Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 297



97 II 297

40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 11. November 1971
i.S. Vissers gegen Bänninger. Regeste

    Vaterschaftsklage; Beweis der Vaterschaft bzw.  Nichtvaterschaft.

    Die von den Klägern zum Beweis der Vaterschaft des Beklagten beantragte
anthropologisch-erbbiologische Begutachtung darf erst angeordnet werden,
wenn alle andern Beweise, welche die Parteien zur Klärung der Frage der
Abstammung des Kindes angeboten haben, erhoben worden sind und nicht zu
einem schlüssigen Ergebnis geführt haben. Zur Blutuntersuchung gehört die
statistische Auswertung des Blutbefundes. Aus der Weigerung des Beklagten,
sich der vor Ausschöpfung aller andern Beweismöglichkeinten angeordneten
anthropologisch-erbbiologischen Untersuchung zu unterziehen, dürfen keine
für ihn nachteiligen Schlüsse gezogen werden.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Die ledige Schweizerin Bänninger und das von ihr am 16. Februar
1965 geborene Kind leiteten gegen den in Belgien wohnhaften Belgier
Vissers in Basel, wo sie zur Zeit der Geburt des Kindes Wohnsitz hatten
(Art. 312 SGB), eine Vaterschaftsklage auf Vermögensleistungen ein. Durch
die von ihnen angerufenen Zeugen konnte nicht bewiesen werden, dass der
Beklagte der Mutter in der kritischen Zeit (22. April bis 20. August
1964) beigewohnt hatte. Anderseits ergab sich, dass die Mutter zu
Beginn dieser Zeit mit einem Dritten geschlechtlich verkehrt hatte. Der
anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung, welche die Kläger zum Beweis
der Vaterschaft des Beklagten beantragt hatten, entzog sich der Beklagte,
obwohl ihm die Kosten der Reise zum Experten nach Basel vergütet worden
wären. In Würdigung dieser Weigerung des Beklagten und weiterer Umstände
erachtete das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die Vaterschaft
des Beklagten als erwiesen und hiess die Klage gut. Auf Berufung des
Beklagten hin weist das Bundesgericht die Sache an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 9

    9.- Die Anordnung eines AEG zum positiven Beweis der Vaterschaft setzt
die Erschöpfung aller andern Beweismöglichkeiten voraus (vgl. namentlich
BGE 90 II 273 Erw. 3 und - für den negativen Abstammungsbeweis, der in
dieser Hinsicht dem positiven gleichsteht - BGE 90 II 225 Erw. 5; ferner
BGE 96 II 324 Erw. 6, wo der Grundsatz, dass vor Einholung eines AEG
alle andern Beweismittel erschöpft sein müssen, allgemein ausgesprochen
wird). Das Bundesgericht hat diese Regel bei der ihm zustehenden
Prüfung der Frage aufgestellt, in welchen Fällen von Bundesrechts wegen
ein Anspruch auf Einholung eines naturwissenschaftlichen Gutachtens
besteht sowie ob und unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte
Untersuchungsmethode grundsätzlich zum Beweis der Abstammung oder
Nichtabstammung taugt. (Zur Kognition des Bundesgerichts auf diesem
Gebiete vgl. HEGNAUER, N. 101 zu Art. 314/315 ZGB, mit Hinweisen.) Die
erwähnte Regel ist daher als bundesrechtliche Beweisregel zu betrachten
und folglich nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 OG im Berufungsverfahren unabhängig
von der Begründung der Parteianträge von Amtes wegen anzuwenden (vgl. zur
eben genannten Bestimmung BGE 95 II 252 Erw. 3 mit Hinweisen, 361 Erw. 2,
610 Erw. 2).

