Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 65



96 V 65

15. Urteil vom 26. Mai 1970 i.S. Turner gegen Eidgenössische
Ausgleichskasse und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 27 Abs. 2 AHVG: Über den Anspruch der ausserehelichen Kinder
auf Waisenrente.

    Ist der aussereheliche Vater gestützt auf einen durch die
Vormundschaftsbehörde genehmigten "Vertrag über das Unterhaltsgeld"
zur Bezahlung der Prämien für eine auf sein Leben abgeschlossene
Lebensversicherung verpflichtet, aus welcher das aussereheliche Kind
begünstigt ist, so gilt er als "zur Zahlung vonUnterhaltsbeiträgen
verpflichtet"; das aussereheliche Kind hat daher nach dem Tode des Vaters
Anspruch auf eine einfache Waisenrente.

Sachverhalt

    A.- Der am 28. August 1962 geborene Beschwerdeführer Gion Alfred
Turner ist der aussereheliche Sohn des am 24. Februar 1969 verstorbenen
X. Dieser hatte durch schriftlichen Vertrag vom 25. März 1963 mit Y.,
dem damaligen Beistand und heutigen Vormund des ausserehelichen Kindes,
die Vaterschaft anerkannt. Ferner verpflichtete er sich in Ziffer 2 dieses
Vertrages zur Bezahlung der Prämien für eine Lebensversicherung, die vom
Beistand als Versicherungsnehmer zugunsten des Beschwerdeführers auf das
Leben des X. abgeschlossen wurde. Die Vormundschaftsbehörde genehmigte
die Vaterschaftsanerkennung und die Vereinbarung über das Unterhaltsgeld
mit Beschluss vom 15. Juli 1963. Nach dem Tode des ausserehelichen
Vaters meldete der Vormund den Beschwerdeführer am 26. Februar 1969 bei
der Eidgenössischen Ausgleichskasse zum Bezuge einer AHV-Waisenrente
an. Mit Verfügung vom 22. Mai 1969 lehnte diese aber das Begehren ab. Zur
Begründung führte sie aus, der Vater des Leistungsansprechers sei zu
seinen Lebzeiten nicht zu Unterhaltsleistungen an das Kind verpflichtet
gewesen. Da durch seinen Tod die Versicherungssumme zu Gunsten des Kindes
fällig geworden sei, habe dieses auch keinen Versorgerschaden erlitten.

    B.- Eine gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerde des Vormundes
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom
5. September 1969 ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt der gesetzliche Vertreter des Gion
Alfred Turner innert Frist Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Beschwerdegegnerin
sei zu verpflichten, eine Waisenrente zu bezahlen. Der angefochtene
Entscheid verletze durch die unzutreffende Anwendung des Art. 27 Abs. 2
AHVG Bundesrecht; ferner wird beanstandet, der rechtserhebliche Sachverhalt
sei unvollständig festgestellt worden.

    In ihren Vernehmlassungen beantragen die Eidgenössische Ausgleichskasse
und das Bundesamt für Sozialversicherung Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Aussereheliche Kinder, deren Vater durch Gerichtsurteil oder
aussergerichtlichen Vergleich zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen
verpflichtet ist, haben beim Tode eines Elternteils gemäss Art. 27 Abs. 2
AHVG Anspruch auf die einfache Waisenrente.

