Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 521



96 I 521

80. Auszug aus dem Urteil vom 16. Dezember 1970 i.S. Burgener
c. Kreisgericht Oberwallis, Leuk. Regeste

    Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus im Strafprozess

    Enthält eine Rechtsmittelbelehrung hinsichtlich des im Zusammenhang
mit der Berufungserklärung zu leistenden Kostenvorschusses lediglich
einen Hinweis auf entsprechende gesetzliche Bestimmungen, und setzt die
obere Instanz dem Rechtssuchenden, der den erforderlichen Vorschuss nicht
rechtzeitig geleistet hat, keine Nachfrist an, so macht sie sich einer
Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus schuldig, wenn sie auf
das Rechtsmittel nicht eintritt mit der Begründung, der Kostenvorschuss
sei nicht vorschriftsgemäss geleistet worden.

Sachverhalt

    A.- Marcel Burgener erstattete am 7. November 1967 gegen Gerold
Kistler, Visp, Strafanzeige wegen falschen Zeugnisses. Mit Verfügung
vom 10. Dezember 1969 stellte der Instruktionsrichter des Bezirks
Visp das Strafverfahren ein. Die entstandenen Kosten wurden dem
Anzeiger auferlegt. Die Einstellungsverfügung enthält folgende
Rechtsmittelbelehrung:

    "Gegen diesen Einstellungsentscheid können die Parteien gemäss
Art. 113/1 lit. b StPO binnen 20 Tagen nach Zustellung nach den
Vorschriften der Art. 176 f StPO beim Schreibamt des Instruktionsgerichtes
Visp, Berufung an das Kreisgericht Oberwallis für den Bezirk Visp, in Visp,
einreichen. Mit Bezug auf den zu leistenden Kostenvorschuss wird verwiesen
auf Art. 188 StPO und Art. 40 des Dekretes vom 12.7.1963 betreffend den
Tarif der Gerichtskosten."

    Marcel Burgener liess hierauf durch seinen Anwalt innert gesetzlicher
Frist Berufung einlegen. Mit Brief vom 27. Januar 1970 teilte der Präsident
des Kreisgerichts Oberwallis dem Vertreter des Berufungsklägers mit,
dass noch kein Kostenvorschuss bei ihm eingelangt sei; gleichzeitig
verwies er auf Art. 188 der Strafprozessordnung für den Kanton Wallis
vom 22. Februar 1962 (StPO), welcher wie folgt lautet:

    1. "Die Zivilpartei, welche die Haupt- oder Anschlussberufung
erklärt, hat unter Verfallstrafe innert zwanzig Tagen nach Ablauf der
Berufungsfrist der Berufungsinstanz den im Tarif der Gerichtskosten
vorgesehenen Kostenvorschuss einzuzahlen.

    2. Das gleiche gilt auch für die Berufung dessen, der nur zur Busse
verurteilt worden ist."

    Der Anwalt Burgeners liess daraufhin dem Gericht einen Kostenvorschuss
von Fr. 250.-- zugehen.

    Mit Urteil vom 22. Mai 1970 trat das Kreisgericht Oberwallis, Leuk,
auf die Berufung nicht ein mit der Begründung, der Kostenvorschuss
sei verspätet, da er bis zum 25. Januar 1970 hätte geleistet werden
müssen. Nach Art. 40 des Dekrets vom 12. Juli 1963 betreffend den Tarif der
Gerichtskosten (GerichtskostenD) müsse für die Haupt- und Anschlussberufung
ans Kreisgericht ein Vorschuss von Fr. 150.-- bezahlt werden. In Art. 188
StPO werde für den Fall der Nichtleistung ausdrücklich die Verfallstrafe
vorgesehen.

    B.- Burgener erhob gegen dieses Urteil staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 BV mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit notwendig,
aus den nachfolgenden Erwägungen.

    C.- Das Kreisgericht Oberwallis, Leuk, hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- 3. - (Prozessuales)

Erwägung 4

    4.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst ein durch
die Praxis eingeführtes oder im Gesetz aufgestelltes Formerfordernis
dann gegen Art. 4 BV, wenn es sich durch kein schutzwürdiges Interesse
rechtfertigen lässt und wenn es die Durchsetzung des materiellen Rechts
ohne sachlich vertretbaren Grund erschwert (BGE 96 I 318, 95 I 4 Erw. 2
und dort angeführte frühere Urteile).

    Das Kreisgericht ist auf die Berufung des Beschwerdeführers mangels
fristgemässer Zahlung des Kostenverschusses nicht eingetreten. In der
Urteilsbegründung wird ausgeführt, Art. 188 StPO über die Vorschusspflicht
bezwecke, "den Parteien die Bedeutung des Rechtsmittels einzuschärfen
und sie von trölerischen oder unzweckmässigen Berufungserklärungen
abzuhalten". Falls der Vorschuss nicht innert zwanzig Tagen nach Ablauf
der Berufungsfrist geleistet werde, so sei auf das Rechtsmittel nach
dem klaren Wortlaut der Bestimmung nicht einzutreten. Ein überspitzter
Formalismus könne darin nicht erblickt werden. Das Kreisgericht beruft
sich in diesem Zusammenhang auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts.

