Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 49



96 V 49

11. Urteil vom 6. August 1970 i.S. Wagner gegen Krankenkasse des
städtischen Personals von Biel und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
Regeste

    Art. 5 Abs. 1 KUVG.

    Bedeutung des Gewohnheitsrechts in öffentlichrechtlichen Belangen,
insbesondere für die Ausfüllung von Lücken in Kassenstatuten betreffend
die versicherungsfähigen Personen.

Sachverhalt

    A.- Walter Wagner-Kocher ist seit über 15 Jahren Sekundarlehrer
in Biel. Im Januar 1969 stellte er für sich, seine Ehefrau und seine
vier Kinder das Begehren um Aufnahme in die Krankenkasse des städtischen
Personals von Biel (BKK). Am 6. Februar 1969 verfügte die Krankenkasse
die Abweisung dieses Gesuches mit der Begründung, die Lehrerschaft gehöre
nicht zum Personal der Einwohnergemeinde, für welches die Kassenstatuten
allein Geltung hätten.

    B.- Beschwerdeweise verlangte Walter Wagner, die Kasse sei
zu verhalten, den Beschwerdeführer und dessen Familienangehörige
als Mitglieder aufzunehmen. Die Lehrer gälten eindeutig als
Gemeindebedienstete. Die Besoldungsordnung der Einwohnergemeinde Biel
umschreibe den Anwendungsbereich ausdrücklich mit: "für die Behörden, das
Verwaltungspersonal und die Lehrerschaft". Verschiedene Bestimmungen des
Personalstatuts seien gemäss Besoldungsordnung ausdrücklich auch auf die
Lehrer anwendbar. Nach Art. 5bis der Kassenstatuten könnten Arbeitnehmer
anderer Verwaltungen, Betriebe und Institutionen ebenfalls bei der Kasse
versichert werden. So würden die Gewerbelehrer ohne weiteres aufgenommen.
Eine unterschiedliche Behandlung der Sekundarlehrer rechtfertige sich
nicht.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde mit
Entscheid vom 7. Mai 1969 abgewiesen.

    C.- Walter Wagner lässt Beschwerde einreichen und sein vorinstanzlich
gestelltes Rechtsbegehren wiederholen. Es sei nicht einzusehen, weshalb die
Sekundarlehrer von der Kassenmitgliedschaft ausgenommen sein sollten. Die
Auffassung der Kasse habe eine rechtsungleiche Behandlung der als
Sekundarlehrer tätigen Gemeindeangestellten zur Folge.

    Die Kasse trägt auf Abweisung der Beschwerde an, sofern wegen formeller
Mängel der Beschwerdeschrift überhaupt auf sie eingetreten werde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung schliesst sich diesem Begehren an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mit der Beschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht kann - nach
dem hier anwendbaren, zur Zeit der kantonalen Entscheidung gültigen Recht -
nur geltend gemacht werden, das angefochtene Erkenntnis beruhe auf einer
Verletzung von Bundesrecht oder auf Willkür bei der Feststellung oder
Würdigung des Sachverhalts (Art. 30ter Abs. 2 KUVG).

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 5 Abs. 1 KUVG ist jeder Schweizerbürger berechtigt, in
eine Kasse einzutreten, wenn er deren statutarische Aufnahmebedingungen
erfüllt.

    Die Kasse meint, gerade der Beschwerdeführer erfülle ihre
statutarischen Aufnahmebedingungen nicht und könne daher nicht als Mitglied
aufgenommen werden. Die Lehrer gehörten weder zu dem personalrechtlich
obligatorisch zu versichernden Personal der Einwohnergemeinde Biel im
Sinn des Art. 5 ihrer Statuten noch zu jenen Arbeitnehmern, die gemäss
Art. 5bis Abs. 1 sich freiwillig bei ihr versichern lassen könnten.

Erwägung 3

    3.- Art. 5, Ingress, der Kassenstatuten lautet wie folgt:

    "Soweit das Personal der Einwohnergemeinde Biel gemäss Personalrecht
verpflichtet ist, der BKK als Mitglied beizutreten, gelten für die Aufnahme
folgende Voraussetzungen..."

    Das Versicherungsobligatorium dieses Personals ist in Art. 9 des
Personalstatuts der Einwohnergemeinde folgendermassen normiert:

    "Die Anstellung setzt die Aufnahme in die städtische Versicherungskasse
und in die Krankenkasse des städtischen Personals gemäss den Statuten
dieser Institution voraus. Ausnahmen hiervon kann nur der Gemeinderat
bewilligen."

