Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 180



97 II 180

25. Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Juli 1971 i.S. Schweizerische
Bundesbahnen gegen Bingisser. Regeste

    Örtliche Zuständigkeit für Klagen aus dem EHG gegen die SBB (Art.
19 EHG, Art. 4 Eisenbahngesetz, Art. 5 BBG).

    1.  Die Rüge, ein letztinstanzlicher kantonaler Vorentscheid über
diese Zuständigkeit verletze Bundesrecht, ist bei einem berufungsfähigen
Streitwert mit der Berufung (Art. 46 und 49 OG) und nicht mit der
Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 68 Abs. 1 lit. b OG) geltend zu machen
(Erw. 1).

    2.  Art. 5 BBG schliesst den kantonalen Gerichtsstand des Unfallortes
nicht aus (Erw. 2-5).

Sachverhalt

    A.- Beim Umladen von Alteisen von seinem Lastwagen in einen Güterwagen
geriet Max Bingisser am 16. Juni 1967 im Bahnhof Brugg mit dem Autokran an
die unter Spannung stehende Fahrleitung. Er erlitt schwere Verbrennungen,
denen er am 25. Juni 1967 erlag.

    B.- Am 16. Oktober 1969 reichten die Witwe und deren drei Kinder beim
Bezirksgericht Brugg gegen die SBB Schadenersatzklage ein.

    Die Beklagten erhoben die Einrede der Unzuständigkeit des angegangenen
Richters. Sie führten im wesentlichen aus, gemäss Art. 5 des Bundesgesetzes
vom 23. Juni 1944 über die Schweizerischen Bundesbahnen (Abk.: BBG) könnten
diese nur an ihrem Sitz in Bern oder am Hauptort jedes Kantons von den
Kantonseinwohnern belangt werden. Diese Regelung sei abschliessend und
lasse keinen Raum für kantonale Gerichtsstandsvorschriften, namentlich
nicht für den in § 12 lit. c der aargauischen Zivilprozessordnung
vorgesehenen Gerichtsstand des Unfallortes.

    Sowohl das Bezirksgericht Brugg als auch das Obergericht des Kantons
Aargau, letzteres mit Urteil vom 23. Februar 1971, wiesen die Einrede ab.

    C.- Die SBB haben gegen den obergerichtlichen Entscheid
Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben. Sie stellen folgende
Anträge:

    "1. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 23. Februar
1971 sei wegen Verletzung von Bundesrecht (BBG Art. 5) aufzuheben, und es
sei festzustellen, dass die Beklagten sich nicht auf die vor Bezirksgericht
Brugg angehobene Klage einzulassen haben.

    2. Eventuell sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    3. Vorsorglich sei der Vollzug des obergerichtlichen Entscheides ohne
Sicherheitsleistung (Art. 70 Abs. 2 OG) aufzuschieben.

    4. Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen."

    Die Kläger beantragen Nichteintreten auf die Beschwerde, eventuell
Abweisung, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde ist zulässig gegen letztinstanzliche
Entscheide kantonaler Behörden in Zivilsachen, die nicht nach Art. 44-46
OG der Berufung unterliegen (Art. 68 Abs. 1 OG).

    Die von den Klägern angehobene Schadenersatzklage stellt eine
vermögensrechtliche Zivilrechtsstreitigkeit dar, deren Streitwert
nach der Klageschrift Fr. 8000.-- übersteigt. Gemäss Art. 46 OG ist
sie somit berufungsfähig. Mit der Berufung anfechtbar sind ausser den
Endentscheiden der in Art. 48 OG genannten Behörden auch die Vor- und
Zwischenentscheide dieser Instanzen über die Zuständigkeit (Art. 49
OG; vgl. dazu BGE 90 II 214 und die dort zitierten Entscheide; 91 II
389). Da es sich beim angefochtenen Urteil des Obergerichts um einen
solchen Vorentscheid handelt, der der Berufung unterliegt, ist auf die
Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten. Diese kann aber - weil sie
die formellen Voraussetzungen erfüllt - als Berufung behandelt werden
(vgl. BGE 93 II 356).

Erwägung 2

    2.- Wie das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung erkannt hat
(BGE 89 II 42, 75 II 71 und dortige Hinweise), ist eine Streitsache wie
die vorliegende nach dem Bundesgesetz betreffend die Haftpflicht der
Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsunternehmungen und der Post vom 28. März
1905 (EHG) und nicht nach dem Bundesgesetz vom 24. Juni 1902 betreffend
die elektrischen Schwach- und Starkstromanlagen (ElG) zu beurteilen. Nach
Art. 19 EHG können Schadenersatzklagen sowohl beim Gericht des ordentlichen
Domizils der Unternehmung als auch bei dem gemäss Konzession oder Gesetz
zuständigen Gericht des Kantons, in welchem sich der Unfall ereignet
hat, angebracht werden. In Klammern verweist diese Bestimmung auf Art. 8
des Bundesgesetzes vom 23. Dezember 1872 über den Bau und Betrieb der
Eisenbahnen sowie auf Art. 12 des Bundesgesetzes vom 15. Oktober 1897
betreffend die Erwerbung und den Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung
des Bundes.

    Ob sich aus Art. 19 EHG ein bundesrechtlicher Gerichtsstand am
Unfallort ableiten lasse, ist umstritten (vgl. OFTINGER, Schweizerisches
Haftpflichtrecht, 2. Aufl., Bd. II/1 S. 380 Ziffer 3 und die dort
zitierten Urteile und Autoren). Nach den Beratungen im National- und
Ständerat zu schliessen, ist dies eher zu verneinen (vgl. StenBull
1902 S. 337 und 436; 1904 S. 21/22, 102 und 313 f; im Vergleich dazu
die Botschaft des Bundesrates zum ursprünglichen Art. 15 EHG: BBl 1901
I 683). Die Frage kann indessen offenbleiben. Fest steht jedenfalls,
dass die Eisenbahnunternehmung im Unfallkanton belangt werden kann.

Erwägung 3

    3.- a) Das in Art. 19 EHG erwähnte BG vom 23. Dezember 1872 über den
Bau und Betrieb der Eisenbahnen (BS 7 S. 3) bestimmte in Art. 8 Abs. 2:

    "Die Gesellschaften haben ... in jedem durch ihre Unternehmung
berührten Kantone ein Domizil zu verzeigen, an welchem sie von den
betreffenden Kantonseinwohnern belangt werden können."

    Dieses Gesetz wurde aufgehoben durch das Eisenbahngesetz vom
20. Dezember 1957 (AS 1958 S. 335), dessen Art. 4 Abs. 1 lautet:

    "Ausser an ihrem Sitz kann die Bahnunternehmung vor dem für die Klage
zuständigen Gericht jedes von ihr berührten Kantons von dessen Einwohnern
belangt werden ..."

    Damit sollte, wie in der Botschaft des Bundesrates (BBl 1956 I 238)
zu lesen steht, die Klageerhebung erleichtert und auf besondere kantonale
Gerichtsstände wie z.B. denjenigen des Unfallortes Rücksicht genommen
werden.

    b) Art. 19 EHG verweist ferner, wie erwähnt, auf das (heute
aufgehobene) Bundesgesetz vom 15. Oktober 1897 betreffend die Erwerbung und
den Betrieb von Eisenbahnen für Rechnung des Bundes (sog. Rückkaufsgesetz;
AS 1897/98 S. 557), das in Art. 12 Abs. 4 sagte:

    "Dieselbe [die Verwaltung der Bundesbahnen] hat ausserdem in jedem
durch ihre Bahnlinien berührten Kantone ein Domizil am Kantonshauptort zu
verzeigen, an welchem sie von den betreffenden Kantonseinwohnern belangt
werden kann."

    Der diese Bestimmung ersetzende Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes
betreffend die Organisation und Verwaltung der schweizerischen Bundesbahnen
vom 1. Februar 1923 (AS 1923 S. 318) führte sodann aus:

    "Sie [die SBB] haben ausserdem in jedem Kanton ein Domizil am
Kantonshauptorte zu verzeigen, wo sie von den Kantonseinwohnern belangt
werden können."

    Heute gilt anstelle dieser inzwischen ebenfalls aufgehobenen Vorschrift
Art. 5 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Schweizerischen Bundesbahnen
vom 23. Juni 1944 (Abk.: BBG; BS 7 S. 196), der wie folgt lautet:

    "Sie [die SBB] können ausser an ihrem Sitz am Hauptorte jedes Kantons
von den Kantonseinwohnern belangt werden."

    Von den ältern Gesetzen weicht diese letzte Gerichtsstandsbestimmung
also nur insofern ab, als die Domizilverzeigung weggefallen ist und die
SBB nun in jedem Kanton, gleichgültig ob dieser von der Bahnlinie berührt
wird oder nicht, von seinen Einwohnern am Hauptort eingeklagt werden kann.