    Der Beklagte hat in seiner Klageantwort ausser einem AEG ein
Blutgruppengutachten, ein Gutachten über den Reifegrad und "überhaupt
sämtliche zur Zeit der Urteilsfindung aner kannten Gutachten über die
mangelnde Vaterschaft" beantragt. Eingeholt wurde auf seinen Antrag hin
jedoch nur ein Blutgruppengutachten (serologisches Gutachten). Dass der
Beklagte auf die Begutachtungen, die er über das Blutgruppengutachten
und das von ihm später abgelehnte AEG hinaus beantragt hatte,
später verzichtet habe, ist nicht festgestellt. Den Akten ist denn
auch nicht zu entnehmen, dass er einen solchen Verzicht ausgesprochen
hätte. Vielmehr ist anzunehmen, infolge der Diskussion über das AEG sei
in Vergessenheit geraten, dass sein Beweisantrag über die Anordnung eines
Blutgruppengutachtens und eines AEG hinausging.

    Bei Erlass des Urteils der letzten kantonalen Instanz (30. September
1970) war der Entscheid BGE 96 II 314 ff. (vom 17. Dezember 1970), in
welchem sich das Bundesgericht erstmals eingehend mit der statistischen
Auswertung serologischer Befunde auseinandersetzte, noch nicht ergangen,
doch hatte diese Methode damals im Schrifttum und in Entscheidungen
deutscher Gerichte bereits grundsätzliche Anerkennung gefunden (HEGNAUER,
N. 156-160 zu Art. 314/315 ZGB, mit Hinweisen; vgl. auch die Hinweise in
BGE 96 II 317). Der Antrag auf Anordnung aller zur Zeit der Urteilsfindung
anerkannten Gutachten schloss also den Antrag auf serostatistische
Begutachtung in sich. Seit der grundsätzlichen Anerkennung dieser Methode
ist zudem anzunehmen, die statistische Auswertung des Blutbefundes gehöre
zur serologischen Begutachtung, wie sie der Beklagte mit dem Antrag auf
Blutprobe verlangt hat. Diese Annahme rechtfertigt sich um so eher,
als die in Frage stehende Auswertung nur einen verhältnismässig geringen
Mehraufwand verlangt.

    Die serostatistische Begutachtung dient in erster Linie dem positiven
Abstammungsbeweis, der in den Fällen BGE 96 II 314 ff. und 97 II 193 mit
diesem Beweismittel angestrebt wurde. Er erlaubt aber unter Umständen auch,
die Vaterschaft eines bestimmten Mannes auszuschliessen (vgl. BGE 96 II
317, wo jedoch unter dem in ersten Satze des letzten Absatzes verwendeten
Ausdruck "statistisch belegte Ausschlusswahrscheinlichkeit" nicht etwa
die unmittelbar vorher erwähnte Wahrscheinlichkeit der Vaterschaft
nach ESSEN-MÖLLER oder die in Erw. 3 erwähnte Wahrscheinlichkeit,
dass ein Nichtvater durch eine bestimmte Untersuchungsmethode als
Vater ausgeschlossen werden kann, sondern entsprechend dem zum Beleg
angeführten Zitat aus dem Lehrbuch von PONSOLD der Grad der Zuverlässigkeit
eines Vaterschaftsausschlusses zu verstehen ist; BGE 96 II 323 lit. c:
"serostatistischer Ausschlussbefund", und lit. d, wo ebenfalls auf die
Möglichkeit eines serostatistischen Vaterschaftsausschlusses Bezug genommen
wird; vgl. ferner HUMMEL, Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung
mit biostatistischem Beweis, 1961, S. 8 Mitte, 15, 18, 20 Ziff. 2
Abs. 1, 35 Ziff. 3 Abs. 3; HUMMEL in PONSOLD, Lehrbuch der Gerichtlichen
Medizin, 1967, S. 552 links unten und 555-557; BEITZKE im selben Lehrbuch
S. 582 rechts oben und 583 rechts oben; HEGNAUER, N. 156 zu Art. 314/315
ZGB). Beweiskräftige biostatistische Vaterschaftsausschlüsse sind freilich
sehr selten (HUMMEL, Die medizinische Vaterschaftsbegutachtung ..., S. 20
Ziff. 2 Abs. 1; HARRASSER, Der gegenwärtige Stand des erbbiologischen
Vaterschaftsgutachtens, Neue Juristische Wochenschrift, 1. Halbband 1962,
S. 661 rechts; HUMMEL, Der Stand der medizinischen Wissenschaft in der
Abstammungsbegutachtung und die Frage: Vaterschaftsfeststellung ohne
Beweisregel?, in Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1969 S. 21
links unten). Der Umstand, dass der serostatistische Beweis dem Beklagten
nur geringe Chancen bietet, ist jedoch kein zureichender Grund, ihm diese
Beweismöglichkeit vorzuenthalten.

