Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 598



96 I 598

91. Auszug aus dem Urteil vom 18. November 1970 i.S. Lauener gegen
Cadosch und Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde. Art. 88 OG.

    Der durch eine strafbare Handlung Geschädigte kann mit der
staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Einstellung der Strafuntersuchung
geltend machen, die ihm durch das kantonale Recht eingeräumten Parteirechte
seien verletzt worden, nicht dagegen, die Einstellungsverfügung beruhe
auf willkürlicher Beweiswürdigung oder Rechtsanwendung (Bestätigung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Am 14. Oktober 1969 kam es auf der Kantonsstrasse Tiefenkastel-Lenz
zwischen einem Motorroller und einem Personenautomobil zu einem
Zusammenstoss, bei dem der Rollerfahrer Marcel Lauener so schwer verletzt
wurde, dass er nach einigen Tagen starb. Das Untersuchungsrichteramt
Chur führte eine Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung gegen Erwin
Cadosch, den Führer des Automobils, stellte sie aber mit Genehmigung
das Staatsanwalts am 24. Juli 1970 ein, da dem Angeschuldigten keine
Verletzung von Verkehrsvorschriften nachgewiesen werden könne.

    B.- Gegen diese Einstellungsverfügung hat Georges-André Lauener,
der Vater des Verunfallten, staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
des Art. 4 BV erhoben. Er ist der Auffassung, der durch eine strafbare
Handlung Geschädigte habe ein schutzwürdiges Interesse am Ausgang
des Strafverfahrens und sei daher entgegen der bisherigen Praxis des
Bundesgerichts legitimiert, mit der staatsrechtlichen Beschwerde nicht
nur Verfahrensmängel zu rügen, sondern die Einstellungsverfügung auch
inbezug auf ihren Inhalt anzufechten. Er rügt

    a) als formelle Rechtsverweigerung, dass ihm vor Erlass der
Einstellungsverfügung nicht der Schluss der Untersuchung mitgeteilt und
Gelegenheit zur Akteneinsicht sowie zu Beweisanträgen gegeben worden
sei, und

    b) als Willkür, dass die Einstellungsverfügung auf einer unhaltbaren
Beweiswürdigung und Rechtsanwendung beruhe.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer ist, als Vater und Erbe des tödlich
Verunfallten, durch die angeblich strafbare Handlung des Beschwerdegegners
geschädigt. Es fragt sich, inwieweit er legitimiert ist, gegen die
Einstellung der Strafuntersuchung staatsrechtliche Beschwerde zu erheben.

    a) Das Bundesgericht ist während Jahrzehnten auf staatsrechtliche
Beschwerden, die der Geschädigte gegen die Einstellung des Strafverfahrens
oder gegen ein freisprechendes Urteil erhoben hat, eingetreten. Im Jahre
1943 änderte es seine Rechtsprechung und sprach seither dem Geschädigten
die Legitimation zu solchen Beschwerden ab ohne Rücksicht auf die Stellung,
die ihm das kantonale Recht im Strafverfahren einräumte. Nachdem es in BGE
94 I 554 E. 1 die Frage einer Änderung dieser Rechtsprechung aufgeworfen,
aber offen gelassen hatte, hat es in späteren unveröffentlichten Urteilen
die Legitimation des Geschädigten mit den in Erw. 2 jenes Urteils
gemachten Ausnahmen weiterhin verneint. An dieser Rechtsprechung ist
festzuhalten.

