Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 525



96 I 525

81. Urteil vom 18. November 1970 i.S. X. gegen Kantonsgericht St. Gallen.
Regeste

    Gerichtspolizei im Strafprozess. Art. 4 BV.

    Grundlagen und Tragweite des Rechts des Angeschuldigten und seines
Anwalts, Mängel der Strafuntersuchung vor dem Strafrichter zu rügen
(Erw. 2).

    Wann sind die Grenzen zulässiger Kritik überschritten und darf
der Anwalt wegen "unanständigen Benehmens" gegenüber den Behörden der
Strafrechtspflege und gegenüber einem Experten mit einer Ordnungsbusse
bestraft werden? (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Rechtsanwalt X. in St. Gallen hatte den wegen verschiedener
Vermögensdelikte angeklagten A. zu verteidigen, der sich im Jahre 1965 etwa
3 Monate in Untersuchungshaft befunden und zunächst Rechtsanwalt Y. mit
seiner Verteidigung beauftragt hatte. Auf dessen Antrag wurde im Frühjahr
1967 eine psychiatrische Begutachtung durchgeführt durch Dr. N. Nachdem
A. der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen überwiesen worden
war, übertrug er seine Verteidigung dem X. Dieser reichte am 12. März
1969 eine 68 Seiten umfassende Eingabe ein, in welcher er u.a. das
Untersuchungsverfahren und das psychiatrische Gutachten scharf kritisierte.

    In der Hauptverhandlung vom 10./11. Juni 1970 beantragte der
Staatsanwalt Verurteilung des Angeklagten zu 3 Jahren Zuchthaus, während
der Verteidiger Freisprechung von sämtlichen Anklagepunkten verlangte. Das
Kantonsgericht sprach ihn von zwei Anklagen frei und verurteilte ihn zu
18 Monaten Zuchthaus sowie Fr. 500.-- Busse. Ferner auferlegte es dem
Verteidiger in Anwendung von Art. 194 Ziff. 4 ZPO eine Ordnungsbusse von
Fr. 200.-- "wegen unanständigen Benehmens gegenüber dem Gerichtsexperten
sowie Beamten und Behördemitgliedern der Strafrechtspflege" (Disp. Ziff. 10
Abs. 1). Dieser Vorwurf bezieht sich auf Äusserungen des Verteidigers in
dessen Eingabe vom 12. März 1969.

    B.- Gegen diese Bussenverfügung hat X. staatsrechtliche Beschwerde
erhoben. Er macht Verletzung von Art. 4 BV (Willkür) geltend und führt zur
Begründung dieser Rüge aus, dass und weshalb seine ihm im angefochtenen
Entscheid zum Vorwurf gemachten Äusserungen nicht leichtfertig gemacht
worden seien und ihre Beurteilung durch das Kantonsgericht nicht nur auf
einer Verkennung der Aufgaben und Pflichten des Anwaltes und insbesondere
des Strafverteidigers beruhe, sondern auch mit den Rechten des Angeklagten
im Strafverfahren unvereinbar sei. Die nähere Begründung der Beschwerde
ergibt sich, soweit notwendig, aus den nachstehenden Erwägungen.

    C.- Die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen hat dem
Bundesgericht mitgeteilt, dass sie unter Hinweis auf die Akten und
ihr Urteil und unter Bestreitung der tatsächlichen Vorbringen des
Beschwerdeführers (soweit sie sich nicht mit den Akten decken) von einer
Vernehmlassung Umgang nehme.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, Art. 194 Abs. 2
Ziff. 4 ZPO oder die Anwendung dieser Bestimmung verstiessen gegen die
Handels- und Gewerbefreiheit, unter deren Schutz auch die Ausübung
der wissenschaftlichen Berufe steht. Er wirft dem Kantonsgericht
ausschliesslich Willkür, d.h. Verletzung des Art. 4 BV vor. Zu prüfen
ist daher lediglich, ob das Kantonsgericht die genannte Bestimmung in
einer Weise ausgelegt und angewendet hat, die mit ihrem Wortlaut und
Sinn unvereinbar, schlechthin unhaltbar ist oder sonst gegen Art. 4
BV verstösst.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO, die gemäss Art. 3 StPO auch auf
die Strafrechtspflege entsprechend anwendbar ist, sind "ordnungswidrige
Vorträge, Weitschweifigkeit, unanständiges Benehmen gegen das Gericht,
andere Behörden, die Gegenpartei oder Drittpersonen, Störung der
Verhandlung und dergleichen" mit Ordnungsbussen von Fr. 5.- bis 200.--
zu bestrafen. Unter diese Bestimmung fällt nicht nur das Verhalten
des Anwalts, sondern auch dasjenige der Prozesspartei selber. Die
Partei aber hat unmittelbar aufgrund des Art. 4 BV einen Anspruch auf
rechtliches Gehör. Dieser bundesrechtliche Anspruch umfasst auch das
Recht, sich vor den mit der Zivil- und Strafrechtspflege betrauten
Behörden zu äussern (TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 1964 S. 328)
und zu den Vorbringen der Gegenpartei, zur Art der Beweiserhebung
und zum Ergebnis des Beweisverfahrens Stellung zu nehmen (IMBODEN,
Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung 3. Aufl. Nr. 612 III a, b). Ob der
bundesrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei, prüft das
Bundesgericht frei (BGE 91 I 402/3, 94 I 522 oben, 95 I 109; TINNER aaO
S. 407). Die Auslegung und Anwendung von Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO ist
daher, soweit sie das Äusserungsrecht der Partei beschränkt, nicht nur
unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür, sondern frei zu prüfen.

