Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 42



96 V 42

10. Urteil vom 20. März 1970 i.S. Matthey gegen Ausgleichskasse des
Schweizerischen Engros-Möbelfabrikantenverbandes und Rekurskommission
des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 29 Abs. 1 und 41 IVG: Beginn des Anspruchs auf Rentenrevision.

    -  Die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit gemäss der neuen
Variante 2 von Art. 29 Abs. 1 IVG kann im Revisionsfall normalerweise
der Erwerbsunfähigkeit gleichgesetzt werden.

    - Wann die Wartezeit von 360 Tagen nach der erwähnten Variante 2
erfüllt ist, lässt sich im Prinzip nur retrospektiv feststellen.

    - Die Perioden, in welchen eine Rente läuft, dürfen aus dieser
rückblickenden Betrachtung nicht ausgeschaltet werden.

Sachverhalt

    A.- Matthey, Schreiner in einer Möbelfabrik, bezieht seit dem 1. April
1966 eine halbe einfache Rente der Invalidenversicherung nebst der
entsprechenden Zusatzrente für seine Ehefrau. Die seine Erwerbsfähigkeit
vermindernden Gesundheitsschäden wurden in einem Arztbericht vom
Dezember 1965 im wesentlichen wie folgt diagnostiziert: Depression mit
cerebralen Abbauerscheinungen, Hypertonie mit leichter Myokard schädigung,
Rhinitis vasomotorica. Am 6. Dezember 1968 meldete Matthey, der nach
der Rentenzusprechung seine frühere Tätigkeit halbtagsweise fortgesetzt
hatte, er sei seit dem 12. November vollständig arbeitsunfähig. Auf
Anfrage der Invalidenversicherungs-Kommission teilte der behandelnde Arzt
hierauf am 12. Januar 1969 mit, seit dem Herbst 1968 habe sich der vorher
überwiegend stationäre Zustand des Rentners subjektiv verschlechtert. Die
Diagnose sei im Prinzip die gleiche wie 1965, hinzugekommen sei nun aber
eine aetiologisch nicht leicht erklärbare Tachykardie. Er glaube, man könne
mit einer verwertbaren Arbeitsfähigkeit des Matthey nicht mehr rechnen.

    Mit Verfügung vom 4. März 1969 wies die Ausgleichskasse das
Gesuch um Rentenerhöhung unter Hinweis auf folgende Feststellungen der
Invalidenversicherungs-Kommission zur Zeit ab:

    "Wie die Abklärung ergab, handelt es sich bei Ihrem Leiden um ein
labiles Krankheitsgeschehen. Für die Erhöhung der halben Rente auf eine
ganze muss daher die Frist von 360 Tagen seit 12. Nov. 1968 abgewartet
werden.

    Sollte nach Ablauf dieses Termines weiterhin eine Arbeitsunfähigkeit
von mindestens 2/3 bestehen, können Sie erneut an die IV-Kommission
gelangen, es sei denn, Sie erbrächten den Nachweis, dass Sie schon vor
dem 12. Nov. 1968 zu mindestens 2/3 arbeitsunfähig waren. In diesem Falle
würde die IV-Kommission die Anspruchsberechtigung erneut überprüfen."

    B.- Beschwerdeweise machte Matthey geltend, seine Arbeitsleistung
habe schon lange vor dem 12. November 1968 nicht mehr derjenigen eines
gesunden Arbeiters bei halbtagsweiser Beschäftigung entsprochen, insofern
habe ihm seine Arbeitgeberin teilweise Soziallohn ausgerichtet; rechne man
ferner hinzu, dass er wegen einer im Jahre 1955 erlittenen Handverletzung
eine Rente der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) wegen
einer Invalidität von 15% beziehe, so werde klar, dass er den in der
angefochtenen Verfügung verlangten Invaliditätsgrad längst erreicht habe.

    Nach Einholung eines Berichtes des Arbeitgebers des Beschwerdeführers
kam die kantonale Rekurskommission zum Schluss, dass dieser zwar vor
Eintritt der vollen Arbeitsunfähigkeit möglicherweise etwas mehr als
zur Hälfte erwerbsunfähig war, jedoch keineswegs zu zwei Dritteln. Mit
Entscheid vom 4. Juli 1969 wies sie deshalb die Beschwerde ab.