Erwägung 4

    4.- a) All den genannten Vorschriften ist der Zweck gemeinsam,
den Einwohnern der einzelnen Kantone die Verfolgung von Rechtsansprüchen
gegenüber den Bahnunternehmungen zu erleichtern. Es war nie die Tendenz des
Gesetzgebers, die kantonale Gerichtsbarkeit in bezug auf die Bundesbahnen
einzuschränken (BGE 37 I 286). Auch im neuen Eisenbahngesetz von 1957,
das diesbezüglich früheres Recht übernommen hat, findet sich kein
solcher Gedanke. Dass Art. 5 BBG im innerkantonalen Verhältnis kantonale
Gerichtsstände ausschliesse, kann nicht angenommen werden. Das Ergebnis
wäre eher eine Erschwerung als eine Erleichterung der Rechtsverfolgung und
stünde der Idee, welche sämtlichen der erwähnten Gerichtsstandsbestimmungen
zugrunde lag, entgegen. Es ist auch nicht einzusehen, welches ins Gewicht
fallende Interesse die SBB haben könnten, nur am Kantonshauptort belangt
zu werden und nicht am Unfallort, wenn die kantonale Prozessordnung diesen
Gerichtsstand vorsieht.

    Art. 64 Abs. 3 BV überlässt die Gerichtsorganisation und das
gerichtliche Verfahren den Kantonen. Die Durchsetzung des materiellen
Bundesprivatrechts verlangt in keiner Weise, dass im Unfallkanton der
Gerichtsstand auf den Kantonshauptort beschränkt bleibe. Die SBB wurden
von dem in Art. 41 lit. b OG enthaltenen ausschliesslichen Gerichtsstand
des Bundes ausdrücklich ausgenommen. Schliesslich verbietet auch der Zweck
des Art. 5 BBG (nämlich den Kantonseinwohnern für Klagen gegen die SBB von
Bundesrechts wegen einen Gerichtsstand im Kanton zu sichern) nicht, dass
das kantonale Prozessrecht daneben andere, wahlweise zur Verfügung stehende
Gerichtsstände bezeichne, wie es in der aargauischen ZPO geschehen ist.

    Das Bundesgericht hat immer diese Auffassung vertreten und namentlich
in BGE 60 II 376 ff. eingehend begründet (vgl. auch den amtlich nicht
veröffentlichten Entscheid i.S. CFF gegen Bloch vom 6. Juni 1946,
teilweise abgedruckt und besprochen in SJZ 46, 1950, S. 30/31). An dieser
Rechtsprechung ist, auch bei erneuter Prüfung, festzuhalten.

    b) Vergeblich versuchen die Beklagten, unter Bezugnahme auf
BGE 94 II 134 einen Gegensatz zwischen Art. 84 SVG und Art. 19 EHG
hervorzustreichen und daraus etwas zu ihren Gunsten abzuleiten. In jenem
Entscheid hat das Bundesgericht für Schadenersatzklagen gegen die SBB aus
Unfällen mit Dienst-Motorfahrzeugen den Unfallort als bundesrechtlichen
Gerichtsstand anerkannt und Art. 84 SVG im Verhältnis zu Art. 5 BBG als
Sonderbestimmung aufgefasst. Ob nun aber Art. 19 EHG als Spezialvorschrift
in Haftpflichtfällen ebenfalls einen bundesrechtlichen Gerichtsstand
des Unfallortes schaffe oder - wie die Beklagten behaupten - vielmehr
davon absehe, ist, wie bereits unter Ziffer 2 bemerkt wurde, für den
vorliegenden Fall unerheblich und kann deshalb offenbleiben. Denn hier
steht einzig die Frage zur Diskussion, ob Art. 5 BBG Raum lasse für
Gerichtsstandsvorschriften des Unfallkantons. Wie dargetan wurde, ist
dies zu bejahen.

Erwägung 5

    5.- Ob die Vorinstanz das kantonale Prozessrecht (§ 12 lit. c
aarg. ZPO) richtig ausgelegt und angewendet habe, ist eine der Überprüfung
durch die eidgenössische Berufungsinstanz entzogene Frage.

Entscheid:

                 Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1.- Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten. 2. -
Die Eingabe wird als Berufung an Hand genommen. 3. - Die Berufung wird
abgewiesen und das Urteil des Obergerichts (1. Zivilabteilung) des Kantons
Aargau vom 23. Februar 1971 bestätigt.