Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 1



96 V 1

1. Urteil vom 23. März 1970 i.S. Wey gegen Schweizerische Kranken- und
Unfallkasse Konkordia und Versicherungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 3 Abs. 3 und Art. 5 Abs. 3 KUVG: Sanktionen.

    Voraussetzungen und Mass (Grundsatz der Verhältnismässigkeit).

Sachverhalt

    A.- Hermann Wey trat mit Wirkung ab 1. September 1968 dem von der
Arbeitgeberin (Firma M.) mit der Schweizerischen Kranken- und Unfallkasse
Konkordia abgeschlossenen Kollektivversicherungsvertrag bei. Auf dem von
der Krankenkasse zur Verfügung gestellten Formular "Beitrittserklärung"
hatte er die Frage nach früheren Krankheiten und Unfällen mit "Blinddarm,
Kieferwinkeloperation 1967" beantwortet und verneint, dass frühere
Krankheiten und Unfälle Folgen hinterlassen hätten; er bezeichnete sich
als vollständig gesund und arbeitsfähig. Am 20. Januar 1969 musste
sich Hermann Wey wegen eines Vorderwandinfarktes in ärztliche Behandlung
begeben. Aus einem von der Krankenkasse eingeholten Anamnesenbericht von
Dr. V. vom 15. März 1969 geht hervor, dass der Versicherte vom 13. Juni
bis September 1967 bzw. 4. November 1967 wegen anginöser Herzbeschwerden,
Hypertonie und leichter Linksinsuffizienz (im Elektrokardiogramm normaler
Erregungsablauf, Herz röntgenologisch nicht vergrössert) in Behandlung
gestanden hatte. Der Arzt fügte bei, dass er den Versicherten im April
und Mai 1968 nochmals kontrolliert habe ("er war kardial ohne Medikation
kompensiert geblieben und der BD im Normbereich").

    Gestützt auf diesen Bericht verfügte die Krankenkasse am 8. April 1969
rückwirkend auf 1. September 1968 den Ausschluss, weil der Versicherte
in der Beitrittserklärung über Krankheiten und Arztbehandlungen keine
vollständigen und wahrheitsgetreuen Angaben gemacht hatte.

    B.- Hermann Wey erhob beim Versicherungsgericht des Kantons Luzern
Beschwerde. Er machte geltend, die Beitrittserklärung "nach bestem Wissen
und Gewissen" ausgefüllt zu haben. Selbstverständlich stimme es, dass er
im April und Mai 1968 in ärztlicher Behandlung gestanden sei, aber sein
Arzt habe nicht erwähnt, dass er auf irgendeine Art ernstlich krank wäre.

    Dr. V. erklärte, er habe den Patienten über die Befunde - erhöhter
Blutdruck, leichte Herzinsuffizienz, reaktive Depression - orientiert;
soweit er sich zu erinnern vermöge, habe er beigefügt, "dass es sich
nicht um ein schweres Leiden handle; es sei eine nervöse Störung und der
erhöhte Blutdruck sei für die Herzbeschwerden verantwortlich und müsse
in erster Linie behandelt werden".

    Das Versicherungsgericht des Kantons Luzern wies mit Entscheid vom 26.
September 1969 die Beschwerde ab. Der Ausschluss aus der Kasse sei zu
Recht erfolgt, weil Hermann Wey "gegen Treu und Glauben" seine Beschwerden
verheimlicht habe.

    C.- Hermann Wey hat beim Eidg. Versicherungsgericht Beschwerde
eingelegt. Er beruft sich darauf, dass ihm der Arzt nicht gesagt habe,
er sei ernsthaft krank; ein Herzinfarkt sei erst am 20. Januar 1969
festgestellt worden.

    Während die Krankenkasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst,
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung in seinem Mitbericht
Aufhebung der angefochtenen Ausschlussverfügung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mit der Beschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht kann
nach Art. 30ter Abs. 2 KUVG nur geltend gemacht werden, das kantonale
Versicherungsgericht habe Bundesrecht verletzt oder den Sachverhalt
willkürlich festgestellt oder gewürdigt. Bundesrecht ist u.a. verletzt,
wenn der kantonale Richter kasseneigene Bestimmungen, die sich im Rahmen
des KUVG und übergeordneter Rechtsgrundsätze halten, auf einen gegebenen
Sachverhalt nicht richtig angewendet hat (vgl. dazu EVGE 1968 S. 238 oben).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 10 Ziff. 2 lit. b der Statuten hat der
Aufnahmebewerber die Fragen auf dem von der Kasse zur Verfügung gestellten
Formular "wahrheitsgetreu und vollständig zu beantworten und dabei Auskunft
zu geben über durchgemachte oder zur Zeit bestehende Krankheiten und
Gebrechen sowie erlittene Unfälle". Wer diese Anzeigepflicht verletzt,
kann aus der Kasse ausgeschlossen werden (Art. 31 Ziff. 1 lit. b der
Statuten). In solchen Fällen werden auch keine Versicherungsleistungen
gewährt (Art. 79 Ziff. 1 lit. d der Statuten).