    C.- Mit rechtzeitiger Beschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht
macht Matthey bzw. in seinem Namen die Rechtsschutzabteilung des
Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbandes geltend, er könne mit
einer Besserung seines Gesundheitszustandes nicht rechnen, weshalb ihm
die volle Rente sofort auszurichten sei. Verwiesen wird auf einen Bericht
des behandelnden Arztes, worin die bereits am 12. Januar 1969 gemeldeten
Feststellungen etwas ausführlicher dargestellt werden. Zusätzlich
wird geltend gemacht, dass Matthey wegen der seit 1955 bestehenden
Teilinvalidität seinen früheren Vertrauensposten als Zuschneider nicht
mehr habe ausfüllen können und deshalb beruflich in sehr empfindlicher
Weise zurückgefallen sei, indem er von da an nur noch als Bankschreiner
tätig war. Zu Unrecht habe demnach die kantonale Rekurskommission diese
von der SUVA auf 15% geschätzte Einbusse bei ihrer Invaliditätsschätzung
nicht berücksichtigt.

    Die Ausgleichskasse enthält sich eines Antrages.

    In seinem Mitbericht beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung
Zusprechung der ganzen Rente ab 1. März 1969. Im Laufe des Monats März
sei nämlich der Tag erreicht worden, an welchem für die zurückliegenden
360 Tage die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit zwei Drittel betrug.

    Unter Hinweis auf diesen Mitbericht teilt die Rechtsschutzabteilung des
Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbandes mit, der Beschwerdeführer
wäre bereit, auf eine volle Rente vor dem 1. März 1969 zu verzichten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ändert sich der Grad der Invalidität des Rentenbezügers in einer
für den Anspruch erheblichen Weise, so ist gemäss Art. 41 IVG die Rente
für die Zukunft entsprechend zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben.
Im vorliegenden Fall ist insbesondere die Frage nach dem Zeitpunkt zu
klären, ab welchem der Beschwerdeführer gestützt auf diese Bestimmung
einen Anspruch auf Umwandlung seiner halben in eine ganze Rente haben
könnte. Nach der vor dem 1. Januar 1968 (dem Zeitpunkt des Inkrafttretens
der revidierten Bestimmungen des IVG) ergangenen Rechtsprechung war für
die Beurteilung dieser Frage alt Art. 29 Abs. 1 IVG sinngemäss anwendbar
(vgl. EVGE 1965 S. 270 und 278; 1966 S. 49 und 128).

    Art. 29 Abs. 1 IVG regelt sowohl nach seiner ursprünglichen wie
auch in der Fassung der Novelle von 1968 den Beginn des Rentenanspruches
verschieden, je nach dem ob ein stabiler, im wesentlichen irreversibler
(Variante 1) oder aber ein labiler, d.h. zu Verbesserung oder
Verschlechterung neigender (Variante 2) Gesundheitsschaden vorliegt. Bei
labilen Gesundheitsverhältnissen entsteht der Rentenanspruch erst nach
Ablauf einer gewissen Wartezeit, nämlich - nach der neuen Fassung -
"sobald der Versicherte ... während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch
durchschnittlich zur Hälfte arbeitsunfähig war und weiterhin mindestens zur
Hälfte erwerbsunfähig ist...". Nach den von der Rechtsprechung durch die
Varianten 3a und b vorgenommenen Ergänzungen der - im Bereiche der Variante
2 lückenhaften - alten Regelung, welche nach der oben erwähnten Judikatur
für die Belange der Rentenrevision bei labilen Gesundheitsverhältnissen
vornehmlich sinngemäss zur Anwendung gelangten, wurden die Wartezeiten
(von 540 bzw. 450 Tagen) von Anfang an absichtlich auf einen bestimmten
minimalen Grad durchschnittlicher Erwerbsfähigkeit bezogen (vgl. EVGE 1965
S. 185 und 192). Damit war das ökonomische Element der soeben erwähnten
Varianten begrifflich identisch mit dem des Art. 41 IVG (Änderung des
Grades der Erwerbsfähigkeit; vgl. auch Art. 4 Abs. 1 IVG).

