Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 19



96 I 19

4. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes als staatsrechtlicher Kammer
vom 6. März 1970 i.S. X. gegen Generalprokurator und Kassationshof des
Kantons Bern. Regeste

    Art. 4 BV; Anspruch aufrechtliches Gehör im Strafprozess.

    Die Prozesspartei hat schon unmittelbar auf Grund von Art. 4 BV
Anspruch darauf, vom Ergebnis des Beweisverfahrens Kenntnis zu nehmen
und dazu Stellung zu beziehen.

Sachverhalt

    A.- X. wurde beschuldigt, am 30. März 1966 in der im Ryffligässchen
in Bern gelegenen Bedürfnisanstalt für Männer öffentlich eine unzüchtige
Handlung begangen zu haben, indem er sich von Y. den Geschlechtsteil
reiben liess. X. und Y. waren geständig. Sie wurden am 2. Juni 1966
vom ausserordentlichen Gerichtspräsidenten VII von Bern in Anwendung von
Art. 203 StGB mit je Fr. 100.-- gebüsst.

    B.- Am 18. Oktober 1968 stellte X. beim Kassationshof des Kantons
Bern ein Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens. Darin widerrief er
sein früheres Geständnis und machte im wesentlichen geltend, er habe die
Beschuldigungen nur deshalb hingenommen, weil ihm seitens der Polizei
eine Erledigung der Angelegenheit ohne Kenntnisgabe an Dritte in Aussicht
gestellt worden sei. Der Gerichtspräsident habe ohne Augenschein eine
öffentliche Begehung der behaupteten Handlungen angenommen. In Wirklichkeit
könnten in der betreffenden Bedürfnisanstalt sich aufhaltende Personen
infolge der baulichen Anlage überhaupt nicht durch zufällig herankommende
Dritte überrascht werden.

    Der Kassationshof des Kantons Bern leitete das Gesuch zur
Antragstellung an den Generalprokurator weiter. Dieser beantragte
mehrere Beweiserhebungen. In der Folge nahm der Berichterstatter des
Kassationshofes des Kantons Bern in der betreffenden Bedürfnisanstalt einen
Augenschein vor und führte Befragungen des Gesuchstellers sowie mehrerer
Zeugen durch. Eine mündliche Verhandlung wurde nicht angeordnet. Hierauf
überwies der Kassationshof des Kantons Bern die Akten dem Generalprokurator
ein zweites Mal. Dieser würdigte in einer Eingabe das Beweisergebnis und
beantragte Aufhebung des Urteils vom 2. Juni 1966 und Rückweisung der
Sache an den Einzelrichter zur Neubeurteilung.

    Mit Entscheid vom 6. Oktober 1969 wies der Kassationshof des Kantons
Bern das Wiederaufnahmegesuch ab, im wesentlichen mit der Begründung, die
Voraussetzung der Öffentlichkeit im Sinne von Art. 203 StGB sei mit Recht
bejaht worden. Das Geständnis des Gesuchstellers scheine glaubwürdiger als
der Widerruf. Seinerzeit hätten weder X. noch Y. den Eindruck erweckt,
unter Schockeinwirkung auszusagen. Von X. als einem im diplomatischen
Auslandsdienst stehenden Beamten wäre zu erwarten gewesen, dass er sich
gegen die angeblich ungerechtfertigten Vorwürfe wehre. Der Gesuchsteller
habe sein Geständnis nur deshalb widerrufen, weil ihm von seiten seines
Vorgesetzten die Kündigung der Arbeitsstelle angedroht worden sei, falls
das Strafurteil nicht aufgehoben werde. Da X. homosexuell sei, müsse
angenommen werden, er habe die Bedürfnisanstalt zum Zwecke geschlechtlicher
Kontaktnahme mit Dritten aufgesucht. Nach seinem ursprünglichen Geständnis
sei Y. auf ihn zugetreten und habe seinen Penis betastet. Demgegenüber
bestreite Y., den Geschlechtsteil des X. berührt zu haben. Der zwischen
den Aussagen der beiden Verurteilten bestehende Gegensatz sei indessen
unerheblich; denn nach den seinerzeitigen Angaben des Y. sei zwar die
unzüchtige Handlung nicht vollendet, aber immerhin versucht worden, was
für die Bestrafung genüge. Die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertige
sich daher nicht.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt X.  Aufhebung des
Urteils des Kassationshofes des Kantons Bern und Rückweisung der Sache
an die Vorinstanz zur Wiederaufnahme des Verfahrens. Der Beschwerdeführer
rügt, der angefochtene Entscheid beruhe auf willkürlicher Beweiswürdigung
und verletze die verfassungsmässige Garantie des rechtlichen Gehörs
(Art. 4 BV).

    Der Kassationshof des Kantons Bern beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Als Verweigerung des rechtlichen Gehörs rügt der Beschwerdeführer,
dass der Kassationshof des Kantons Bern die Akten nach Aufnahme des
Beweisverfahrens zur Antragstellung dem Generalprokurator zugesandt hat,
ohne ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zum Beweisergebnis zu geben.

    Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst
grundsätzlich durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo
dieser kantonale Rechtsschutz sich als ungenügend erweist, greifen
die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen
Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger
in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten
gewährleisten (BGE 92 I 186 mit Zitaten).

    Hat der Verurteilte das Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens gemäss
Art. 350 bern. StrV eingereicht, gilt für das weitere Vorgehen Art. 352
StrV, der wie folgt lautet:

    "Der Kassationshof überweist die Akten zur Antragstellung dem
Generalprokurator. Er erhebt auf dessen Antrag oder von sich aus die
notwendig erscheinenden Beweise und kann eine mündliche Verhandlung
veranstalten.

    Art. 314, 315, 318, 321, 322, 331, Absatz 2, sind entsprechend
anzuwenden."

    Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung dieser kantonalen Bestimmung
geltend mit der Begründung, Art. 352 Abs. 2 StrV in Verbindung mit Art. 318
und 321 StrV schreibe ausdrücklich einen zweiten Parteivortrag vor, weshalb
man ihn als Angeschuldigten von einer zweiten Eingabe nach erfolgter
Beweisaufnahme nicht hätte ausschliessen dürfen. Dieser Auffassung kann
nicht gefolgt werden. Die in Art. 352 Abs. 2 StrV genannten Vorschriften
finden nur dann Anwendung, wenn der Kassationshof eine mündliche
Verhandlung überhaupt angeordnet hat (WAIBLINGER, Das Strafverfahren
für den Kanton Bern, N. 3 zu Art. 352 StrV). Da diese Voraussetzung
im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist, hilft dem Beschwerdeführer die
Berufung auf die Art. 318 und 321 StrV nichts.

    X. macht indes nicht nur eine Verletzung von Art. 352 StrV, sondern
eine solche des unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Anspruchs auf
rechtliches Gehör geltend. Diese Rüge ist begründet.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt der
Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör im Zivil- und Strafprozess
allgemein und unbedingt (BGE 92 I 187 mit Verweisungen). Der Betroffene
hat daher Anspruch darauf, nicht nur an den Beweiserhebungen (Augenschein,
Zeugeneinvernahmen usw.) teilzunehmen, sondern auch vom Ergebnis des
Beweisverfahrens Kenntnis zu nehmen und dazu Stellung zu beziehen
(BGE 92 I 263 E. 3 d). Zu diesem Behufe sind ihm die Akten, die zur
Stützung der behördlichen Anordnung dienen sollen, zu öffnen. Indem
der Kassationshof in der fraglichen Bedürfnisanstalt einen Augenschein
vornahm, in zwei Sitzungen den Verurteilten und mehrere Zeugen befragte
und sodann seinen Entscheid auf Grund der neuen Beweisergebnisse fällte,
ohne dem Beschwerdeführer vorher Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben,
hat sie ihm somit das rechtliche Gehör verweigert.

    In seiner Vernehmlassung wendet der Kassationshof freilich ein,
dem Beschwerdeführer sei es freigestanden, sich in einer Eingabe zum
Beweisergebnis zu äussern, da er selbst oder sein Anwalt an allen
Beweisverhandlungen teilgenommen habe. Die blosse Orientierung des
Beschwerdeführers von den vorgenommenen Aktenergänzungen vermag indes
die nach Art. 4 BV gebotene Einladung zur Akteneinsicht und Ansetzung
einer Frist zur Würdigung des Beweisergebnisses nicht zu ersetzen. Der
Kassationshof hätte umsomehr Anlass gehabt, dem Beschwerdeführer die
Möglichkeit zur Würdigung der Beweisaufnahmen zu geben, als er diese
Gelegenheit dem Generalprokurator geboten hat, obschon das Gesetz
über das Strafverfahren des Kantons Bern weder ausdrücklich noch nach
seinem allgemeinen Inhalt eine erneute Zustellung der Akten an den
Generalprokurator zur Ergänzung der ersten Eingabe vorsieht.

    Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nach feststehender
Rechtsprechung formeller Natur, und es hat seine Missachtung die
Aufhebung des angefochtenen Entscheids auch dann zur Folge, wenn der
Beschwerdeführer ein materielles Interesse hieran nicht nachzuweisen
vermag (BGE 92 I 188 mit Verweisungen). Es kommt deshalb nicht
darauf an, ob irgendwelche Aussicht bestehe, dass der Kassationshof
des Kantons Bern nach richtiger Anhörung des Beschwerdeführers zu einer
Änderung seines Entscheides gelange. Ebenso ist bedeutungslos, dass der
Generalprokurator in seiner Eingabe zur Beweiswürdigung die Zulassung des
Wiederaufnahmeverfahrens beantragt hat; denn dieser Umstand bildet keinen
Grund, dem Beschwerdeführer das aktuelle Interesse an der Aufhebung
des angefochtenen Entscheids abzusprechen. Er hat Anspruch darauf,
dem Kassationshof selbst bzw. durch seinen Anwalt alle ihm nützlich
scheinenden Argumente vorzutragen, die auf Grund des Beweisergebnisses
zu Gunsten seines Gesuches vorgebracht werden können.

Erwägung 2

    2.- Insoweit der Kassationshof sich für die Annahme, X. sei
homosexuell, einzig und allein auf die Aussagen des Zeugen Y. stützt,
wird mit der Beschwerde willkürliche Beweiswürdigung geltend gemacht. Die
Rüge ist begründet.

    Im angefochtenen Urteil wird ausgeführt, Y. habe, als X. die
Bedürfnisanstalt betrat, sogleich den Eindruck gehabt, es handle sich
bei diesem um einen Homosexuellen. Somit habe der Gesuchsteller die
Bedürfnisanstalt nicht bloss zufällig aufgesucht; vielmehr sei es ihm darum
gegangen, geschlechtlichen Kontakt mit Gleichgesinnten zu suchen. Diese
ausschliesslich auf der Ansicht des Zeugen Y. über die Veranlagung des
Beschwerdeführers beruhende Feststellung und die daraus gezogenen Schlüsse
sind jedoch mit einer sachlichen Beweiswürdigung nicht vereinbar. Der
Kassationshof hat es unterlassen, abzuklären, ob der Beschwerdeführer
homosexuell veranlagt sei; auch untersuchte er nicht, ob der Zeuge Y.
wirklich die Fähigkeit besitzt, eine ihm unbekannte, gleichgeschlechtlich
veranlagte Person ohne weiteres als solche zu erkennen. Ferner hat der
Kassationshof den Umstand nicht berücksichtigt, dass den Akten ausser der
umstrittenen Beschuldigung keinerlei Anzeichen gleichgeschlechtlicher
Neigungen des Beschwerdeführers zu entnehmen sind und sich aus dessen
Vorleben in dieser Beziehung ebenfalls nichts ableiten lässt.

    Der Kassationshof hat die Aussagen des Zeugen Y. auch noch in anderer
Beziehung willkürlich gewürdigt. Er verweist in seinem Entscheid auf den
Widerspruch zwischen den ursprünglichen Angaben der beiden Angeschuldigten
und führt aus, das Geständnis des Gesuchstellers betreffe ein vollendetes,
dagegen dasjenige von Y. lediglich ein versuchtes Delikt. Der Kassationshof
übersieht dabei aber, dass nach der ursprünglichen Darstellung des Y. der
Vorwurf der versuchten strafbaren Handlung nur diesen selbst treffen
würde, da er mit der Absicht, eine unzüchtige Handlung zu begehen, auf
X. zugetreten war, wogegen der Beschwerdeführer seinerseits keine Anstalten
getroffen hatte, eine solche Handlung aktiv oder passiv zu begehen.

    Nicht berücksichtigt wurde auch die von Y. im Verfahren vor dem
Kassationshof gemachte Aussage, wonach er den Geschlechtsteil des
X. weder gesehen noch berührt habe. Der Kassationshof hätte darüber
umsoweniger hinweggehen dürfen, als Y. nicht mehr als Angeschuldigter
wie im ersten Verfahren, sondern nunmehr in der Eigenschaft als zur
Wahrheit ermahnter und verpflichteter Zeuge aussagte. Nachdem diese
Zeugenaussage den Widerruf des Geständnisses des Beschwerdeführers in
allen Teilen bestätigt, hätte der Kassationshof sich darüber aussprechen
müssen, warum er sie als unrichtig erachtet hat oder weshalb sie ihm nicht
beweiskräftig erschienen ist. Eine diesbezügliche Begründung wäre umsomehr
geboten gewesen, als der Kassationshof die Äusserungen des Zeugen Y. über
die Veranlagung des Beschwerdeführers als glaubwürdig bezeichnet und ihr
ein grosses Gewicht beigemessen hat.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Kassationshofs des Kantons Bern vom 6. Oktober 1969 aufgehoben.