Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 110



96 I 110

21. Urteil vom 3. Juni 1970 i.S. Hummel gegen Statthalteramt des Bezirkes
Uster und Obergericht des Kantons Zürich Regeste

    Kantonale Nichtigkeitsbeschwerde, Anforderungen an die Begründung.
Art. 4 BV.

    Die Anforderungen an die Begründung einer kantonalen
Nichtigkeitsbeschwerde werden, gleich wie bei übertriebener Formenstrenge,
in einer gegen Art. 4 BV verstossenden Weise überspannt, wenn auf eine
Beschwerde nicht eingetreten wird, die, wenn auch in ungeschickter
Formulierung und unzusammenhängender Darstellung, so doch nach Wortlaut
und Sinn offenkundig eine Rüge enthält, wie sie zur Begründung der
Nichtigkeitsbeschwerde vorgebracht werden kann.

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss der II. Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons
Zürich vom 24. April 1968 wurde der Meliorationsgenossenschaft Maur,
vertreten durch ihren Präsidenten Hermann Hummel, verboten, nach Ablauf
von zehn Tagen von der Zustellung des Entscheides an gerechnet

    "Wasser aus der Liegenschaft des Hoteliers Manz, Forchstrasse 775,
Scheuren-Forch, in ihre entlang des Genossenschaftsweges unterhalb
der Liegenschaft Manz verlaufende Drainage, die schliesslich unter dem
Flurweg durch in das Grundstück des Klägers (Forchstrasse 745) und in
dessen Sickerleitung führt, aufzunehmen, solange nicht für eine direkte
Ableitung des betreffenden Wassers in die Kanalisation gesorgt ist. "

    Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses Verbot wurde die
Überweisung der verantwortlichen Organe der Meliorationsgenossenschaft
an den Strafrichter zur Bestrafung mit Haft oder Busse wegen Ungehorsams
gegen eine amtliche Verfügung (Art. 292 StGB) angedroht.

    Am 5. Juni 1969 bestrafte das Statthalteramt Uster Hermann Hummel wegen
Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung im Sinne von Art. 292 StGB mit
einer Busse von Fr. 50.-. Es ging davon aus, die Meliorationsgenossenschaft
habe das ihr auferlegte Verbot nicht befolgt, was Hummel als deren
Präsident zu verantworten habe. Hummel verlangte gerichtliche Beurteilung,
worauf der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Uster mit
Urteil vom 17. Dezember 1969 die Bussenverfügung des Statthalteramtes
im Schuld- und Strafpunkt bestätigte.

    B.- Gegen dieses Urteil erhob Hummel beim Obergericht des
Kantons Zürich gestützt auf § 430 Abs. 1 Ziff. 6 der zürcherischen
Strafprozessordnung (StPO) Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verletzung
materieller Gesetzesvorschriften. Die I. Strafkammer des Obergerichtes
trat mit Entscheid vom 23. Februar 1970 nicht auf die Beschwerde ein,
im wesentlichen mit folgender Begründung: Unter "Gesetzesvorschriften"
im Sinne des § 430 Abs. 1 Ziff. 6 StPO seien alle allgemein verbindlichen
Rechtssätze zu verstehen. Keine Rechtsnorm dieser Art sei jedoch eine
für den einzelnen Fall getroffene Anordnung, da es sich bei einer
solchen nicht um einen generell-abstrakten Rechtssatz handle. Auf
die Beschwerde könnte daher nur eingetreten werden, wenn z.B. gerügt
würde, der Einzelrichter habe Art. 292 StGB unrichtig ausgelegt oder
ihn aufeinen Tatbestand angewendet, aufwelchen er nicht anwendbar
sei. Das behaupte der Beschwerdeführer nicht. Er rüge vielmehr bloss,
der Einzelrichter habe die von der II. Zivilkammer des Obergerichtes
erlassene Verbotsnorm falsch ausgelegt. Da es sich bei dieser um eine
Rechtsverfügung individuell-konkreter Art handle, könne nach dem Gesagten
nicht auf die Nichtigkeitsbeschwerde eingetreten werden.

    C.- Gegen den Entscheid der I. Strafkammer des Obergerichtes hat Hummel
gestützt auf Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Die Begründung der Beschwerde
ergibt sich, soweit erforderlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.

