
Grundstückkaufvertrag bestehen zu lassen (vgl. BGE 44 II 345).

    Die Klägerin anerkennt im neuen Prozess die Gültigkeit des
Energielieferungsvertrages gemäss Art. 3 des Vergleichs bis 1. Dezember
1963. Streitig ist daher nur, ob der Vertrag wegen Zeitablaufes
aufgehoben werden konnte. Diese Frage ist, da der Vertrag im Jahre 1891
also unter der Herrschaft des OR abgeschlossen wurde, nach Bundesrecht
zu beurteilen. Dem steht die Verkoppelung mit dem Kaufvertrag nicht
entgegen. Art. 1 der Schluss- und Übergangsbestimmungen des OR bestimmt,
dass die Vorschriften des Schlusstitels des ZGB auch auf das OR anzuwenden
sind. Gemäss Art. 2 SchlT zum ZGB finden die Bestimmungen des Gesetzes, die
um der öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit willen aufgestellt sind, auf
alle Tatsachen Anwendung, soweit das Gesetz nicht Ausnahmen vorsieht. Die
Klägerin beruft sich zur Begründung ihres Anspruchs auf die öffentliche
Ordnung, die guten Sitten und den Grundsatz von Treu und Glauben. Lehre
und Rechtsprechung haben den aus Art. 2 und 27 ZGB abgeleiteten Grundsatz
aufgestellt, dass in der Regel zeitlich unbefristete und unkündbare
obligatorische Verpflichtungen durch Kündigung aufgelöst werden können
(vgl. BGE 93 II 300/301 E. 7 und 8 mit Hinweisen). Da die erwähnten
Bestimmungen um der Sittlichkeit willen ins Gesetz aufgenommen wurden,
sind sie auch auf Verträge anwendbar, die unter der Herrschaft des alten
kantonalen Rechts abgeschlossen worden sind.

Erwägung 4

    4.- Die Beklagte hält an der Einrede der abgeurteilten Sache fest. Sie
beruft sich auf KUMMER (Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft nach
schweizerischem Recht, Bern 1954, S. 66 ff.) und GULDENER (Schweizerisches
Zivilprozessrecht, S. 167 f.). Nach der neuesten Rechtsprechung des
Bundesgerichts (BGE 95 II 639 ff.) kann mit der Berufung geltend
gemacht werden, der kantonale Richter habe in einer Streitsache, die nach
Bundesrecht zu beurteilen ist, die Einrede der abgeurteilten Sache zu
Unrecht verworfen. Auf die Berufung ist somit in diesem Punkte einzutreten.

    Die erwähnten Autoren unterscheiden zwischen individualisierten
und nicht individualisierten Rechtsbegehren und sind der Ansicht,
gleichlautende individualisierte Rechtsbegehren (z.B. Feststellungsklagen)
seien identisch (GULDENER, aaO S. 167; KUMMER, aaO S. 71). Das
Bundesgericht hat sich mit dieser Auffassung, die nicht unbestritten
geblieben ist (vgl. z.B. THORENS, L'objet du litige dans le procès civil,
Mémoires publiés par la faculté de droit de Genève, Nr. 24, S. 33 ff.),
bis jetzt nicht auseinandergesetzt. Nach seiner Rechtsprechung ist
der eingeklagte Anspruch mit einem früher beurteilten dann identisch,
wenn die Parteien des Vorprozesses dem Richter den gleichen Anspruch
aus gleichem Entstehungsgrund erneut zur Beurteilung unterbreiten. Der
blosse Wortlaut der Rechtsbegehren ist nicht entscheidend. Massgebend ist
vielmehr, ob auch dieselben Tatsachen und rechtlich erheblichen Umstände,
mit denen der Kläger den Anspruch begründet, schon im Vorprozess zum
Klagegrund gehörten (vgl. BGE 71 II 284). Dieser Ansicht ist auch
LEUCH (Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl., N. 11
lit. d zu Art. 192, S. 213/14), auf den sich die Beklagte zu Unrecht
für ihre These beruft. LEUCH erwähnt an der angeführten Stelle auch die
Patentnichtigkeitsklagen, deren Identität oder Nichtidentität nach den
gleichen Grundsätzen zu beurteilen sei, während KUMMER (aaO S. 85) eine
Wiederholung solcher Klagen mit einem andern als dem früher angerufenen
Nichtigkeitsgrund für unzulässig hält.

