Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 442



96 I 442

69. Urteil vom 18. November 1970 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft und
Obergericht des Kantons Luzern. Regeste

    Kantonaler Strafprozess, Beweiswürdigung, Willkür.

    Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts inbezug auf die
Beweiswürdigung. Bedeutung des Grundsatzes in dubio pro reo (Erw. 2).

    Hinreichende Indizien für die Annahme

    -  dass ein von Polizisten angehaltener Automobilist, der sich einer
Blutprobe entzieht, sein Fahrzeug in angetrunkenem Zustand geführt habe
(Erw. 2);

    - dass er sich der Blutprobe vorsätzlich entzogen habe (Erw. 3);

    - dass er die Wegnahme des Führerausweises durch die Polizisten als
vorläufigen Entzug des Ausweises habe verstehen müssen (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- R., wohnhaft in Luzern, stieg am Sonntag, dem 17.  August
1969, um 3.25 Uhr beim Hause Hirschengraben 13 in Luzern aus seinem
Personenwagen. Zwei Polizisten beobachteten ihn. Sie hatten den Eindruck,
er sei stark angetrunken, und forderten ihn auf, zur Vornahme eines
Alkoholtests (Breathalyzertest) und einer Blutprobe auf die Hauptwache zu
kommen. Er kam dieser Aufforderung nicht nach. Er erklärte den Polizisten,
er wolle noch seinen Hund aus dem Auto holen, setzte sich ans Steuer und
fuhr weg. Er begab sich nach Blatten bei Malters, wo er den Rest der Nacht
in einer Hütte zubrachte. Vor der Wegfahrt in Luzern hatte er den beiden
Polizisten den Führerschein ausgehändigt.

    Das Amtsgericht Luzern-Stadt bestrafte R. am 24. März 1970
wegen vorsätzlicher Vereitelung der Blutprobe nach Art. 91
Abs. 3 SVG mit 14 Tagen Gefängnis und Fr. 200.-- Busse. Von der
Anklage des Fahrens in angetrunkenem Zustand sprach ihn das Gericht
frei. Gegen das amtsgerichtliche Urteil appellierten sowohl R. wie der
Staatsanwalt. Dieser beantragte, es sei die Untersuchung mit Bezug auf
Führen eines Motorfahrzeuges in nicht fahrfähigem Zustand und Fahren ohne
Führerausweis, evt. Nichtmitführen des Führerausweises, zu ergänzen. Am
10. Juli 1970 erklärte das Obergericht des Kantons Luzern R. schuldig
des Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand nach Art. 91
Abs. 1 SVG, des Vereitelns der Blutprobe nach Art. 91 Abs. 3 SVG und
des Fahrens ohne Führerausweis nach Art. 95 Ziff. 2 SVG, begangen am
17. August 1969. Er wurde mit einem Monat Gefängnis und Fr. 300.-- Busse
bestraft. Ferner wurde die Publikation des Urteils angeordnet.

    B.- Gegen das Urteil des Obergerichts erklärte R. die
Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts. Sie
wurde mit Urteil vom 28. September 1970 abgewiesen. Neben der
Nichtigkeitsbeschwerde hat R. gestützt auf Art. 4 BV staatsrechtliche
Beschwerde erhoben. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit
erforderlich, aus den folgenden Erwägungen.

    C.- Obergericht und Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragen
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer beanstandet im wesentlichen die
Beweiswürdigung durch das Obergericht. In diesem Bereich steht den
kantonalen Instanzen ein weiter Spielraum des Ermessens zu, und das
Bundesgericht kann auf staatsrechtliche Beschwerde hin nur eingreifen, wenn
die tatsächlichen Feststellungen offensichtlich falsch oder willkürlich
sind oder wenn sie auf einem offenbaren Versehen beruhen (BGE 83 I 9
mit Hinweis auf frühere Entscheide). Der Beschwerdeführer beklagt sich
ferner darüber, das Obergericht habe den Grundsatz verletzt, wonach
in Strafsachen im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist
(in dubio pro reo). Dieser Grundsatz ist kein solcher des Bundesrechts
oder gar des Verfassungsrechts (BGE 69 IV 152, 74 IV 145, 75 IV 155,
nicht veröffentlichte Erw. 5 c des Urteils vom 4. November 1970 i.S. von
Däniken; vgl. W. HOCHULI, SJZ 1954, S. 249 ff., insbes. S. 253). Die
verfassungsrechtliche Schranke liegt allein im Verbot der Willkür (BGE
91 IV 120).

