Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 76



96 V 76

18. Auszug aus dem Urteil vom 21. Mai 1970 i.S. Peyer gegen Ausgleichskasse
des Kantons Luzern und Versicherungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 8 Abs. 1 IVG: Anspruch auf Eingliederung (Grundsatz).

    Unmittelbarkeit im Sinne dieser Bestimmung besteht dann, wenn eine
Invalidität in absehbarer Zeit einzutreten droht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Im vorliegenden Fall vertritt das Bundesamt für Sozialversicherung
in seinem Mitbericht die Ansicht, von unmittelbar drohender Invalidität
könne nicht die Rede sein. Da es sich hier um die Beurteilung einer
grundsätzlichen Rechtsfrage handelt, hat die I. Kammer eine Stellungnahme
des Gesamtgerichtes eingeholt. Dieses äusserte sich wie folgt:

    Auszugehen ist vom rechtlichen Invaliditätsbegriff des Art. 4 IVG,
dessen Elemente im wesentlichen wirtschaftlicher Natur sind (der Sonderfall
des Art. 5 spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle). Alsdann ist das
Zusammenspiel der Art. 4, 8 und 12 IVG zu berücksichtigen. In Art. 8
und 12 findet sich der Ausdruck "unmittelbar". Ebenfalls verwendet
der italienische Text in beiden Artikeln den gleichen Ausdruck
(direttamente). Anders der französische: Er spricht in Art. 8 von
"assurés... menacés d'une invalidité imminente" und in Art. 12 von
"... mesures médicales qui ... sont directement nécessaires à la
réadaptation...". Der erste Ausdruck ist rein zeitlich orientiert,
der zweite rein erfolgsmässig. Wird der Begriff der Unmittelbarkeit
in Art. 8 Abs. 1 IVG rein zeitlich ausgelegt, so führt dies zu einer
klaren Begriffsbestimmung: Im Bereiche von Art. 4 hat die Rechtsprechung
festgestellt, dass von bleibender Invalidität dann gesprochen werden kann,
wenn sie "während der ... normalen Aktivitätsperiode des Versicherten
besteht", von längere Zeit dauernder Erwerbsunfähigkeit, wenn sie längere
Zeit (nämlich mindestens 360 Tage: vgl. Art. 29 Abs. 1 IVG) bestanden hat
(vgl. EVGE 1962 S. 248). Angesichts dieser zeitlichen Elemente in Art. 4
und Art. 8 IVG darf das Vorliegen einer unmittelbar drohenden Invalidität
selbst dann nicht bejaht werden, wenn der Eintritt einer Erwerbsunfähigkeit
zwar als gewiss erscheint, der Zeitpunkt dieses Eintrittes aber ungewiss
ist. Unmittelbarkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 IVG besteht demnach, wenn
eine Invalidität in absehbarer Zeit einzutreten droht. Wann allerdings
dieses Merkmal gegeben ist, kann nicht ein für alle Male bestimmt werden:
der Ausdruck "unmittelbar" ist notwendigerweise relativ zu verstehen. Seine
Tragweite hängt von der Art des Gebrechens ab. Im übrigen wäre der Arzt
auch überfordert, wenn er auf Grund eines unklaren Zustandsbildes eine
langfristige Prognose stellen müsste...