    Zu dieser Streitfrage braucht nicht abschliessend Stellung genommen zu
werden. Die zu vergleichenden Rechtsbegehren stimmen nämlich inhaltlich
nicht überein. Während die Klägerin im Vorprozess auf Feststellung
der einseitigen Unverbindlichkeit (wegen Willensmängel) von Art. 3 des
Vergleichs vom 22. Juni 1891 geklagt hat, will sie im neuen Prozess
die Ungültigkeit jener Bestimmung feststellen lassen. Die Ungültigkeit
umfasst als Oberbegriff die unvollendeten, nichtigen und anfechtbaren
Rechtsgeschäfte (VON TUHR/SIEGWART, OR I S. 13 f.). Aber in diesem
juristisch-technischen Sinne ist das neue Rechtsbegehren der Klägerin
nicht zu verstehen. Der Antrag, Art. 3 des Vergleichs sei "mindestens
seit dem 1. Dezember 1963 ungültig" zu erklären, schliesst eine Klage
auf Feststellung der Nichtigkeit oder einseitiger Unverbindlichkeit des
Energielieferungsvertrages aus; denn die Nichtigkeit oder Unverbindlichkeit
wirkt ex tunc, d.h. seit Vertragsschluss. Die Klägerin hat somit durch
ein neues Rechtsbegehren die Identität der Klage verändert, nicht bloss,
wie die Beklagte behauptet, das Klagebegehren des Vorprozesses durch eine
"Zeitangabe" beschränkt.

    Die Identität einer Klage ist auch dann ausgeschlossen, wenn seit dem
Vorprozess neue erhebliche Tatsachen eingetreten sind (vgl. BGE 95 II 640,
85 II 59, 78 II 403, 71 II 285).

    Nach Auffassung der Beklagten hat sich der Sachverhalt
seit dem Vorprozess nicht wesentlich verändert, weil einzig der
Zeitablauf hinzugekommen sei. Wohl trifft zu, dass die Parteien
den Energielieferungsvertrag zeitlich nicht befristet haben. Ob
die Lieferpflicht der Klägerin auf unbegrenzte Dauer begründet oder
nach einem gewissen Zeitablauf aufgehoben werden konnte, ist eine im
Berufungsverfahren zu überprüfende Rechtsfrage. Die Klägerin hat sich
in diesem Zusammenhang namentlich auf die lange Dauer der Lieferungen
und auf das Missverhältnis zwischen den Leistungen der Beklagten und dem
Gesamtwert dieser Lieferungen, also auf Tatsachen berufen, die nach dem
Vorprozess eingetreten sind.

    Fehlt es somit an der Identität der Rechtsbegehren und der Klagegründe,
so hat die Vorinstanz die Einrede der abgeurteilten Sache zu Recht
verworfen.

Erwägung 5

    5.- Die Vorinstanz hat sich mit der Behauptung der Klägerin, der
Energielieferungsvertrag verstosse gegen die öffentliche Ordnung, nicht
auseinandergesetzt. Die Klägerin hat nicht dargetan, welche Normen des
öffentlichen oder privaten Rechts der Vertrag verletze. Es ist denn
auch in der Tat nicht erfindlich, wie ein Energielieferungsvertrag
die öffentliche Ordnung, welche die Art. 19 und 20 OR im Auge haben,
missachten könnte. Das ist jedenfalls nicht dadurch möglich, dass das
Gemeinwesen einem Grossabnehmer elektrischer Energie Vergünstigungen
gewährt, die im Zusammenhang mit einem Kaufvertrag und der Abtretung
einer Wasserrechtskonzession ausbedungen worden sind. Art. 7 des
Reglements über die Abgabe von elektrischem Strom an die Abonnenten,
erlassen am 26. November 1920 vom Grossen Stadtrat von Chur, auf das
sich die Klägerin beruft, stand dem nicht entgegen und gehört übrigens
nicht zu den Vorschriften der öffentlichen Ordnung, die die erwähnten
Bestimmungen betreffen.