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in seinem nicht
publizierten Urteil vom 29. Dezember 1967 i.S. Repond entschieden,
dass die statutarische Vorschrift einer als Genossenschaft auftretenden
Krankenkasse, wonach ein Mitglied bei Verletzung der Anzeigepflicht aus der
Kasse ausgeschlossen werden kann, grundsätzlich nicht bundesrechtswidrig
ist. Es besteht kein Anlass, bei einer Krankenkasse, welche wie die
Schweizerische Kranken- und Unfallkasse Konkordia die Form eines Vereins
hat, anders zu entscheiden, ist doch Art. 72 ZGB in dieser Beziehung
noch weniger restriktiv als Art. 846 OR (nicht publiziertes Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts vom 1. Oktober 1969 i.S. Pagliochini).
Vorzubehalten ist für den Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismässigkeit
(vgl. EVGE 1968 S. 160). In diesem zuletzt erwähnten Entscheid hat das
Eidg. Versicherungsgericht zudem gefordert, dass schwere Sanktionen erst
nach fruchtloser schriftlicher Mahnung verhängt werden.

    c) Bei Verstössen gegen die Statuten, die der Aufnahmebewerber bereits
mit dem Ausfüllen der Beitrittserklärung begehen kann - es wird sich dabei
in der Regel um Verletzungen der Anzeigepflicht handeln, die mit schweren
Sanktionen geahndet werden können -, ist eine Mahnung im erwähnten Sinn
nicht möglich. Dennoch ist auch in diesen Fällen dem Gedanken der Mahnung
Rechnung zu tragen.

    Wohl anerkennt der Bewerber mit seiner Unterschrift auf der
Beitrittserklärung in der Regel auch die Statuten, Reglemente und
Bestimmungen der Kasse. Es darf aber nicht übersehen werden, dass er beim
Ausfüllen des Formulars nicht immer im Besitze der erwähnten Unterlagen ist
und dass er diese, wenn sie ihm übergeben worden sind, erfahrungsgemäss
nicht sehr gründlich liest. Es muss daher gefordert werden, dass der
Aufnahmebewerber bereits auf dem Beitrittsformular an einer gut sichtbaren
Stelle mit einem ausdrücklichen, von den andern Bestimmungen deutlich
abgehobenen Hinweis auf die im Falle einer Anzeigepflichtverletzung
möglichen schwersten Sanktionen, den Ausschluss aus der Kasse und den
Entzug der Leistungen, aufmerksam gemacht wird. Vorbehalten bleiben
Ausnahmefälle, in denen das zu beanstandende Verhalten eines Versicherten
bzw. Aufnahmebewerbers so schwerwiegend wäre, dass nach dem Grundsatz
von Treu und Glauben die Sanktionen auch ohne Einhaltung der genannten
Voraussetzungen als angemessen erschienen.

Erwägung 3

    3.- Schuldhaft verletzt der Aufnahmebewerber die Anzeigepflicht
namentlich, wenn er trotz Befragung bestehende oder vorbestandene
gesundheitliche Störungen verschweigt, denen er bei der ihm zumutbaren
Sorgfalt Krankheitscharakter beimessen musste. Der Grad seines Verschuldens
hängt nicht zuletzt davon ab, wie eingehend das einschlägige, von ihm
beantwortete Formular nach Krankheiten forschte. Dem Verschweigen von
Beschwerden ist ein grösseres Gewicht beizumessen, wenn der Fragebogen
eingehend und konkret gehalten ist, als wenn er bloss summarisch und
abstrakt zur Auskunft über den Gesundheitszustand auffordert (EVGE 1967
S. 129).

Erwägung 4

    4.- a) Dem Beschwerdeführer wird in der Ausschlussverfügung
vorgeworfen, er habe am 16. August 1968 bei der Beantwortung der auf
der Beitrittserklärung gestellten Frage 7a nach früheren Krankheiten und
Unfällen ("welche, Datum und Dauer derselben") die Tatsache verschwiegen,
dass er von Juni bis September bzw. 4. November 1967 wegen Hypertonie und
leichter Linksinsuffizienz in ärztlicher Behandlung gestanden und sich
im April und Mai 1968 wegen der gleichen Leiden Kontrollen unterzogen habe.

    Zweifellos hat er dadurch die Anzeigepflicht schuldhaft verletzt. Wenn
er sich schon an die Blinddarmoperation - es steht nicht fest, ob
diese auch 1967 stattgefunden hat - und an die Kieferwinkeloperation
zu erinnern vermochte, hätte er um so eher auch die nur wenige Monate
vor dem Eintritt in die Krankenkasse erfolgten ärztlichen Behandlungen
und Kontrollen erwähnen müssen. Die Verletzung der Anzeigepflicht wiegt
allerdings nicht besonders schwer: Der Beschwerdeführer durfte auf Grund
der ärztlichen Auskünfte (nervöse Störungen, erhöhter Blutdruck) annehmen,
dass es sich nicht um schwere Leiden handelte. Demgegenüber mochten
dem medizinischen Laien die durchgemachten Operationen, die er angab,
als viel bedeutsamer erscheinen. Dazu kommt, dass sich der 1908 geborene
Beschwerdeführer im Zuge des Kollektivvertrages durch seine Arbeitgeberin
versichern liess, und nicht etwa aus eigenem Antrieb wegen bevorstehender
Altersbeschwerden. Es fragt sich daher, ob der sanktionsweise verfügte
Ausschluss des Versicherten aus der Kassenmitgliedschaft mit dem Grundsatz
der Verhältnismässigkeit vereinbar sei.