    D.- Die I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich
beantragt Abweisung der Beschwerde; das Statthalteramt Uster hat auf eine
Stellungnahme verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Bundesgesicht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Eintretensfrage).

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 292 StGB wird mit Haft oder Busse bestraft, wer der von
einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis
auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht
Folge leistet. Wie in den Erwägungen des angefochtenen Entscheides
ausgeführt wird, ist auf eine Nichtigkeitsbeschwerde einzutreten,
welche sich auf § 430 Abs. 1 Ziff. 6 StPO stützt, wenn geltend gemacht
wird, der Einzelrichter habe eine Strafnorm unrichtig ausgelegt oder
sie auf einen Sachverhalt angewendet, auf welchen sie nicht anwendbar
ist. Wie das Obergericht in seiner Beschwerdeantwort weiter ausführt,
muss der Beschwerdeführer zudem angeben, inwiefern und weshalb die
Gesetzesvorschrift verletzt sein soll.

    Der Beschwerdeführer stützte seine Nichtigkeitsbeschwerde auf § 430
Abs. 1 Ziff. 6 StPO und machte ausdrücklich geltend, das angefochtene
Urteil verletze materielle Gesetzesvorschriften. Er brachte unter anderem
folgendes vor:

    "Die Meliorationsgenossenschaft Maur ist somit dem obergerichtlichen
Befehl nachgekommen. Sie hat nichts versäumt, was ihr rechtens befohlen
wurde. Es gebricht somit am objektiven Tatbestand des Ungehorsams gegen
eine amtliche Verfügung. Zudem liegt kein rechtlich relevantes Verschulden
des Beschwerdeführers und der übrigen Organe der Meliorationsgenossenschaft
vor, da sie ja das diffuse Eindringen von Wasser in die Leitung nicht
zu verhindern vermochten, es sei denn durch eine Massnahme, welche
eindeutig ausserhalb des obergerichtlichen Befehls lag. Auf jeden Fall
aber durften die Organe der Meliorationsgenossenschaft nach den Umständen
ohne Verschulden den obergerichtlichen Befehl in dem oben dargelegten
Sinne verstehen. Der Beschwerdeführer beruft sich daher eventualiter auf
Rechtsirrtum im Sinne von Art. 20 StGB, indem er für sich in Anspruch
nimmt, er habe jedenfalls aus zureichenden Gründen angenommen, mit
der Unterbrechung des Anschlusses von der Liegenschaft Manz her dem
obergerichtlichen Befehl in allen Teilen nachgekommen zu sein. Für diesen
Fall beantrage ich, von einer Bestrafung Umgang zu nehmen."

    Damit hat der Beschwerdeführer klar gesagt, der Einzelrichter
habe Art. 292 StGB zu Unrecht angewendet, da der objektive Tatbestand
dieser Strafnorm nicht erfüllt sei. Er hat die Rüge auch begründet, indem
er ausführte, die Meliorationsgenossenschaft sei dem obergerichtlichen
Befehl nachgekommen, sie habe nichts versäumt, was ihr rechtens befohlen
worden sei.

    Das Obergericht führt in seiner Beschwerdeantwort aus, mit der
Behauptung, der objektive Tatbestand des Art. 292 StGB sei nicht erfüllt,
sei im Grunde nur gerügt worden, der Einzelrichter in Strafsachen habe
das vom Obergericht erlassene Verbot unrichtig ausgelegt. Auf die Rüge
unrichtiger Auslegung des Verbotes habe das Obergericht nicht eintreten
können, weshalb die weiteren darauf Bezug nehmenden Vorbringen hinfällig
geworden seien.

    Das Obergericht stellt sich damit auf den Standpunkt, der
Beschwerdeführer habe zwar der Form nach eine unrichtige Anwendung des
Art. 292 StGB behauptet, der Sache nach aber bloss die Auslegung des
von der II. Zivilkammer des Obergerichtes erlassenen Verbotes durch den
Einzelrichter in Strafsachen angegriffen. Ob diese Auffassung unhaltbar
und somit der daraus gezogene Schluss, angesichts der Unmöglichkeit einer
Überprüfung der Auslegung des Verbotes durch den Einzelrichter könne das
Gericht auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht eintreten, willkürlich ist,
kann offen bleiben, da der angefochtene Entscheid aus einem andern Grund
vor Art. 4 BV nicht standhält.