    Das im vorliegenden Falle streitige Äusserungsrecht des Anwalts ergibt
sich in erster Linie aus dem Äusserungsrecht der Partei. Deshalb dürfen
auch ihm keine Beschränkungen auferlegt werden, durch welche der Anspruch
der von ihm vertretenen Partei auf rechtliches Gehör beeinträchtigt
würde. Daneben ist die nicht zu unterschätzende Bedeutung des freien
Anwaltsstandes für die Sicherung einer integern, den rechtsstaatlichen
Anforderungen genügenden Rechtspflege zu berücksichtigen. In der
Rechtsprechung (BGE 60 I 16, 71 I 378) wie auch in der Lehre (GULDENER,
Zivilprozessrecht S. 611/12) ist der Anwalt gelegentlich als Hilfsorgan
der Rechtspflege oder als Gehilfe des Richters bezeichnet worden.
Doch wollte damit nicht gesagt werden, dass sich seine Aufgabe hierin
erschöpfe (vgl. DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe, ZSR 1951 S.
49 a/50 a, 66 a/67 a). Er hat jedenfalls, gerade auch als Hilfsorgan der
Rechtspflege, die Pflicht und das Recht, Missstände aufzuzeigen und Mängel
des Verfahrens zu rügen. Der Preis, der für diese unentbehrliche Freiheit
der Kritik an der Rechtspflege zu entrichten ist, besteht darin, dass auch
gewisse Übertreibungen in Kauf zu nehmen sind. Wenn dem Anwalt unbegründete
Kritik verboten ist, so kann er auch eine allenfalls begründete nicht
mehr gefahrlos vorbringen und ist die Wirksamkeit der Kontrolle der
Rechtspflege in Frage gestellt. Pflichtwidrig handelt er nur, wenn er
eine Rüge wider besseres Wissen oder in ehrverletzender Form erhebt,
statt sich auf Tatsachenbehauptungen und Wertungen zu beschränken.

Erwägung 3

    3.- Das Kantonsgericht hat die gegenüber dem Beschwerdeführer verhängte
Ordnungsbusse im angefochtenen Urteil verhältnismässig kurz begründet
und es nicht für nötig erachtet, zu den ausführlichen Vorbringen in der
staatsrechtlichen Beschwerde Stellung zu nehmen. Bei dieser Sachlage ist
die Zulässigkeit der Busse ausschliesslich aufgrund der im angefochtenen
Urteil enthaltenen Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer und der sich auf
diese beziehenden Ausführungen der Beschwerde zu prüfen. Das Bundesgericht
hat weder zu berücksichtigen, was der Beschwerdeführer sonst zu seiner
Rechtfertigung vorbringt, noch in den Akten nach weiteren Verstössen zu
fahnden, mit denen die angefochtene Ordnungsbusse begründet werden könnte.

    a) In seiner Eingabe vom 12. März 1969 hat der Beschwerdeführer das
Gutachten des Gerichtsexperten Dr. N. eingehend kritisiert und dabei auch
beanstandet, dass der Untersuchungsrichter seinem Auftragsschreiben an den
Experten "Ausführungen zur Persönlichkeit des Angeklagten" beigefügt habe,
deren Kopie sich nicht bei den Akten befinde und durch die der Experte,
den er in diesem Zusammenhang als "Ausländer" bezeichnete, beeinflusst
worden sei. Das Kantonsgericht erblickt hierin ein "sehr unanständiges
Benehmen" des Beschwerdeführers, zumal da er sich, nachdem er erfuhr,
dass der Experte Bündner sei, nicht entschuldigt habe. Der Vorwurfist
unhaltbar. Wenn ein Anwalt zur Widerlegung der Schlüssigkeit eines
Gutachtens neben einer Reihe sachlicher Gründe auch die Staatsangehörigkeit
des Experten erwähnt, so mag dies unangebracht und geschmacklos sein,
stellt aber keine strafbare "Unanständigkeit" im Sinne des Gesetzes dar.

    b) Im angefochtenen Entscheid wird weiter ausgeführt, der
Beschwerdeführer habe sich den Untersuchungsbehörden gegenüber
dadurch unanständig benommen, dass er ihnen habe "schwere Mängel des
Untersuchungsverfahrens und krasse Gesetzeswidrigkeiten zur Last legen
wollen". Im Anschluss hieran werden zwei Vorwürfe des Beschwerdeführers
genannt, die zu beanstanden seien. Nach dem im Eingang von Erw. 3 Gesagten
ist nur zu prüfen, ob diese beiden Vorwürfe die Ordnungsbusse zu begründen
vermögen. Bemerkt sei immerhin, dass die Rüge von Verfahrensmängeln und
Gesetzwidrigkeiten, die der Anwalt nachher nicht zu beweisen vermag, an
sich keinesfalls geeignet ist, eine Ordnungsstrafe zu rechtfertigen. Er
ist verpflichtet, solche Mängel geltend zu machen, und darf sich dabei
weitgehend auf die Angaben seines Klienten verlassen. Wenn er erhebliche,
seien es wirkliche oder bloss vermeintliche, Missstände rügt, so ist auch
eine scharfe Ausdrucksweise hinzunehmen.