    Im vorliegenden Fall ist streitig, ob der verstorbene Vater
des Beschwerdeführers im Sinne dieser Bestimmung "zur Zahlung von
Unterhaltsbeiträgen verpflichtet" gewesen sei. Diese gesetzliche
Voraussetzung der Versicherungsleistung knüpft an einen zivilrechtlichen
Tatbestand an. Da die Waisenrente als sozialversicherungsrechtliche
Abgeltung des Versorgerschadens gedacht ist, wird sie für
das aussereheliche Kind vom Bestehen einer zivilrechtlichen
Unterhaltspflicht des Vaters abhängig gemacht. Den Nachweis eines
konkreten Versorgerschadens verlangt aber das Gesetz nicht. Daher ist
es auch unerheblich, ob der aussereheliche Vater seine Unterhaltspflicht
erfüllt habe oder nicht. Entscheidend bleibt einzig, ob er gemäss Art. 319
ZGB verpflichtet war, einen "angemessenen Beitrag an die Kosten des
Unterhalts und der Erziehung des Kindes" zu leisten. In welcher Form
dieser Beitrag zu leisten war und wie er im einzelnen verwendet wurde,
sind Fragen von untergeordneter Bedeutung. Es ist kein Wesensmerkmal des
Unterhaltsgeldes im Sinne von Art. 319 ZGB, dass es für den laufenden
Unterhalt verwendet wird. Es kommt vor, dass die Kindsmutter selber
für den laufenden Unterhalt des Kindes sorgen kann und auch selber
für das Kind aufkommen will. Dagegen kann sie auch in diesem Falle
nicht gegenüber dem ausserehelichen Vater auf die Unterhaltsbeiträge
an das Kind, dessen Interessen von der Vormundschaftsbehörde bzw. vom
Beistand oder Vormund gewahrt werden, rechtsverbindlich verzichten
(Art. 319 Abs. 3 ZGB). Wenn der festgesetzte Unterhaltsbeitrag im
Einzelfall für die laufenden Unterhaltskosten nicht benötigt und für
die späteren Ausbildungskosten zurückgelegt wird, ist er nach seinem
zivilrechtlichen Gehalt ebenso "Unterhaltsgeld" wie ein Beitrag an die
laufenden Kosten des Lebensunterhaltes. Es besteht kein Anlass, einen
solchen Beitrag sozialversicherungsrechtlich anders zu behandeln, da das
AHVG in der massgebenden Bestimmung auf den zivilrechtlichen Tatbestand
abstellt. Wird der Beitrag des ausserehelichen Vaters für den laufenden
Unterhalt einstweilen nicht benötigt, so ist es Pflicht des gesetzlichen
Vertreters des Kindes, diese Beiträge sicher anzulegen, bis sie gebraucht
werden (Art. 401 ZGB). Es ist nicht einzusehen, weshalb eine solche Anlage
nicht in Form einer Lebensversicherung erfolgen könnte, deren Prämien
mit den Beiträgen des ausserehelichen Vaters bezahlt werden. Diese Form
der Anlage des Mündelvermögens bietet zudem den Vorteil, sich gegen das
Risiko des Ausfalles der Beiträge infolge vorzeitigen Todes des Vaters
abzusichern. Wenn der Vater sich verpflichtet, die Beiträge als Prämien
direkt an die Versicherung zu leisten, so ist in einer solchen Abrede
bloss eine Vereinfachung des Zahlungsverkehrs zu erblicken, welche auf
die rechtliche Qualifikation der Beiträge keinen Einfluss hat. Daher
gilt der aussereheliche Vater im Sinne des Art. 27 Abs. 2 AHVG als zur
Zahlung von Unterhaltsbeiträgen verpflichtet, wenn er die Prämien für eine
zugunsten des Kindes abgeschlossene Summenversicherung zu bezahlen hat,
sofern sich aus den Umständen ergibt, dass er diese Leistung an Stelle
direkter Beiträge an den laufenden Unterhalt des Kindes zu erbringen
hat. Aus EVGE 1961 S. 223 ff. lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten,
zumal jenem Urteil ein ganz anderer Sachverhalt zugrunde lag.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall sind die Zahlungen, die der verstorbene
aussereheliche Vater zu Lebzeiten in Form von Versicherungsprämien
geleistet hat, als Unterhaltsbeiträge an das Kind zu qualifizieren. Aus den
Verhandlungen des gesetzlichen Vertreters mit der Versicherung ergibt sich,
dass er sich vor Abschluss der Versicherung mit dem ausserehelichen Vater
über die Höhe des monatlichen Unterhaltsbeitrages an das Kind geeinigt
hat. Auf dieser Grundlage wurde dann die jährliche Leistung ermittelt
und als Prämienbasis der Versicherung zugrunde gelegt. Nach dieser
Einigung auf einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 80.- bzw. einen
jährlichen Beitrag von Fr. 960.-- und entsprechend einer Prämienzahlung
von Fr. 952.60 schloss der Beistand des Kindes die Versicherung als
Versicherungsnehmer ab. Dass in der Vaterschaftsanerkennung vom 25. März
1963 nicht von Unterhaltsbeiträgen die Rede ist, sondern unmittelbar die
zu bezahlende Prämie als vermögensrechtliche Leistung des Vaters an das
Kind festgelegt wird, hat nur formelle Bedeutung. Es ist klar, dass diese
Verpflichtung nach Auffassung der Parteien an die Stelle eines direkten
Unterhaltsbeitrages an das Kind treten sollte. Rechtlich entsprach die
Leistung somit einer Unterhaltsverpflichtung; sie wurde nur wirtschaftlich
anders verwendet, da die Mutter für den laufenden Unterhalt des Kindes
nicht darauf angewiesen war oder nicht darauf angewiesen sein wollte. Auch
die Vormundschaftsbehörde hat die Meinung der Vertragsparteien der
Vaterschaftsanerkennung richtig verstanden, wenn sie diese als "Vertrag
über das Unterhaltsgeld" bzw. als "Vereinbarung ... betreffend ...
Unterhaltsverpflichtung" bezeichnet hat. Die Vormundschaftsbehörde hätte
diesen Vertrag nicht genehmigen dürfen, wenn für sie die Leistung des
ausserehelichen Vaters ihrer rechtlichen Natur nach nicht eindeutig als
Unterhaltsbeitrag an das Kind erkennbar gewesen wäre.