    b) Nach diesem Prinzip muss die Sanktion in einem vernünftigen
Verhältnis zu dem von der Kasse verfolgten Zweck und zum Verschulden des
Versicherten stehen (vgl. dazu EVGE 1968 S. 164). Dieses Verhältnis wird
im vorliegenden Fall durch den Ausschluss des Beschwerdeführers aus der
Krankenkasse gestört, denn sein Verschulden wiegt, wie erwähnt, nicht
besonders schwer. Zudem wäre aus den in Erwägung 2 c dargelegten Gründen
ein Hinweis auf die über einen nachträglichen Vorbehalt hinausgehenden
schwereren Sanktionen notwendig gewesen. Endlich ist ein Ausschluss
schon deshalb kaum gerechtfertigt, weil die Beschwerdebeklagte in dem
vom Eidg. Versicherungsgericht am 4. April 1970 beurteilten Fall i.S.
Cambiaggio (s. nachstehendes Urteil) bei wesentlich schwererem Verschulden
des Versicherten nur einen nachträglichen Vorbehalt angebracht hat. Somit
müssen die Ausschlussverfügung und das Urteil der Vorinstanz aufgehoben
werden.

    c) Es kann sich einzig fragen, ob nicht eine mildere, den Verhältnissen
besser angepasste Sanktion (nach dem Gesagten käme als schwerste Sanktion
nur ein nachträglicher Vorbehalt in Frage) zulässig wäre. Das ist nicht
von vorneherein auszuschliessen. Die Kasse wird darüber innert 30 Tagen
seit der Zustellung dieses Urteils neu verfügen können. Beim allfälligen
Erlass einer neuen beschwerdefähigen Verfügung über eine mildere Sanktion
ist ausser den bisherigen Darlegungen noch folgendes zu berücksichtigen.

    d) In den Akten findet sich kein Nachweis, dass die Beschwerdebeklagte
abgeklärt hätte, ob Hermann Wey nicht schon früher Mitglied einer
Krankenkasse gewesen ist (auf dem Beitrittsformular wird nur die Frage
gestellt, ob der Bewerber schon bei der Schweizerischen Kranken- und
Unfallkasse Konkordia versichert sei). Träfe dies zu, müsste untersucht
werden, ob er nicht als Züger gemäss Art. 7 Abs. 2 KUVG zu behandeln
sei. Der deutsche Wortlaut dieser Bestimmung spricht allerdings von
"einem in einen Betrieb eintretenden Versicherten", der französische Text
dagegen von "assuré engagé dans une entreprise" und der italienische
von "assicurato, assunto al servizio di un'impresa". Dem französischen
und italienischen Wortlaut ist der Vorzug zu geben; denn es ist nicht
einzusehen, warum der in einem Betrieb beschäftigte Versicherte schlechter
gestellt werden sollte als der eintretende.

    e) Sollte die Beschwerdebeklagte einen nachträglichen Vorbehalt nach
Art. 5 Abs. 3 KUVG anbringen, hätte sie zu berücksichtigen, dass bei
Leiden, für welche ein Versicherungsvorbehalt besteht, das versicherte
Taggeld gleichwohl ausgerichtet wird für jene Zeitdauer, für welche der
Arbeitgeber gemäss Art. 335 OR zur Lohnzahlung verpflichtet gewesen wäre
(vgl. die besonderen Bestimmungen des Kollektivvertrages zwischen der
Firma M. und der Schweizerischen Kranken- und Unfallkasse Konkordia).

Erwägung 5

    5.- Bei diesem Sachverhalt braucht nicht untersucht zu werden, ob die
Zentralverwaltung der Schweizerischen Kranken- und Unfallkasse Konkordia
zuständig war, den Ausschluss des Versicherten aus der Kasse zu verfügen
(Art. 31 Ziff. 1; 92 Ziff. 2; 94 Ziff. 12; 103 Ziff. 1 der Statuten;
vgl. dazu auch das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 30. Januar
1970 i.S. Gardian [BGE 96 V 13]).

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. In Gutheissung
der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichtes des
Kantons Luzern vom 26. September 1969 und die Ausschlussverfügung der
Schweizerischen Kranken- und Unfallkasse Konkordia vom 8. April 1969
aufgehoben.

    II.  . Die Akten werden an die Schweizerische Kranken- und Unfallkasse
Konkordia zurückgewiesen zwecks Erlass einer neuen beschwerdefähigen
Verfügung innert 30 Tagen im Sinne der Erwägungen.