    Das Obergericht stellte fest, der Beschwerdeführer habe in
der fraglichen Nacht seinen Personenwagen in angetrunkenem Zustand
geführt. Es konnte sich dabei nicht auf eine Blutexpertise stützen,
da sich der Beschwerdeführer einer Blutprobe entzogen hatte. Dieser
anerkennt, dass der Beweis der Angetrunkenheit auch auf andere Weise
als durch Gutachten erbracht werden kann; das entspricht denn auch
Lehre und Rechtsprechung. Der Beschwerdeführer hält indessen dafür, die
Annahme der Angetrunkenheit sei unhaltbar. Das Obergericht stützte sich
vor allem auf die Aussagen der beiden als Zeugen abgehörten Polizisten
S. und W. Danach zeigte der Beschwerdeführer vor seiner Wegfahrt nach
Blatten beim Gehen einen schleppenden Schritt, er zog die Fusspitzen
am Boden nach und schwankte, seine Art des Redens war nicht normal,
dem Zeugen S. fielen "Kunstpausen" auf. Dieser hatte den Eindruck, R.
müsse ziemlich viel getrunken haben. Polizist W. stellte fest, dass der
Beschwerdeführer einen unklaren Blick hatte. Dieser bestreitet nicht, dass
er vor dem Zusammentreffen mit den beiden Polizisten alkoholische Getränke
zu sich genommen hatte. Nachdem die beiden Polizisten derart ausgeprägte
Anzeichen einer erheblichen Alkoholisierung festgestellt hatten, war es
an sich nicht unhaltbar, wenn es das Obergericht für erwiesen hielt,
R. sei bei seiner Wegfahrt nach Blatten angetrunken gewesen. Dieser
versucht den Beweiswert der Aussagen der beiden Zeugen mit verschiedenen
Argumenten herabzumindern. Er behauptet, sein äusseres Benehmen habe
deshalb einen "etwas konfusen Eindruck" erweckt, weil er sich im Zeitpunkt
der Kontrolle durch die beiden Polizisten in einer aussergewöhnlichen
seelischen Erregung befunden habe. Er habe nämlich vorher die Entdeckung
gemacht, dass ihn seine Ehefrau mit einem andern Manne betrüge, und sei
deshalb aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. Von dem ehewidrigen
Treiben hatte er aber bereits seit einiger Zeit Kenntnis, und die beiden
Polizisten hatten nicht den Eindruck, dass er unter einer Schockwirkung
gestanden hätte. Die behauptete seelische Erregung würde denn auch zwar
vielleicht die sprachlichen Hemmungen, nicht aber schwankende Haltung
und schleppenden Gang erklären. Diese als Folge einer auf psychische
Gründe zurückzuführenden körperlichen Erschlaffung hinzustellen, geht
an den Tatsachen vorbei, vor allem wenn berücksichtigt wird, dass der
Beschwerdeführer, wie er zugesteht, den beiden Polizisten "relativ behend"
entweichen konnte. Anderseits lässt die Tatsache des raschen Entweichens
die Annahme der Angetrunkenheit nicht als unhaltbar erscheinen. Auch ein
erheblich alkoholisierter Fahrer kann durchaus in der Lage sein, mit seinem
Wagen rasch wegzufahren, wenn er der Polizei entkommen will. Die Annahme
des Obergerichts, der Beschwerdeführer habe einen unklaren Blick gehabt,
ist nicht unhaltbar. W. hat das unter Zeugenpflicht erklärt, und der
Umstand, dass die Wahrnehmung in einer angeblich schlecht beleuchteten
Nebenstrasse gemacht wurde, lässt die Aussage nicht als unglaubwürdig
erscheinen, so wenig wie der Umstand, dass Polizist W. die Frage, ob
R. eine "Alkoholfahne" gehabt habe, nicht beantworten konnte. Es lässt
gegenteils auf eine objektive Zeugenaussage schliessen, dass W. auf Frage
hin nicht behauptete, eine Alkoholfahne wahrgenommen zu haben. Was der
Beschwerdeführer vorbringt, um darzutun, dass das Obergericht an der
Objektivität der Aussagen der beiden Polizisten hätte zweifeln müssen,
schlägt nicht durch.