Erwägung 6

    6.- Die Klägerin verlangt die Aufhebung des Energielieferungsvertrages
auch unter Berufung auf die clausula rebus sic stantibus. Nach Art. 2
Abs. 2 ZGB hat der Richter einen Vertrag dann zu ändern oder aufzuheben,
wenn durch nachträgliche, nicht voraussehbare Umstände ein derart
offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung eingetreten
ist, dass das Beharren einer Partei auf ihrem Anspruch als missbräuchlich
erscheint (vgl. BGE 93 II 189 mit Hinweisen; VON TUHR/SIEGWART, OR II
S. 614; VON BÜREN, OR S. 118, 404/05).

    a) Im vorliegenden Fall ist das Missverhältnis nicht auf veränderte
Umstände zurückzuführen. Es bestand schon von Anfang an und zwar in
grösserem Masse als heute. Die Beklagte (oder ihre Rechtsvorgängerin)
hatte nach dem Vergleich Anspruch auf die Lieferung von 250'000 kWh im
Jahr und musste dafür jährlich Fr. 1000.-- bezahlen. Das Werk Rabiusa
(Sand) erzeugte in den Jahren 1891 bis 1900 nur 325'000 kWh Energie im
Jahr, so dass also damals rund 77% dieser Produktion der Firma Lendi &
Parli zu liefern waren. In der Folge verbesserte sich dieses ungünstige
Verhältnis. Von 1901 bis 1917 erzeugte das Werk Rabiusa 975'000 kWh und
von 1918 bis 1945 2'225,000 kWh im Jahr. Die Elektrizitätsproduktion im
Werk Rabiusa stieg in den Jahren 1948 bis 1968 auf rund 4 bis 5 Millionen
kWh an. Die gesamte Erzeugung an elektrischer Energie der Industriellen
Betriebe der Stadt Chur betrug in dieser Zeit zwischen rund 64 und rund
87 Millionen kWh. Die Strompreise sanken seit 1891 ständig. Während
sie 1892-1920 durchschnittlich 14,6 Rappen je kWh betrugen (im Jahre
1895 sogar 25 Rappen), machten sie 1921-1963 durchschnittlich 4,9 Rappen
aus. Entsprechend verbesserte sich auch das Verhältnis zwischen dem Wert
der Stromlieferungen und der dafür entrichteten pauschalen Entschädigung.

    b) Aus dem "Abschied" des Stadtrates von Chur an die Einwohnergemeinde
vom 20. Juni 1891 ergibt sich übrigens, dass sich Volk und Behörden des
Missverhältnisses zwischen den beiden Leistungen bewusst waren, heisst
es doch dort: "Die Herren Lendi & Parli erhalten durch diesen (Vergleich)
freilich ansehnliche elektrische Kraft zu einem verhältnismässig billigen
jährlichen Betrag, allein bestimmend müssen für uns die bedeutenden
Vorteile sein, welche der Stadt ... erwachsen ..." Diese Vorteile wurden
den Stimmbürgern im gleichen Dokument auseinandergesetzt: Erwerb der
Liegenschaft Meiersboden mit den Rabiusa-Wasserkräften um den gleichen
Preis, den die Firma Lendi & Parli bezahlt hatte; Verfügung über alle
Wasserkräfte im Gebiet der Plessur und der Rabiusa; rasche Verwirklichung
der elektrischen Beleuchtung; günstige Zeiten für die Stromlieferung an
die Firma Lendi & Parli; Niederlassung dieser Firma in Chur statt in der
Gemeinde Churwalden usw. Ist somit das Missverhältnis nicht auf veränderte
Umstände zurückzuführen, so ist die auf Art. 2 Abs. 2 ZGB beruhende
clausula rebus sic stantibus schon aus diesem Grunde nicht verletzt.