    Der Wortlaut des zitierten Art. 5 besagt aber nicht, dass nur jene
Beamten und Angestellten in die Kasse aufgenommen werden dürfen, die gemäss
Personalstatut zum Beitritt verpflichtet sind. Ebensowenig lässt sich
dem Art. 9 des Personalstatuts entnehmen, dass dasjenige Personal, welches
der Gemeinderat von der Auflage des Versicherungsobligatoriums befreit hat,
nicht in die Kasse aufgenommen werden darf. Diese Vorschriften verlangen
also - grammatikalisch und logisch - eine Norm, welche das Verhältnis der
Krankenkasse zu jenem Personal regeln würde, das gemäss Personalstatut
nicht verpflichtet ist, ihr beizutreten. Eine solche Bestimmung ist um
so notwendiger, als nach Art. 5bis Abs. 1 der Kassenstatuten auch andere
Personen als Arbeitnehmer der Einwohnergemeinde Biel Kassenmitglieder
werden können.

Erwägung 4

    4.- Nun hat aber die Kasse unwidersprochen erklärt, in den 72 Jahren
ihres Bestehens habe sich kein einziger Lehrer - abgesehen von den
obligatorisch versicherten Gewerbelehrern - bei ihr versichern lassen;
ihr heutiger Verwalter, der seit 1947 in ihrem Vorstand tätig sei, vermöge
sich nicht daran zu erinnern, dass sich je ein Lehrer nach der Aufnahme
auch nur erkundigt hätte.

    Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Bildung von
Gewohnheitsrecht als öffentliches Recht. Obschon der privatrechtliche
Einschlag unverkennbar ist, liegt hier doch eine Streitigkeit vor, die
überwiegend öffentlichrechtlichen Charakter hat. Bei der Anwendung von
Gewohnheitsrecht in öffentlichrechtlichen Belangen war das Bundesgericht
stets zurückhaltend. Es hat aber anerkannt, dass es zur Ausfüllung
von Gesetzeslücken herangezogen werden kann. Die Entstehung von
Gewohnheitsrecht setzt nach der Rechtsprechung (BGE 84 I 95, bestätigt
durch 89 I 457) voraus: Regelmässigkeit und lange, ununterbrochene
Dauer der Übung; die ihr zugrunde liegende Rechtsüberzeugung
sowohl der rechtsanwendenden Behörden als auch der vom angewendeten
Grundsatz Betroffenen; das Bestehen einer echten Lücke im Gesetz und das
unabweisliche Bedürfnis, sie zu füllen (vgl. dazu Berner Kommentar zum ZGB,
Art. 1 N 233-250, und Egger, Kommentar zum Personenrecht, Art. 1 N 22-35;
ferner Archiv für Schweizerisches Abgaberecht, Bd. 37, S. 465).

    Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Es steht
unbestritten fest, dass seit 72 Jahren kein einziger Lehrer - abgesehen
von den Gewerbelehrern - in die Krankenkasse des städtischen Personals
von Biel aufgenommen worden ist und sich jedenfalls mindestens seit
1947 kein Lehrer bei ihr um die Mitgliedschaft beworben hat. Darin
liegt eine ununterbrochene, hinreichend lang dauernde Übung, welche
den Schluss zulässt, es habe sowohl bei der Krankenkasse wie bei der
Lehrerschaft bisher die Überzeugung bestanden, dass die Angehörigen
dieser Berufsgruppe, weil vom Versicherungsobligatorium ausgenommen, nicht
versicherbar seien. Dieser Auffassung entspricht beispielsweise, dass in
den Statuten der Krankenkasse für das Personal der Einwohnergemeinde Bern
vom 17. Dezember 1965 unterschieden wird zwischen der Lehrerschaft und den
übrigen Gemeindefunktionären. Während diese der Personalkrankenkasse der
Einwohnergemeinde angehören, sind die Lehrer - auch hier mit Ausnahme
der Gewerbelehrer - von der Mitgliedschaft ausdrücklich ausgenommen
(Art. 4 Abs. 1 lit. a). - Die erwähnten Verhältnisse rechtfertigen
es, die in den Statuten der heutigen Beschwerdegegnerin bestehende
Lücke über die Stellung der Krankenkasse zu den gemäss Personalstatut
nicht dem Versicherungsobligatorium unterstehenden Arbeitnehmern der
Einwohnergemeinde Biel auszufüllen. Somit gehören die Lehrer - mit Ausnahme
der Gewerbelehrer - der Einwohnergemeinde Biel gewohnheitsrechtlich zu
jenen Personen, die sich nach den geltenden Kassenstatuten nicht bei der
Beschwerdegegnerin versichern lassen können. Diese Ordnung widerspricht
dem Art. 5 Abs. 1 KUVG nicht.

    Demzufolge war es nicht bundesrechtswidrig, wenn das kantonale
Verwaltungsgericht die Verfügung, womit dem Beschwerdeführer die Aufnahme
in die Kasse verweigert worden war, geschützt hat.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die Beschwerde wird
abgewiesen.