    Im vorliegenden Fall haben im übrigen die Kläger in der Replik
"zum positiven Vaterschaftsbeweis" ihrerseits die Blutgruppenbestimmung
beantragt. Zum positiven Beweis der Abstammung ist nicht schon die
Bestimmung der Bluteigenschaften als solche, sondern erst die statistische
Auswertung des Blutbefundes tauglich. Der wiedergegebene Beweisantrag der
Kläger ist daher vernünftigerweise auf die serostatistische Begutachtung
zu beziehen.

    Hatte diese Begutachtung als beantragt zu gelten, so hätte sie nach
der erwähnten bundesrechtlichen Beweisregel durchgeführt werden sollen,
bevor die anthropologisch-erbbiologische Begutachtung angeordnet wurde.

    Vor der Anordnung eines AEG hätte aber auch das vom Beklagten
zum Beweis seiner Nichtvaterschaft beantragte Gutachten über den
Reifegrad eingeholt werden sollen. Wenn das Kind bei der Geburt die
Zeichen normaler Reife aufwies, war eine Zeugung in dem von der Mutter
angegebenen Zeitpunkte (Nacht vom 20. auf den 21. Mai 1964), d.h. 272
Tage vor der Geburt, allerdings ohne weiteres möglich. Über den Reifegrad
liegen jedoch keine Feststellungen vor, obwohl das Frauenspital Basel,
wo die Geburt erfolgt war, die nötigen Angaben zweifellos hätte liefern
können. Die Einholung eines Reifegutachtens liess sich daher nicht von
vornherein als zwecklos betrachten.

    Durften die kantonalen Instanzen die anthropologischerbbiologische
Begutachtung mangels Ausschöpfung der Beweismöglichkeiten, welche die
statistische Auswertung des Blutbefundes und das Reifegutachten boten,
bisher noch gar nicht anordnen, so war es ihnen auch nicht gestattet,
aus dem Umstand, dass der Beklagte sich weigerte, sich dieser Begutachtung
zu unterziehen, dem Beklagten nachteilige Schlüsse zu ziehen. Aus diesem
Grunde ist das angefochtene Urteil als bundesrechtswidrig aufzuheben. Die
Sache ist zur Durchführung der versäumten Beweiserhebungen an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Sollten diese Erhebungen nicht zu einem
schlüssigen Ergebnis führen, so wäre die anthropologischerbbiologische
Begutachtung von neuem anzuordnen. Da die bereits erfolgte Anordnung dieser
Massnahme gegen eine bundesrechtliche Beweisregel verstiess und folglich
unzulässig war, darf aus der Tatsache, dass der Beklagte es abgelehnt
hat, sich der angeordneten Untersuchung zu unterziehen, nicht geschlossen
werden, die neue Anordnung einer solchen Untersuchung sei zwecklos und
habe daher zu unterbleiben. Dass der Beklagte das AEG auch dann vereitelt
hätte, wenn vorher das serostatistische Gutachten und das Reifegutachten
eingeholt worden wären, steht nicht von vornherein fest, sondern es ist
möglich, dass die Ergebnisse dieser Gutachten seine Stellungnahme zum AEG
beeinflusst hätten. Aus seinem bisherigen Verhalten darf daher nicht auf
sein künftiges Verhalten geschlossen werden. Vielmehr ist er im Falle,
dass die erwähnten übrigen Gutachten die streitige Abstammungsfrage
nicht klären, anzufragen, ob er nunmehr bereit sei, zu einem AEG Hand
zu bieten. Sollte er sich von neuem weigern, so hätte er ernstlich damit
zu rechnen, dass er auf Grund dieser Weigerung und der übrigen Umstände
des Falles von neuem verurteilt würde, und könnte er kaum hoffen, der
Vollstreckung des Urteils in seinem Heimatstaat zu entgehen.