Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 350



97 II 350

48. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. Oktober 1971
i.S. Tannerberg AG gegen Gebrüder Klaiber Söhne. Regeste

    Art. 160 Abs. 2, Art. 372 OR.

    1.  Die für Nichteinhaltung der Erfüllungszeit vereinbarte
Konventionalstrafe geht unter, wenn der Besteller sie nicht spätestens
bei der Ablieferung des Werkes geltend macht.

    2.  Anders verhält es sich nur, wenn das abgelieferte Werk
mit versteckten Mängeln behaftet ist. Diesfalls gilt die vertraglich
vorgesehene Garantiefrist oder, wo eine solche nicht vereinbart worden ist,
die Verjährungsfrist des Art. 371 Abs. 2 OR.

Sachverhalt

    A.- Am 11. Mai 1961 schlossen die Firma Gebr. Klaiber Söhne als
Unternehmerin und die Tannerberg AG als Bestellerin einen Werkvertrag über
den Bau von vier Mehrfamilienhäusern und eines Garagetraktes. Die Baufirma
verpflichtete sich unter anderem, das Haus A samt Garagen bis Ende November
1961 im Rohbau zu erstellen und mit den Arbeiten am Haus B im Dezember
1961/Januar 1962 zu beginnen. Falls sie diese Fristen nicht einhielt,
sollte sie "gemäss den allgemeinen Bedingungen für Hochbauarbeiten"
für jeden Tag Verspätung eine Konventionalstrafe von Fr. 100.-- bezahlen.

    Das Haus A war erst Ende März 1962 im Rohbau fertig. Alsdann begann
die Firma Klaiber mit dem Bau des Hauses B, das sie im August 1962
im Rohbau beendete. Am 28. Februar 1963 sandte sie der Tannerberg AG
die Schlussabrechnung über die beiden Häuser und am 20. Mai 1964 eine
Aufstellung über die Gesamtkosten aller Bauten. Diese Kosten beliefen
sich auf Fr. 645'451.90, sodass nach Abzug der sieben Teilzahlungen
von Fr. 615'000.--, welche die Gesellschaft vom 9. Oktober 1961 bis
26. September 1963 geleistet hatte, sich zugunsten der Firma Klaiber ein
Saldo von Fr. 30'451.90 ergab, der später auf Fr. 26'841.40 herabgesetzt
wurde.

    In ihrer Antwort vom 10. Juni 1964 machte die Tannerberg AG geltend,
die Saldoforderung sei noch nicht fällig, da sie als "Garantierückhalt"
für die Häuser A und B diene; sie beabsichtige übrigens, die Schuld mit
der ihr zustehenden Konventionalstrafe von Fr. 36'500.-- zu verrechnen.

    B.- Im September 1966 klagte die Firma Klaiber gegen die Tannerberg AG
auf Bezahlung von Fr. 26'841.40 nebst Zins. Die Beklagte erhob Anspruch auf
eine Konventionalstrafe von Fr. 60'000.--, die sie zur Verrechnung stellte.

    Das Kantonsgericht Schaffhausen hiess die Klage am 4. Februar 1969
im Teilbetrag von Fr. 10'841.40 nebst Zins gut. Es hielt dafür, die
Verrechnungseinrede der Beklagten sei teilweise begründet, da die Klägerin
ihr für 160 Tage Verspätung die vereinbarte Konventionalstrafe schulde.

    Die Klägerin appellierte an das Obergericht des Kantons Schaffhausen
und beantragte, die Klage im vollen Umfange zu schützen. Das Obergericht
verwarf in seinem Urteil vom 22. Januar 1971 die Verrechnungseinrede
der Beklagten und verurteilte sie zur Zahlung des noch ausstehenden
Rechnungssaldos von Fr. 13'041.40 nebst Zins. In der Begründung führt
es dazu insbesondere aus, die Beklagte habe die Erfüllung vorbehaltslos
angenommen, könne sich folglich gemäss Art. 160 Abs. 2 OR nicht auf die
Abrede über die Konventionalstrafe berufen.