    Der Beschwerdeführer hat nämlich in seiner Nichtigkeitsbeschwerde
weiterhin geltend gemacht, der Einzelrichter habe ihn bestraft,
obschon kein rechtlich relevantes Verschulden vorliege. Er begründete
diese Rüge, indem er an anderer Stelle der Rechtsschrift vorbrachte,
das von der Liegenschaft Manz abfliessende Wasser sei nach Erlass des
obergerichtlichen Verbotes nicht "wissentlich und willentlich" weiterhin
in die Leitung der Meliorationsgenossenschaft aufgenommen worden. Dies
kann einen doppelten Sinn haben. Der Beschwerdeführer kann damit behaupten
wollen, der Strafrichter habe bei der Beweiswürdigung zu Unrecht Vorsatz
angenommen. Die Rüge kann sich aber auch auf die Anwendung des materiellen
Rechts beziehen, indem geltend gemacht werden will, der Richter habe
verkannt, dass nur die vorsätzliche Tat mit Strafe bedroht ist, oder er
habe den Begriff des Vorsatzes falsch ausgelegt.

    Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid ohne nähere Begründung
angenommen, der Beschwerdeführer habe mit der genannten Rüge nicht die
Verletzung materieller Gesetzesvorschriften behauptet. Darin liegt eine
übertriebene prozessuale Strenge. Obschon der Beschwerdeführer vor dem
Einzelrichter in Strafsachen bestritten hatte, das obergerichtliche Verbot
mit Wissen und Willen übertreten zu haben, enthält das einzelrichterliche
Urteil keine die Schuldform betreffenden tatsächlichen Feststellungen. Es
lässt sich schon aus diesem Grunde kaum annehmen, der Beschwerdeführer
habe mit der in der Nichtigkeitsbeschwerde vorgebrachten Rüge, er sei
trotz Fehlen eines rechtlich erheblichen Verschuldens bestraft worden,
in Wirklichkeit bloss eine tatsächliche Feststellung des Strafrichters
angreifen, aber nicht die Verletzung materiellen Rechts geltend machen
wollen. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer in der Einleitung seiner
Rechtsschrift ausdrücklich behauptete, das angefochtene Urteilverletze
materielle Gesetzesvorschriften, und in der Begründung geltend machte, es
liege kein rechtlich relevantes Verschulden vor, da ihm keine wissentliche
und willentliche Tätigkeit vorgeworfen werden könne. Da Ungehorsam
gegen amtliche Verfügungen ein Vorsatzdelikt ist, musste bei dieser
Sachlage angenommen werden, der Beschwerdeführer habe - zumindest auch -
die Verletzung materieller Gesetzesvorschriften, nämlich des Art. 292 in
Verbindung mit Art. 18 StGB gerügt, und er habe zudem die erforderliche
Begründung dafür vorgebracht, indem er erklärte, er sei trotz Fehlen des
Vorsatzes einer Straftat schuldig erklärt worden, die nur bei vorsätzlicher
Begehung mit Strafe bedroht ist. Der in der Beschwerdeantwort vorgebrachte
Einwand des Obergerichts, der Beschwerdeführer habe in Wirklichkeit bloss
die Auslegung des obergerichtlichen Befehls durch den Einzelrichter
kritisiert, trifft jedenfalls auf die die gesetzliche Schuldform
betreffende Rüge nicht zu, da der Beschwerdeführer in der kantonalen
Nichtigkeitsbeschwerde erklärt hatte, selbst wenn man sich nur auf
den Wortlaut des obergerichtlichen Befehls stütze, fehle es an einer
wissentlichen und willentlichen Zuwiderhandlung. In diesem Zusammenhang
beanstandete er nicht die Interpretation des Verbotes.

    Es ist einzuräumen, dass die Nichtigkeitsbeschwerde wenig glücklich
abgefasst war. Die Anforderungen an die Begründung werden aber, gleich wie
bei übertriebener Formstrenge, in einer gegen Art. 4 BV verstossenden
Weise überspannt, wenn auf eine Beschwerde nicht eingetreten wird,
die, wenn auch nicht in geschickter Formulierung und zusammenhängender
Darstellung, so doch nach Wortlaut und Sinn offenkundig eine Rüge enthält,
wie sie zur Begründung einer Nichtigkeitsbeschwerde vorgebracht werden
kann. Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben.