Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 302



97 II 302

41. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 2. Dezember 1971
i.S. G. gegen Vormundschaftsbehörde R. Regeste

    Vormundschaft/Beiratschaft (Art. 369/395 ZGB).

    Bedarf eine geistesschwache Person dauernd der Überwachung und der
persönlichen Fürsorge, so genügt eine Beiratschaft im Sinne von Art. 395
ZGB nicht; in einem solchen Falle kommt nur die Vormundschaft in Frage.

Sachverhalt

    G., geb. 1900, wurde auf Antrag der Vormundschaftsbehörde vom
Bezirksrat auf Grund von Art. 369 ZGB wegen Geistesschwäche entmündigt. Da
G. gerichtliche Beurteilung verlangte, erhob die Vormundschaftsbehörde
gegen ihn Klage auf Entmündigung. Die Klage wurde vom Bezirksgericht und
vom Obergericht gutgeheissen.

    Mit der vorliegenden Berufung an das Bundesgericht beantragt der
Beklagte, es sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben, von einer
Entmündigung Umgang zu nehmen und an deren Stelle eine Mitwirkungs-
und Verwaltungsbeiratschaft anzuordnen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Sache selbst rügt der Berufungskläger, dass die
Vorinstanzen die härteste der in Frage stehenden vormundschaftlichen
Massnahmen, die Entmündigung, angeordnet haben, obschon seiner Ansicht
nach eine Mitwirkungs- und Verwaltungsbeiratschaft gemäss Art. 395
ZGB vollkommen genügen würde und seiner beschränkten Hilfsbedürftigkeit
durchaus angemessen wäre. Er verweist insbesondere auf BGE 96 II 371 ff.,
wo das Bundesgericht entschied, dass auch im Rahmen einer Beiratschaft
persönliche Fürsorge gewährt werden könne.

    Nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit vormundschaftlicher
Massnahmen darf eine Entmündigung nur ausgesprochen werden, wenn
sich der angestrebte Zweck nicht auf andere Weise erreichen lässt
(BGE 96 II 375 lit. e, EGGER, Kommentar, 2. Aufl., N 26 zu Art. 369
ZGB, SCHNYDER, Die Stufenfolge der vormundschaftlichen Massnahmen
und die Verhältnismässigkeit des Eingriffs, in ZBJV 1969, S. 268
ff.). Das Obergericht hat diesen Grundsatz nicht verkannt und die
beiden Möglichkeiten Vormundschaft/Beiratschaft sorgfältig gegeneinander
abgewogen. Es kam dabei zum Schluss, dass im vorliegenden Falle nur eine
Entmündigung genügenden Schutz für den Beklagten selber und seine Umwelt
bieten könne. Dem ist beizustimmen.

    Im Falle BGE 96 II 371 ff. litt die in Frage stehende Person an
einer schubweise auftretenden Geisteskrankheit. Zwischen den einzelnen,
in grössern Abständen einsetzenden Krankheitsschüben galt sie als "sozial
geheilt", d.h., sie vermochte ihre Angelegenheiten ohne weiteres selbst
zu besorgen und zeigte keine Krankheitserscheinungen, derentwegen sie des
Beistandes oder der Fürsorge bedurft hätte. Es genügte daher, dass ein
Beirat bestellt wurde, der bei unverhofftem Auftreten neuer Störungen
verhindern konnte, dass die Verbeiratete auf wirtschaftlichem Gebiet
unsinnige Verfügungen traf, und der sich in der Weise um das Wohlergehen
der Schutzbefohlenen kümmerte, dass er auf allfällige Anzeichen eines
beginnenden Krankheitsschubs achtete, um allenfalls notwendig werdende
Massnahmen (wie Anforderung ärztlicher Hilfe) rechtzeitig anordnen
zu können.

    Der hier zu beurteilende Fall ist völlig anders: Der Berufungskläger
leidet seit Jahren an einer dauernden, unheilbaren Geistesschwäche
(einer sog. pseudologia phantastica, d.h. an einer krankhaften Neigung zum
Schwindeln), und es ist laut psychiatrischem Gutachten zu befürchten, dass
sich sein Zustand mit zunehmendem Alter noch verschlimmern wird. Zwischen
1945 und 1963 erlitt er sechs Freiheitsstrafen mit zusammen über zwei
Jahren Gefängnis, u.a. wegen versuchter Anstiftung zu falschem Zeugnis,
fortgesetzten und wiederholten Betrugs, Urkundenfälschung, Veruntreuung
und Diebstahls. Trotzdem setzte er seine Schwindeleien auf verschiedensten
Gebieten fort. So machte er z.B. in seinen Briefen an seine zukünftige
zweite Ehefrau (die er 1966 heiratete und mit welcher er gegenwärtig wieder
in Scheidung steht - von der ersten Frau wurde er 1959 nach vierjähriger
Ehe geschieden) unwahre Angaben über sein bisheriges Leben sowie über
seine zivile und militärische Tätigkeit und Stellung und spiegelte ihr
vor, ein grosses Vermögen zu besitzen. Während der zweiten Ehe antwortete
er auf zahlreiche Heiratsinserate, gab sich als ledig aus und führte
ausgedehnte Korrespondenzen mit mehreren Frauen zugleich. Beruflich
sehr unstet (er betätigte sich als Pfarrer, Bürolist, Schriftsteller,
Psychologe, Versicherungsinspektor, Hersteller von Biorhytmogrammen,
Lehrer für Entspannungsübungen usw.), begann er in letzter Zeit auch,
sich mit grossen, irrealen Geschäftsvorhaben zu befassen wie der Gründung
einer AG für allgemeine Handelsgeschäfte und finanzielle Transaktionen, in
welche seine Ehefrau hätte Fr. 50'000.-- einwerfen sollen. Ferner wollte
er Immobilienhandel betreiben und knüpfte mit Hilfe falscher Erklärungen
verschiedene Geschäftsbeziehungen an, über deren Tragweite er selber völlig
ahnungslos war. Im Januar 1969 beantragte er bei einer Bank unter unwahren
Angaben und mit gefälschter Unterschrift seiner Ehefrau einen Kredit
von Fr. 5000.--. Seit 1968 musste sich die Armenbehörde seiner annehmen,
da er den Lebensunterhalt nicht mehr zu bestreiten vermochte. Über die
aufgelaufenen Schulden von rund Fr. 25'000.-- war er überhaupt nicht im
Bild. - Aufgrund dieser und anderer Vorfälle wies die Vormundschaftsbehörde
den Berufungskläger 1969 zur Begutachtung in eine psychiatrische Klinik
ein. Seit der Entlassung im März 1969 lebt er, da ihm keine andere Wohnung
zur Verfügung steht, im Altersheim. Er gibt selber zu, seine finanziellen
Angelegenheiten nicht mehr regeln zu können. Dank dem Eingreifen der
Armenbehörde vermag er sich aber gegenwärtig wieder selber zu erhalten.

    Unter diesen Umständen erscheint eine Beschränkung der
Handlungsfähigkeit im Sinne von Art. 395 ZGB tatsächlich als
ungenügend. Einmal vermöchte diese Massnahme nicht zu verhindern, dass
sich der Berufungskläger durch seine unbeholfene und wirklichkeitsfremde
Handlungsweise erneut in eine wirtschaftliche Notlage bringen könnte. Zum
andern bestünde die Gefahr weiter, dass er unter unwahren Angaben neue
Geschäftsbeziehungen anknüpfen, bei fremden Frauen falsche Hoffnungen
erwecken und damit Dritten schweres Unrecht und möglicherweise auch
Schaden zufügen würde. Nur eine Vormundschaft kann, weil sie sich auf alle
Rechtshandlungen bezieht und den ganzen Persönlichkeitsbereich umfasst,
dem Berufungskläger und seiner Umwelt genügenden Schutz bieten. Eine
gewisse Schutzwirkung wird dabei ebenfalls von der Veröffentlichung dieser
Massnahme ausgehen (Art. 375 ZGB), so unvollkommen solche Bekanntmachungen
in der Regel auch sind.

    Der angefochtene Entscheid stellt fest, dass der Berufungskläger
dauernd der Überwachung und des Beistandes bedürfe. Selbst wenn diese
Schlussfolgerung nicht eine Beweiswürdigung darstellt, sondern teilweise
auf allgemeiner Lebenserfahrung beruht und insoweit vom Bundesgericht
überprüfbar ist (BGE 88 II 469, 89 II 130, 95 II 169 lit. b), kann
sie angesichts der im Entscheid festgehaltenen Tatsachen nur bestätigt
werden. Eine solche dauernde Überwachung und Hilfe überschreitet jedoch
den Rahmen einer Beiratschaft im Sinne von Art. 395 ZGB. Dazu kommt,
dass bei einer älteren Person wie dem Berufungskläger, die an einer
Geistesschwäche leidet und praktisch mittellos ist, die persönliche
Fürsorge (möglicherweise verbunden mit einer Unterbringung in einer
Anstalt) im Vordergrund steht. Dem Hilfsbedürftigen einen möglichst
umfassenden Schutz zu bieten und ihm in allen persönlichen Angelegenheiten
beizustehen ist aber vornehmlich eine Aufgabe des Vormundes, dem vom Gesetz
dafür auch die nötigen Hilfsmittel in die Hand gegeben sind (Art. 406
ZGB und EGGER, N 3 zu dieser Bestimmung). Wenn daher die Vorinstanz der
Auffassung war, im vorliegenden Falle vermöge nur eine Vormundschaft zu
genügen, so hat sie das Bundesrecht richtig angewendet.