Erwägung 7

    7.- Der in Art. 3 des Vergleiches abgeschlossene
Energielieferungsvertrag ist ein Dauerschuldverhältnis. Nach Lehre
und Rechtsprechung können obligatorische Verträge nicht auf "ewige"
Zeiten vereinbart werden; sie sind kündbar (BGE 93 II 300 Erw. 7 mit
Hinweisen). Ob man freilich die Kündbarkeit des Vertrags wie im erwähnten
Urteil des Bundesgerichts i.S. Gemeindeverband Wasserversorgung Saurenhorn
gegen Aeberhard damit begründen kann, die gegenteilige Annahme führe zu
einer mit Art. 27 ZGB unvereinbaren Beschränkung der persönlichen Freiheit,
mag hier fraglich erscheinen, da die Klägerin eine Gemeinde ist, die
durch die Energielieferungspflicht in ihren finanziellen Interessen nicht
ernstlich beeinträchtigt wird. Man wird deshalb auch kaum sagen können,
sie werde durch einen unkündbaren Energielieferungsvertrag im Gebrauche
ihrer Freiheit in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden
Grade beschränkt. Beim Gemeindeverband Wasserversorgung Saurenhorn
lagen die Verhältnisse anders: Es bestand eine wirtschaftliche Notlage,
weil die Einnahmen aus den seinerzeitigen Wasserverkäufen längstens für
den laufenden Unterhalt der Anlagen verbraucht worden waren und weil
sich die Wasserkäufer weigerten, an die grossen Kosten des Unterhalts,
der Erneuerung und der Erschliessung neuer Wasservorkommen beizutragen,
obwohl der Wasserverbrauch im Vergleich zu früher viel grösser geworden
war. Solche Umstände bestehen hier nicht. Die Leistungen der Klägerin,
die in einem ausgesprochenen Missverhältnis zu den Gegenleistungen der
Beklagten stehen, bilden in ihrer Betriebsrechnung einen untergeordneten
Posten und verhindern nicht, dass ihr Elektrizitätswerk Jahr für Jahr
ganz erhebliche Überschüsse erzielt. LIVER hat bei der Besprechung
von BGE 93 II 290 f. (ZBJV 1969 S. 9 ff.) darauf hingewiesen, dass
Art. 27 ZGB in solchen Fällen eine unzulängliche Grundlage bilde und
dass besser auf den allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben des
Art. 2 ZGB zurückzugreifen sei. Dem ist beizupflichten. Das bedingt,
dass man auf den Zweck abstellt, den die Parteien seinerzeit mit dem
Abschluss des Stromlieferungsvertrages verfolgt haben. Die Vorinstanz
hat zwar darüber keine Feststellungen getroffen, doch ergeben sie sich
aus der Lage, in der sich die Parteien im Jahr 1891 befanden sowie
aus dem Text des damals abgeschlossenen Vergleichs und des erwähnten
"Abschieds" des Stadtrates von Chur vom 20. Juni 1891. Die Firma Lendi &
Parli hatte von der Gemeinde Churwalden die Wasserrechte an der Rabiusa
erworben, soweit sie dieser Gemeinde zustanden. Infolge des Verkaufs der
Liegenschaft Meiersboden musste sie auf ihre Absicht, dort eine Mühle zu
errichten und sie mit einem Wasserkraftwerk zu betreiben, verzichten. Als
Entschädigung für die abgetretene Wasserrechtskonzession vereinbarten
die Parteien neben dem Kaufpreis für die Liegenschaft Meiersboden und
der Erstattung aller Aufwendungen die Lieferung von Strom zu einem
Vorzugspreis durch die Stadt Chur. Es darf deshalb nach dem Grundsatz
von Treu und Glauben angenommen werden, dass die Parteien stillschweigend
davon ausgingen, die Stromlieferungen seien für die Dauer der Konzession
vereinbart. Diese Annahme rechtfertigt sich umsomehr, als das Gesetz
sogar dingliche Nutzungsrechte zeitlich begrenzt, obwohl sonst dingliche
Beschränkungen des Eigentums auf unbegrenzte Zeit bestehen können. So
endigt z.B. die Nutzniessung juristischer Personen gemäss Art. 749 Abs. 2
ZGB spätestens nach 100 Jahren, kann das Baurecht gemäss Art. 7791 ZGB
höchstens auf hundert Jahre und das Wohnrecht nur auf Lebenszeit des
Berechtigten begründet werden (Art. 776 Abs. 2 ZGB). Auch Grundlasten
können nach dreissigjährigem Bestand gemäss Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB
abgelöst werden.