    Inwiefern die im angefochtenen Entscheid kurz widerlegte Behauptung des
Beschwerdeführers, der Untersuchungsrichter und der (an der Einvernahme
des Angeschuldigten beteiligte) Polizeikorporal seien befangen gewesen
und hätten in Ausstand treten müssen, "unanständig" sein soll, sagt das
Kantonsgericht mit keinem Wort und ist auch nicht einzusehen. Soweit die
Ordnungsbusse wegen dieser Rüge verhängt wurde, ist sie offensichtlich
unhaltbar.

    Als besonders schwerwiegend bezeichnet das Kantonsgericht
den unbewiesenen und in der Hauptsache widerlegten Vorwurf des
Beschwerdeführers, der Angeklagte sei bei der Einvernahme durch den
Polizeifunktionär "einer richtigen ,Gehirnwäsche' unterzogen" worden,
worin - wie in der staatsrechtlichen Beschwerde zugegeben wird - eine
Anspielung auf Methoden liegt, die in Diktaturstaaten Anwendung finden.

    Der Beschwerdeführer hat in seiner Eingabe vom 12. März 1969 einerseits
unter Hinweis auf die Einvernahmeprotokolle festgehalten, dass sein Klient
während der rund drei Monate dauernden Untersuchungshaft sehr zahlreichen,
stunden- und tagelangen polizeilichen Verhören unterzogen worden sei;
anderseits hat er geltend gemacht, die Gesundheit seines Klienten sei
damals erschüttert gewesen. Wenn er im Hinblick hierauf den Ausdruck
"Gehirnwäsche" verwendet hat, so handelte es sich offensichtlich um eine
blosse, wenn auch übertreibende Vergleichung der strengen Verhöre mit der
in Diktaturstaaten üblichen "Gehirnwäsche". Hätte er wirklich behaupten
wollen, es sei mit in einem Rechtsstaat verpönten Untersuchungsmethoden
wie Narkoanalyse oder dergleichen auf seinen Klienten eingewirkt worden,
so hätte er dies zweifellos auch gesagt. Selbst im Sinne eines blossen
Vergleichs erscheint die Verwendung des Ausdrucks "Gehirnwäsche" freilich
als ein Missgriff, der jedoch als offensichtliche Übertreibung lediglich
eine geringe Busse nach Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO, keinesfalls aber eine
solche in der Höhe des dort vorgesehenen Maximums zu rechtfertigen vermag.

    c) Als "unanständig" im Sinne von Art. 194 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO
bezeichnet es das Kantonsgericht schliesslich, dass der Beschwerdeführer
in der Eingabe vom 12. März 1969 erklärte, es wäre "nicht nur ein Unglück
für den Angeschuldigten und seine Angehörigen, sondern auch für unsere
Strafrechtspflege und ihre Integrität", wenn die mit Gesetz und Recht
nicht in Einklang stehenden Methoden, die hier angewendet worden seien,
um den Angeschuldigten zur Verurteilung zu bringen, Erfolg hätten. Das
Kantonsgericht nimmt an, damit werde ihm "gleichsam auf Vorschuss hin"
ein Vorwurf gemacht und überdies versucht, es "in ungehöriger Art zu
beeinflussen". Diese Würdigung der Ausführungen des Beschwerdeführers
wird in der Beschwerde mit Recht als unhaltbar angefochten.

    Eine Beschwörung des Gerichts, wie sie hier vorliegt, überschreitet die
Grenzen der dem Anwalt gestatteten rhetorischen Freiheit nicht. Dieser
Appell an die Verantwortlichkeit des Gerichts ist umso weniger zu
beanstanden, als es in der Folge den Angeschuldigten in zwei wesentlichen
Punkten freigesprochen und die vom Staatsanwalt beantragte Freiheitsstrafe
auf die Hälfte herabgesetzt hat. Dass mit jenen Ausführungen dem Gericht
gleichsam auf Vorschuss hin ein Vorwurf gemacht werde, lässt sich im
Ernste nicht behaupten. Ebensowenig lag darin der Versuch einer ungehörigen
Beeinflussung des Gerichts. Von einer solchen könnte nur gesprochen werden,
wenn der Beschwerdeführer dem Gericht für den Fall der Verurteilung des
Angeschuldigten irgendwelche Nachteile, wie z.B. eine Zeitungspolemik
oder eine Intervention im Parlament, in Aussicht gestellt hätte. Davon
ist hier aber nicht die Rede.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und Ziff. 10 Abs. 1 des Urteils des
Kantonsgerichts St. Gallen vom 10./11. Juni 1970 aufgehoben.