    Die Novelle von 1968 hat zwar die Grundgedanken dieser Rechtsprechung
übernommen, die Wartezeiten aber auf die Arbeitsunfähigkeit bezogen
(welcher Begriff grundsätzlich die Frage nach dem Leistungsvermögen im
bisherigen Beruf bezeichnet, während die Erwerbsunfähigkeit der Differenz
zwischen dem entspricht, was der Versicherte in seinem angestammten Beruf
ohne den erlittenen Gesundheitsschaden erarbeiten könnte, und dem, was er,
mit diesem Gesundheitsschaden behaftet, auf dem Arbeitsmarkt noch verdienen
kann: Art. 28 Abs. 2 IVG). Es stellt sich demnach die Frage, ob die Art. 29
Abs. 1 für die Belange der Rentenrevision sinngemäss anwendbar erklärende
Rechtsprechung in den Fällen labiler Gesundheitsschädigung auch unter der
neuen Ordnung aufrechterhalten werden kann. Diese Frage ist jedenfalls dann
zu bejahen, wenn bei der Rentenrevision Verhältnisse zu beurteilen sind,
in denen der wenigstens teilweise Arbeitsfähige bereits ins Erwerbsleben
eingegliedert ist, so dass die ihm verbleibende Erwerbskapazität im
aktuellen Beschäftigungskreis praktisch als kaum von seiner restlichen
Erwerbsfähigkeit überhaupt unterscheidbar erscheint. Demnach kann in
derartigen Revisionsfällen - unter Vorbehalt begründeter Ausnahmen -
die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit gemäss der neuen Variante 2 der
Erwerbsunfähigkeit gleichgesetzt werden, zumal auch hier (wie bei der
erstmaligen Rentenfestsetzung) die prognostische Wertung des weiterhin
zu erwartenden Invaliditätsgrades wesentlich mitbestimmend sein muss,
hat doch die Revision "für die Zukunft" zu erfolgen.

Erwägung 2

    2.- In den Rechtsschriften dieses Falles, in den administrativen
Weisungen des Bundesamtes für Sozialversicherung betreffend die Anwendung
von Art. 29 Abs. 1 IVG (vgl. Nachtrag zur Wegleitung über die Renten
vom 1. Januar 1968, Rz. 167) und in der Botschaft des Bundesrates
vom 27. Februar 1967 zum revidierten IVG (S. 30) werden die 360 Tage
mindestens hälftiger Invalidität im Sinne der Variante 2 dieser Norm
als eine Frist bezeichnet, die von einem bestimmten Tag an zu laufen
beginne. Unter Frist versteht die Rechtssprache jedoch einen Zeitraum,
der im Regelfall von einem bestimmten Anfangstag an kalendermässig genau
abgegrenzt werden kann: der Tag des Fristablaufes ist grundsätzlich
zum voraus bestimmbar. Das trifft auf den Zeitraum, den die Variante
2 des Art. 29 Abs. 1 IVG normiert, nicht zu: Hier handelt es sich
vielmehr um einen Zeitraum, innert welchem sich ein wesentlicher Teil
des rentenbegründenden Sachverhalts realisiert haben muss, nämlich eine
durchschnittlich mindestens hälftige Arbeitsunfähigkeit innerhalb von 360
Tagen ohne wesentlichen Unterbruch. Wann diese qualifizierte Wartezeit
erfüllt ist, lässt sich grundsätzlich nur retrospektiv feststellen. Es
dürfte kaum je sinnvoll sein, die verlangte Durchschnittsberechnung
prognostisch durchführen zu wollen, ganz abgesehen davon, dass für den
Rentenanspruch gemäss der zweiten Variante auch bedeutsam ist, ob nach
Ablauf der Wartezeit, sofern alsdann nicht Eingliederungsmassnahmen
bevorstehen, weiterhin mindestens eine hälftige Erwerbsunfähigkeit besteht.

Erwägung 3

    3.- Lässt sich somit die Frage, ob, wann und inwiefern der Versicherte
die zweite Variante des Art. 29 Abs. 1 IVG erfüllt, grundsätzlich nur a
posteriori beantworten, so fragt es sich, ob das Gesetz es gestattet,
aus der zu diesem Zweck notwendigen, rückblickenden Betrachtung der
erlittenen Arbeitsunfähigkeit diejenigen Perioden auszuschalten,
während welchen der nicht "bleibend" Invalide eine Rente bezog. Das
ist in dem (hier gegebenen) Regelfall zu verneinen, wo die Natur des
invalidierenden Komplexes keine wesentliche Änderung erfahren hat: Eine
derartige Einschränkung ist mit der in Art. 29 Abs. 1 IVG vorgesehenen
Durchschnittsberechnung unvereinbar. Und dass eine Rente läuft, ist
für die sinngemässe Anwendung des Art. 29 Abs. 1 im Revisionsverfahren
nach Art. 41 IVG ohne Belang. Ein Vorbehalt ist - von den hier nicht zu
erörternden möglichen Implikationen interkurrenter Eingliederungsperioden
mit Taggeldanspruch abgesehen (EVGE 1968 S. 213) - lediglich anzubringen
für den Fall, dass sich während des Rentenlaufs der Invaliditätsgrad aus
einem neuen, mit dem früheren nicht zusammenhängenden Gesundheitsschaden
erhöht (vgl. die letztinstanzliche Stellungnahme in EVGE 1969 S. 172).

    Ob "die Frist ... erst bei der Verschlechterung des
Gesundheitszustandes zu laufen (beginnt), wenn der Versicherte nicht
bereits eine halbe Rente auf Grund langjähriger Krankheit bezogen hat",
wie im Mitbericht ausgeführt wird, erscheint dort, wo die soeben erwähnte
besondere Situation nicht gegeben ist, als fraglich, kann aber - weil
den hier gegebenen Sachverhalt nicht betreffend - offen bleiben.

Erwägung 4

    4.- Es ergibt sich somit, dass das Gesetz es nicht erlaubt, dem
Versicherten die Rentenerhöhung für volle 360 Tage vom Eintritt der
gänzlichen Erwerbsunfähigkeit an zu verweigern, wie Verwaltung und
Vorinstanz es verfügten.

    Umgekehrt ist es auch nicht möglich, die Frage, ob dem Versicherten
schon ab 1. März 1969 eine ganze Rente zustehen könnte, heute definitiv
zu entscheiden, wie das Bundesamt für Sozialversicherung namentlich
"unter der Annahme des Fortbestandes der vollen Arbeitsunfähigkeit bis
zu jenem Zeitpunkt" beantragt. Ob nämlich diese Annahme richtig sei,
lässt sich auf Grund der vorliegenden Akten nicht sagen: Es liegen
medizinische Berichte eines einzigen Arztes vor, der sich zuletzt am
12. Januar 1969 dahin geäussert hat, er "glaube", es sei mit einer
verwertbaren Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht mehr zu
rechnen. Das rechtfertigt angesichts der zum Teil recht unbestimmten
Befunde nicht ohne weiteres die Annahme, der 61jährige Versicherte sei
wirklich zu keiner erheblichen Erwerbstätigkeit mehr fähig. Jedenfalls
scheint eine medizinische Überprüfung der Verhältnisse unter Einbezug
der seit Januar 1969 verflossenen Zeit angezeigt, ehe eine definitive
Invalidität von mehr als zwei Dritteln angenommen wird.

    Was sodann die ökonomische Seite der Invaliditätsschätzung anbetrifft,
so muss die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe vor dem im Jahre 1955
erlittenen Unfall als Zuschneider in einer Vertrauensstellung gearbeitet,
überprüft und gegebenenfalls der mit einer solchen Tätigkeit erzielbare
Lohn berücksichtigt werden.

Erwägung 5

    5.- Wegen des grundsätzlichen Gehaltes der hier behandelten
Rechtsfragen ist der Fall im Sinne von Art. 6 lit. a des Reglementes
für das Eidg. Versicherungsgericht vom 1. Oktober 1969 dem Gesamtgericht
unterbreitet worden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die Beschwerde
wird insoweit gutgeheissen, als die Verfügung vom 4. März 1969 und der
kantonale Entscheid vom 4. Juli 1969 aufgehoben werden, unter Rückweisung
der Sache an die Invalidenversicherungs-Kommission, damit sie im Sinne
der Erwägungen verfahre.