    Der Beschwerdeführer behauptet, er habe um Mitternacht einen Whisky
und ca. um 2 Uhr früh zwei kleine Gläser Weisswein getrunken, was nicht
zu einer Angetrunkenheit habe führen können. Das Obergericht hat nicht
auf seine Angaben über den Alkoholkonsum abgestellt, und es hatte dazu
gute Gründe. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer in diesem Punkt
im Strafverfahren widersprechende Angaben gemacht und u.a. der Polizei
gegenüber zunächst erklärt habe, er habe drei Whiskys getrunken. Der
Beschwerdeführer bestreitet, widersprechende Angaben gemacht zu
haben, doch ist die dahingehende Feststellung des Obergerichts nicht
unhaltbar. R. erklärte vor dem Amtsstatthalter, er habe einen Whisky
und zwei Gläser Weisswein getrunken. Demgegenüber sagte Polizist S. als
Zeuge aus, er sei ganz sicher, dass R. ihm gegenüber von drei Whiskys
gesprochen habe. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers ist es
weiterhin nicht willkürlich, dass das Obergericht bei der Beurteilung der
Frage, ob auf seine Angaben über den Alkoholkonsum abgestellt werden könne,
berücksichtigte, dass er schon in einem frühern Strafverfahren behauptet
hatte, nur einen Whisky getrunken zu haben, während der nachgewiesene
Blutalkoholgehalt ca. 2,2-2,3 Promille betrug. Der Beschwerdeführer macht
schliesslich geltend, er habe bei seiner Fahrt nach dem Zusammentreffen mit
den beiden Polizisten keinerlei Anzeichen einer möglichen Fahruntüchtigkeit
gezeigt und ohne Zweifel noch eine erhebliche Strecke mit seinem Fahrzeug
zurückgelegt, was mit der Annahme der Angetrunkenheit in Widerspruch
stehe. Die Polizisten haben festgestellt, dass der Beschwerdeführer am
Hirschengraben in Luzern mit offener Wagentüre wegfuhr; welches seine
Fahrweise auf der Fahrt nach Blatten war, steht dahin. Im übrigen hätte
das Obergericht selbst beim Nachweis korrekten Fahrens ohne Willkür den
Beweis der Angetrunkenheit auf Grund der Zeugenaussagen als geleistet
betrachten dürfen. Wie die Erfahrung lehrt, schliesst das eine das andere
nicht unbedingt aus. Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Führens
eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand beruht demnach nicht auf
willkürlicher Beweiswürdigung und verletzt Art. 4 BV nicht.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer wurde auch deswegen bestraft, weil er
sich vorsätzlich einer amtlich angeordneten Blutprobe entzog. Der
Beschwerdeführer anerkannte im kantonalen Verfahren, dass ihn die beiden
Polizisten aufgefordert hatten, auf die Hauptwache zu kommen, um sich
einer Blutprobe zu unterziehen. Er leistete der Aufforderung keine Folge,
sondern fuhr unter den bereits erwähnten Umständen weg und versteckte sich
während des restlichen Teils der Nacht in einem abgelegenen Schuppen. Er
bestreitet in seiner staatsrechtlichen Beschwerde die Richtigkeit dieser
tatsächlichen Feststellungen nicht, macht aber geltend, er habe nicht mit
Wissen und Willen gehandelt, da die durch das ehewidrige Verhalten seiner
Ehefrau verursachte psychische Belastung bei ihm eine Bewusstseinsstörung
bewirkt habe, so dass er nicht mehr fähig gewesen sei, vernunftgemäss zu
handeln. Das Obergericht hat sich mit diesem Einwand auseinandergesetzt und
die Darstellung des Beschwerdeführers als unglaubhaft bezeichnet. Für diese
Beweiswürdigung hat es vertretbare Gründe angeführt. Zunächst stellte es
fest, dass die Polizisten nicht den Eindruck hatten, R. stehe unter einer
Schockwirkung. Zudem sprach, wie das Gericht mit Fug annehmen durfte,
sein ganzes Verhalten gegen die Annahme einer Bewusstseinsstörung. Er
verschaffte sich die Möglichkeit zur Flucht dadurch, dass er den Polizisten
vorspiegelte, er wolle nur noch seinen Hund aus dem Auto holen. Darin
durfte das Obergericht eine gezielte Täuschung sehen, die für seine
Zurechnungsfähigkeit und gegen eine Panikreaktion spreche. Diese Annahme
war auch bei Berücksichtigung des Berichtes von Dr. med. B. zulässig;
das Gericht durfte den gegen die Annahme einer Schockreaktion sprechenden
Umständen ohne Willkür ein grösseres Gewicht beilegen. Der Umstand, dass R.
der Polizei vor der Wegfahrt seinen Führerausweis ausgehändigt hatte und
somit seine Personalien bekannt waren, lässt die Beweiswürdigung ebenfalls
nicht als unhaltbar erscheinen. Der Beschwerdeführer konnte sich der von
ihm offenbar gefürchteten Blutprobe entziehen, indem er wegfuhr und sich an
einem abgelegenen Ort verbarg, und aus diesem Verhalten durfte das Gericht
schliessen, der Beschwerdeführer sei sich darüber im klaren gewesen, was
er tue. Dass das Gericht einerseits annahm, er sei angetrunken gewesen,
anderseits aber entschied, er habe sich über sein Tun Rechenschaft geben
können, ist nicht schlecht hin widersprüchlich. Auf jeden Fall lässt sich
nicht sagen, die Beweiswürdigung sei in diesem Punkt völlig unhaltbar
und damit willkürlich.