    C.- Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie beantragt dem
Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und im Sinne des
Kantonsgerichtes zu entscheiden.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene
Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Ist die Konventionalstrafe, wie hier, für Nichteinhaltung
der Erfüllungszeit versprochen worden, so kann sie gemäss Art. 160
Abs. 2 OR nebst der Erfüllung des Vertrages gefordert werden, solange
der Gläubiger nicht ausdrücklich Verzicht leistet oder die Erfüllung
vorbehaltlos annimmt. Im Gegensatz zu Art. 179 Abs. 2 aoR begründet die
vorbehaltlose Annahme daher nach dem geltenden Recht nicht bloss eine
widerlegbare Vermutung für den Verzicht des Gläubigers, sondern bewirkt den
Untergang der Forderung (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 3 und BECKER, N. 31 zu Art.
160 OR; VON TUHR/SIEGWART, OR II S. 727; GAUTSCHI, N. 6 g zu Art. 364 OR).
Das geltende schweizerische Recht stimmt in diesem Punkte mit dem deutschen
(§ 341 Abs. 3 BGB) überein, das bei der Revision des Art. 179 Abs. 2 aoR
offenbar als Vorbild gedient hat.

    b) Es ist unbestritten, dass die Beklagte sich erstmals in ihrem
Schreiben an die Klägerin vom 10. Juni 1964 auf die vereinbarte
Konventionalstrafe berufen und erklärt hat, sie beabsichtige, die
Restforderung der Klägerin mit ihren Ansprüchen zu verrechnen. Diese
Erklärung enthielt an sich einen Vorbehalt im Sinne des Art. 160 Abs. 2 OR.
Es fragt sich indes, ob der Vorbehalt rechtzeitig, d.h. vor oder spätestens
bei Erfüllung des Werkvertrages gemacht worden sei. Die Beklagte behauptet
dies mit der Begründung, die Klägerin habe erst nach Ablauf der vertraglich
vorgesehenen Garantiefrist erfüllen können; Art. 26 der SIA-Bedingungen
spreche denn auch nur von einer vorläufigen Abnahme des Werkes, wenn dieses
nach Vollendung sämtlicher Arbeiten keine erheblichen Mängel aufweise. Die
endgültige Abnahme erfolge gemäss Art. 28 dieser Bedingungen nach Ablauf
der Garantiefrist, die hier erst am 28. Februar 1965, zwei Jahre nach
der Schlussrechnung der Klägerin, zu Ende gegangen sei.

    Die von der Beklagten angerufenen SIA-Bedingungen sind der Ausgabe
1962 entnommen, die bei Abschluss des Werkvertrages im Mai 1961 indes noch
nicht vorgelegen haben kann. Mit dem im Vertrag enthaltenen Verweis auf
die allgemeinen SIA-Bedingungen kann nur die Ausgabe 1948 gemeint sein,
die sich freilich in den hier streitigen Punkten mit der Ausgabe 1962 im
wesentlichen deckt.

    Art. 27 dieser Bedingungen (Ausgabe 1948) bestimmt, dass die Bauleitung
und der Unternehmer nach Abschluss sämtlicher Arbeiten die vollendeten
Bauteile gemeinsam prüfen (Abs. 1). Ergeben sich dabei keine Mängel, so
finden die Ablieferung des Werkes und die vorläufige Abnahme durch den
Bauherrn statt (Abs. 2). Zeigen sich dagegen Mängel, so hat der Bauherr
dem Unternehmer eine angemessene Frist zu ihrer Behebung anzusetzen;
nach Ablauf dieser Frist erfolgt eine nochmalige gemeinsame Prüfung und,
wenn keine Mängel mehr erkennbar sind, die Ablieferung und die vorläufige
Abnahme (Abs. 3). Besteht keine der Parteien auf einer gemeinsamen Prüfung
und der Aufnahme eines Protokolls, so gilt das Werk mit der Einreichung
der letzten Rechnung für die hauptsächlichsten Arbeiten als abgeliefert
und vorläufig abgenommen (Abs. 6). Art. 28 sieht eine zweijährige
Garantiefrist vor, die mit dem Tage der Ablieferung und der vorläufigen
Abnahme beginnt. Art. 29 sodann bestimmt, dass nach Ablauf der Frist die
endgültige Abnahme oder Genehmigung des Werkes stattfindet und dass nachher
der Unternehmer während fünf Jahren nur noch für geheime Mängel haftet,
die einen Schaden von mindestens Fr. 500.-- ausmachen, erst nach Ablauf
der Garantiefrist zutage treten und vom Unternehmer verschuldet sind.