    Sozusagen alle kantonalen Strafprozessordnungen räumen zwar dem
Geschädigten neben dem Recht, sich zur Wahrung seiner privatrechtlichen
Ansprüche am Strafverfahren zu beteiligen, Befugnisse ein, die auch,
ja in erster Linie der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses
dienen. Trotz diesen Befugnissen, die PFENNINGER (Der Verletzte
im schweiz. Strafverfahren, SJZ 1960 S. 185) im einzelnen aufzählt
und unter der Bezeichnung "Recht zur Kontrolle der Strafuntersuchung"
zusammenfasst, wird jedoch in der Rechtslehre überwiegend angenommen, dass
das private Verfolgungsbedürfnis des Geschädigten rechtlich unerheblich
sei (BAUMANN, Die Stellung des Geschädigten im schweiz. Strafprozess,
Diss. Zürich 1958 S. 33 und die dort in Anm. 7 zitierte Literatur). Dem
ist beizupflichten. Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht,
steht ausschliesslich dem Staate zu. Das Interesse des Geschädigten, im
Hinblick auf das ihm die Kantone einen mehr oder weniger weitgehenden
Einfluss auf den Gang des Strafverfahrens einräumen, erscheint als
ein bloss mittelbares. Die Durchführung des Strafverfahrens bis zur
gerichtlichen Beurteilung erleichtert ihm vor allem die Verfolgung seiner
privatrechtlichen Ansprüche, indem er entweder diese im Strafverfahren
adhäsionsweise geltend machen oder aber sich in einem selbständigen
Zivilprozess auf das Beweisergebnis der Strafuntersuchung berufen kann. Bei
diesem Interesse des Geschädigten an der Erleichterung der Verfolgung
seiner zivilrechtlichen Ansprüche wie auch bei seinem Interesse an einer
gerechten Bestrafung des Täters handelt es sich um bloss tatsächliche
Interessen, nicht um rechtlich erhebliche Interessen oder "Rechte",
zu deren Wahrung die staatsrechtliche Beschwerde allein offen steht
(Art. 88 OG, BGE 91 I 413 E. 3 mit Hinweis auf frühere Urteile). Solche
Rechte sind lediglich diejenigen, die das kantonale Recht dem Geschädigten
wegen seiner Stellung als am Verfahren beteiligte Partei einräumt und
deren Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleich oder nahe
kommt (BGE 94 I 554 E. 2). Würde die Legitimation des Geschädigten zur
staatsrechtlichen Beschwerde erweitert, so hätte dies die sachlich nicht
zu rechtfertigende Folge, dass der Geschädigte Einstellungsbeschlüsse und
freisprechende Urteile, gegenüber denen ihm die zu freier rechtlicher
Überprüfung führende Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof nach
Art. 273 BStP nicht zusteht, beim Bundesgericht mit staatsrechtlicher
Beschwerde wegen willkürlicher Anwendung des Bundesrechts anfechten könnte
(BGE 69 I 19).

    Soweit mit der vorliegenden Beschwerde geltend gemacht wird, der
angefochtene Einstellungsbeschluss beruhe auf willkürlicher Beweiswürdigung
und Rechtsanwendung, ist daher auf sie nicht einzutreten. Zu prüfen ist
nur die Rüge der formellen Rechtsverweigerung.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer behauptet, der angefochtene Entscheid
missachte sowohl seinen unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Anspruch auf
rechtliches Gehör als auch Art. 97 Abs. 3 sowie Art. 129 bünd. StPO.

    a) Weshalb der unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Gehörsanspruch
verletzt sein soll, wird in der Beschwerde nicht darzutun versucht und ist
auch nicht ersichtlich. Im Strafprozess, in dem es um den staatlichen
Strafanspruch geht, hat der private Geschädigte nicht unmittelbar
aufgrund des Art. 4 BV das Recht, die Strafuntersuchung zu kontrollieren
und zu beeinflussen. Ein Anspruch, sich am Strafverfahren zu beteiligen,
steht ihm nur zu nach Massgabe des kantonalen Rechts, dessen Auslegung und
Anwendung das Bundesgericht lediglich unter dem beschränkten Gesichtswinkel
der Willkür überprüft.

    b) (Ausführungen darüber, dass die Strafuntersuchung nach Art. 82 StPO
eingestellt worden ist und, wie ohne jede Willkür angenommen werden kann,
Art. 97 Abs. 2 und Art. 129 Abs. 1 StPO nicht anwendbar waren).