    Durch den Tod des nach dem Lebensversicherungsvertrag Versicherten
ist der Versicherungsfall vor Ablauf der vollen Versicherungsdauer
eingetreten. Daher musste die Versicherungssumme, die um die
Gewinnanteile erhöht wurde, vorzeitig ausbezahlt werden. Bei voller
Versicherungsdauer wären die Gewinnanteile für weitere 11 Jahre zur
Versicherungssumme geschlagen worden, wodurch sich diese erheblich erhöht
hätte. Der Begünstigte ist daher keineswegs finanziell gleichgestellt,
wie wenn sein Vater noch lebte. Dagegen ist ungewiss, wie hoch der
erlittene Ausfall zu veranschlagen ist, da die Höhe der entgangenen
Gewinnanteile vom künftigen Geschäftsgang des Versicherers abhängt. Diese
Ungewissheit ändert aber nichts daran, dass jener Ausfall rechtlich einen
Versorgerschaden darstellt. Die diesbezüglichen Bedenken des Bundesamtes
sind unbegründet. Es ist nicht nötig, die Höhe des Versorgerschadens für
die Festsetzung der Waisenrente im Einzelfall zu kennen. Denn für die
Bemessung der Waisenrente sind von diesem Umstand unabhängige, spezifisch
sozialversicherungsrechtliche Faktoren massgebend.

    Ist mithin die von der Vormundschaftsbehörde genehmigte
Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen ausserehelichen Vaters des
Beschwerdeführers als Verpflichtung zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen im
Sinne von Art. 27 Abs. 2 AHVG zu qualifizieren, so hat der Beschwerdeführer
Anspruch auf eine einfache Waisenrente. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist daher grundsätzlich gutzuheissen. Die Festsetzung der Waisenrente
ist zunächst Sache der Verwaltung. Die Akten sind deshalb zur Festsetzung
der Rente in einer neuen Verfügung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichtes des Kantons Graubünden vom 5. September 1969 sowie
die Kassenverfügung vom 22. Mai 1969 werden aufgehoben.

    II.  2 Die Akten werden zur Festsetzung der dem Beschwerdeführer
zustehenden einfachen Waisenrente an die Eidgenössische Ausgleichskasse
zurückgewiesen.