    c) Die Ablieferung im Sinne von Art. 372 OR ist in der Übergabe
des vollendeten, dem Vertrag in allen Teilen entsprechenden Werkes zu
erblicken (BGE 94 II 164 Erw. 2 c und dort angeführte Urteile). Danach
wurden hier das Haus A Ende März oder im April 1962, das Haus B im
August oder September 1962 abgeliefert, da das erstere Ende März und das
letztere im August im Rohbau fertig und von der Beklagten zum weiteren
Ausbau übernommen worden waren. Dass die Beklagte bei der Ablieferung
Mängel geltend gemacht habe, ist weder dem angefochtenen Urteil noch den
Akten zu entnehmen. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob sich der
Zeitpunkt der Ablieferung bis zur Behebung gerügter Mängel verschoben
hätte. Die in Art. 27 Abs. 5 der SIA-Bedingungen vorgesehene gemeinsame
Prüfung der Häuser ist offenbar unterblieben; jedenfalls ist den Akten
nicht zu entnehmen, dass sie stattgefunden habe. In solchen Fällen gilt das
Werk gemäss Art. 27 Abs. 6 an dem Tag, an dem die letzte Rechnung für die
hauptsächlichsten Arbeiten dem Bauherrn zugestellt wird, als abgeliefert
und vorläufig abgenommen. Diese Rechnung wurde hier, was unbestritten ist,
am 28. Februar 1963 der Beklagten zugestellt.

    Man kann sich freilich fragen, ob Art. 27 Abs. 6 der SIA-Bedingungen
überhaupt beachtlich ist, da es sich bei der Ablieferung um einen
Rechtsbegriff handelt, der auf bestimmte tatbeständliche Vorgänge
zugeschnitten ist und z.B. den Einzug des Bestellers in ein unvollendetes
Haus nicht erfasst (BGE 94 II 164). Anders verhält es sich, wenn
der Besteller, wie die Beklagte es hier getan hat, einen Rohbau als
mängelfrei übernimmt und mit dem Innenausbau beginnt; diesfalls muss die
Benützung des übernommenen Werkes bei gleichzeitigem Unterlassen einer
Mängelrüge als Abnahme ausgelegt werden (vgl. SOERGEL/SIEBERT, N. 2 zu
§ 341 BGB). Das gleiche ergäbe sich aus dem heute geltenden Art. 26
Abs. 5 der SIA-Bedingungen (Ausgabe 1962). Nach dieser Bestimmung
gilt mangels gemeinsamer Prüfung oder Ausfertigung eines Protokolls
die "Ingebrauchnahme" des Werkes grundsätzlich als dessen vorläufige
Abnahme. Die aufgeworfene Frage braucht indes nicht weiter erörtert zu
werden, da der im Schreiben der Beklagten vom 10. Juni 1964 enthaltene
Vorbehalt hinsichtlich der Konventionalstrafe auf jeden Fall verspätet war.

    d) Die Beklagte beruft sich auf Art. 27 der SIA-Bedingungen (Ausgabe
1948), wo von vorläufiger Abnahme die Rede ist, und auf Art. 29, der von
der Genehmigung des Werkes bzw. dessen endgültiger Abnahme nach Ablauf der
Garantiefrist handelt. Sie übersieht indes, dass diese Frist nichts anderes
als die vertraglich auf zwei Jahre verkürzte Verjährungsfrist des Art. 371
Abs. 2 OR ist, die sowohl nach dem Gesetz als auch nach Art. 28 Abs. 4 der
SIA-Bedingungen (Ausgabe 1948) mit der Ablieferung und der (vorläufigen)
Abnahme des Werkes beginnt. Das Wort "vorläufig" im Text der Bedingungen
weist bloss darauf hin, dass der Unternehmer unter den in Art. 29
umschriebenen Voraussetzungen nachher noch für geheime Mängel haftet. Bei
der gehörigen Erfüllung des Werkvertrages fallen die Ablieferung, die
Annahme und die Abnahme des Werkes jedoch zeitlich zusammen. Schweigt
der Besteller bei der Ablieferung, wie die Beklagte es getan hat, so wird
die Abnahme des Werkes - unter dem hier nicht zutreffenden Vorbehalt der
spätern Rüge versteckter Mängel - unwiderleglich vermutet (Art. 370 OR;
GAUTSCHI, N. 13 b zu Art. 367 und N. 4 a zu Art. 371 OR); ihr Anspruch
auf die Konventionalstrafe ist somit untergegangen.