Erwägung 4

    4.- Das Obergericht sprach den Beschwerdeführer schliesslich der
Widerhandlung gegen Art. 95 Ziff. 2 SVG schuldig, da er sein Motorfahrzeug
trotz Entzug des Führerausweises geführt habe. R. beruft sich auch
in diesem Zusammenhang auf eine Bewusstseinsstörung und beanstandet
die Annahme des Vorsatzes bzw. der Zurechnungsfähigkeit, doch kann in
dieser Hinsicht nach vorangehender Erwägung (3) dem Obergericht keine
willkürliche Beweiswürdigung zur Last gelegt werden. Der Beschwerdeführer
macht geltend, selbst wenn Zurechenbarkeit gegeben wäre, würde eine
Bestrafung nach Art. 95 Ziff. 2 SVG ausser Betracht fallen, da ihm
bloss erklärt worden sei "er dürfe nicht mehr fahren". Das habe nicht
als förmlicher Entzug des Ausweises verstanden werden können, zumal die
Voraussetzungen für eine solche Massnahme gefehlt hätten. Die Polizisten
behändigten den Führerausweis und erklärten dem Beschwerdeführer,
er dürfe nicht mehr fahren. Nach Art. 54 Abs. 3 SVG kann die Polizei
unter gewissen Voraussetzungen einem Fahrzeugführer den Ausweis auf der
Stelle abnehmen. Das Obergericht nahm an, die Polizisten hätten den
Ausweis gestützt auf diese gesetzliche Vorschrift behändigt, und es
habe darin ein polizeilicher Ausweisentzug provisorischen Charakters
gelegen, der bis zum Entscheid der Entzugsbehörde die Wirkungen eines
Entzuges gezeitigt habe. Weshalb die Voraussetzungen zu einem Entzug
gefehlt haben sollen, sagt der Beschwerdeführer nicht, so dass mangels
Begründung auf diesen Beschwerdepunkt nicht einzugehen ist (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG). Das Bundesgericht hat sich deshalb nur noch mit der zweiten
Rüge zu beschäftigen, nach welcher das Vorgehen der Polizisten nicht
als förmlicher Entzug des Ausweises hätte verstanden werden können. Das
Obergericht stellte fest, es habe dem Beschwerdeführer klar sein müssen,
dass ihm zumindest vorläufig der Ausweis entzogen sei, nachdem ihm die
Polizisten den Ausweis abverlangt und erklärt hätten, er dürfe nicht mehr
fahren und habe sich einer Blutprobe zu unterziehen. Diese Schlussfolgerung
ist zumindest nicht schlechthin unhaltbar, und der Beschwerdeführer bringt
nichts vor, was sie zu entkräften vermöchte.

Erwägung 5

    5.- Es ergibt sich aus alledem, dass das Obergericht seinen
Schuldspruch nicht auf blosse Vermutungen stützte, wie der Beschwerdeführer
behauptet. Es hat sich vielmehr einlässlich mit der Würdigung der Beweise
befasst, und auch bei Berücksichtigung des Grundsatzes, dass im Zweifel
zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist, ist es bei der Feststellung
des Sachverhalts auf jeden Fall nicht geradezu in Willkür verfallen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.