Erwägung 8

    8.- Die Beklagte räumt zwar ein, dass die Stromlieferungspflicht der
Klägerin nicht Gegenstand einer Grundlast im Sinne der Art. 782 ff. ZGB
sei. Sie macht aber geltend, die Parteien hätten obligatorisch genau das
vereinbart, was Art. 788 Abs. 3 ZGB vorsieht, nämlich die Verkoppelung
eines Wassernutzungsrechts mit einer Stromlieferungspflicht, die inhaltlich
einer Dienstbarkeit und einer Grundlast entsprächen. Art. 788 Abs. 3
ZGB, der in solchen Fällen die Ablösung der Grundlast ausschliesse,
müsse daher analog angewendet werden.

    Dem kann nicht beigepflichtet werden. Freilich können
Rechtsverhältnisse mit dienstbarkeits- und grundlastrechtlichem Inhalt
auch obligatorisch vereinbart werden; und es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass dann auf sie Bestimmungen des Gesetzes über Dienstbarkeiten
und Grundlasten wenigstens analog angewendet werden. Das ist jedoch hier
hinsichtlich des Art. 788 Abs. 3 ZGB zum vornherein nicht möglich. Im
Entscheid 93 II 76 ff. Erw. 3 hat das Bundesgericht erklärt, dass
eine Grundlast nur dann im Sinne des Art. 788 Abs. 3 ZGB mit einer
unablösbaren Grunddienstbarkeit verbunden sei, wenn beide das gleiche
Grundstück belasten. Wenn die Pflicht zur Stromlieferung ihrem Inhalt nach
überhaupt als grundlastähnlich gelten könnte, so fehlte es an einer damit
verbundenen grunddienstbarkeitsähnlichen Verpflichtung der Klägerin; denn
das ihr gemäss Konzession zustehende Wasserrecht stellt keine Belastung
dar. Wollte man demzufolge auf dem Weg der Analogie vorgehen, so müsste
man zum Schluss kommen, dass die Stromlieferungspflicht der Klägerin
gemäss Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB schon nach dreissigjährigem Bestand
hätte abgelöst werden können.

Erwägung 9

    9.- Der nach Erwägung 7 hievor bestehenden Möglichkeit,
den Stromlieferungsvertrag nach Ablauf einer angemessenen
Zeitspanne durch Kündigung zu beenden, steht nicht entgegen,
dass der Energielieferungsvertrag seinerzeit mit einem Kaufvertrag
gekoppelt wurde. Nach der eigenen Darstellung der Beklagten bildete
die Stromlieferungspflicht ein Äquivalent für die Abtretung der
Wasserrechtsverleihung. Daher darf zwanglos angenommen werden, die Klägerin
sei berechtigt, den Energielieferungsvertrag auf den Zeitpunkt zu künden,
an welchem die Konzession abläuft.

Erwägung 10

    10.- Fraglich mag sein, wann die Konzession abläuft oder abgelaufen
ist. Darüber finden sich weder Feststellungen im angefochtenen Urteil
noch Anhaltspunkte in den Akten. Die Beklagte beruft sich hilfsweise auf
Art. 58 Abs. 1 WRG, wonach die Verleihung 80 Jahre von der Eröffnung des
Betriebs an dauert. Zwar können nach Abs. 2 dieser Bestimmung Gemeinwesen
die Erneuerung der Konzession verlangen. Eine Übertragung auf Private ist
dagegen nicht möglich. Die Frist von 80 Jahren soll nach der Beklagten
mit dem Jahre 1903 beginnen, weil damals die Gemeinde Churwalden der
Klägerin die Konzession gegen eine einmalige Zahlung von Fr. 22'500.--
erteilt habe. Letztere Behauptung findet weder im angefochtenen Urteil noch
in den Akten eine Stütze. Sie steht zudem im Widerspruch zur Darstellung
der Beklagten, ihre Rechtsvorgängerin habe die Konzession schon im Jahre
1891 besessen und damals der Klägerin abgetreten. Wie es sich damit
verhält, kann dahingestellt bleiben. Die Beklagte übersieht - und das ist
entscheidend -, dass gemäss Art. 74 Abs. 2 der Übergangsbestimmungen des
WRG Art. 58 dieses Gesetzes für Wasserrechte, die vor dem 25. Oktober
1908 (Tag der Volksabstimmung über Art. 24 bis BV) begründet worden
waren, nicht gilt. Die Dauer der von der Gemeinde Churwalden erteilten
Konzession ist deshalb nach dem Recht des Kantons Graubünden, das zu
dieser Zeit galt, zu bemessen. Das Bundesgericht kann dieses Recht
gemäss Art. 65 OG selber anwenden oder die Sache an die Vorinstanz
zurückweisen. Nach Art. 10 des Bündner Gesetzes betreffend die Benutzung
der öffentlichen Gewässer des Kantons Graubünden zur Errichtung von
Wasserwerken vom 18. März 1906 (abgedruckt bei GEISER/ABBÜHL/BÜHLMANN,
Einführung und Kommentar zum Bundesgesetz über die Nutzbarmachung der
Wasserkräfte, 1921, S. 399 ff.) durfte eine Konzession auf höchstens
60 Jahre erteilt werden. Ausnahmsweise konnte der Kleine Rat längere
Konzessionen bewilligen, wenn bei einer kürzern Dauer die Unternehmung
nicht zustande kam. Übergangsbestimmungen, die schon bestehende, auf eine
längere Dauer als 60 Jahre erteilte Konzessionen vorbehielten, finden sich
in diesem Gesetz nicht, vielleicht weil die Gemeinden vor Inkrafttreten
des Gesetzes Konzessionen im allgemeinen auf die Dauer von ca. 60 Jahren
erteilt haben (O. WIELAND, Die Wasserrechtsverleihung im Kanton Graubünden,
Diss. Zürich 1941, S. 124). Da der Kanton Graubünden erstmals auf diesem
Gebiet legiferierte (WIELAND, aaO S. 18 ff.), musste er auch nicht
frühere Erlasse förmlich aufheben. Es kann deshalb angenommen werden,
die Höchstdauer von 60 Jahren seit Erteilung der Konzession (WIELAND,
aaO S. 125) habe auch für schon bestehende Wasserrechtsverleihungen
gegolten. Die Klägerin hat daher den Stromlieferungsvertrag auf den
31. Dezember 1966 künden dürfen, da die Konzession über 60 Jahre gedauert
hat, sei diese nun 1891 oder 1903 erteilt worden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts von
Graubünden vom 19. März/27. April 1971 bestätigt.