    Es trifft zwar zu, dass das Bundesgericht mehrfach ausgeführt hat,
prozessuale Formen seien unerlässlich, um die ordnungsgemässe und
rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des
materiellen Rechts zu gewährleisten (BGE 95 I 4 Erw. 2 a); wird die
Gültigkeit eines Rechtsmittels kraft ausdrücklicher Vorschrift von
der rechtzeitigen Leistung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht,
so kann darin grundsätzlich weder ein überspitzter Formalismus noch eine
Verweigerung des rechtlichen Gehörs erblickt werden (vgl. immerhin BGE 95 I
5/6 Erw. 2 b). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Parteien über die
Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Folgen der Nichtleistung
in angemessener Weise aufmerksam gemacht werden. In dieser Hinsicht
erweist sich die in der Instruktionsrichterverfügung vom 10. Dezember
1969 enthaltene Rechtsmittelbelehrung als offensichtlich ungenügend. Die
Parteien werden darin zwar in allgemeiner Form auf die Vorschusspflicht
hingewiesen, doch wird weder die Höhe des Vorschusses angezeigt, noch wird
eine Zahlungsfrist gesetzt, noch werden für den Fall der Nichtleistung
irgendwelche prozessuale Folgen angedroht. Der Hinweis auf Art. 188 StPO
und auf Art. 40 GerichtskostenD vermag entsprechende konkrete Angaben
nicht zu ersetzen. Es darf dem Rechtssuchenden nicht zugemutet werden,
sich anlässlich der Berufungserklärung noch einen Gerichtskostentarif zu
beschaffen oder zuständigenorts nähere Auskünfte einzuholen, um in jedem
Fall fristgerecht den erforderlichen Vorschuss leisten zu können. Diese
Erschwerung, welche namentlich den ausserkantonalen Rechtssuchenden
erheblichen prozessualen Risiken aussetzt, dient nicht mehr dazu, die
Parteien von trölerischen oder unzweckmässigen Berufungen abzuhalten,
sondern wird zum blossen Selbstzweck und ist geeignet, sowohl die
Wahrheitsfindung wie auch die Ausübung der Verteidigungsrechte ohne
sachlich vertretbare Gründe zu hindern. In einer Rechtsmittelbelehrung, wie
sie in der Instruktionsrichterverfügung vom 10. Dezember 1969 enthalten
ist, muss demnach eine eigentliche Prozessfalle erblickt werden, die jedem
gestellt ist, der nicht über Erfahrung im Gerichtswesen des Kantons Wallis
verfügt. Sie trifft nicht nur denjenigen, der unüberlegt oder trölerhaft
ein Rechtsmittel einlegt, sondern den prozessrechtlich Unerfahrenen
schlechthin und erweist sich daher als verfassungswidrig. Die in Frage
stehende Rechtsmittelbelehrung hätte im übrigen unschwer in einer Weise
abgefasst werden können, dass bei den Parteien keinerlei Zweifel über die
Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und die Folgen der Nichtleistung
hätten bestehen können.

    Wie das Bundesgericht in BGE 95 I 4 ff. festgestellt hat, vermag
eine Vorschusspflicht im Rechtsmittelverfahren den ihr innewohnenden
legitimen Zweck auch dann zu erfüllen, wenn der säumigen Partei eine
kurze Nachfrist angesetzt wird. Ein solches Vorgehen drängt sich umso
mehr auf, wenn der Rechtssuchende in der Rechtsmittelbelehrung - wie im
vorliegenden Fall - über die Höhe des Vorschusses, die Zahlungsfrist und
die Säumnisfolgen weitgehend im Unklaren gelassen worden ist. Der Grundsatz
von Treu und Glauben, den es auch im formstrengen Prozess zu beachten
gilt, erheischt, dass dem Säumigen in derartigen Fällen Gelegenheit
gegeben wird, seine Zahlung nachzuholen. Damit wird die ordnungsgemässe
Abwicklung des Verfahrens in keiner Weise in Frage gestellt. - Dass das
Kantonsgericht Wallis im Berufungsfall Holzer (Urteil vom 20. Januar 1970)
mit Rücksicht auf die soeben angestellten Überlegungen und auf die neuere
bundesgerichtliche Rechtsprechung eine derartige Nachfrist gewährte,
hätte das Kreisgericht Oberwallis im übrigen veranlassen müssen, im
vorliegenden Fall ebenso zu verfahren.

    Im Vorgehen des Kreisgerichts Oberwallis ist somit nach dem Gesagten
eine Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus zu erblicken. Die
Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid vom
22. Mai 1970 wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben.