Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 9



96 IV 9

3. Urteil des Kassationshofes vom 23. Februar 1970 i.S. X. gegen Jugendamt
des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 91, 92 StGB. Verhältnis dieser Bestimmungen zu Art. 95
StGB. Sind die Voraussetzungen zur Einweisung des Jugendlichen in eine
Erziehungsanstalt i.S. von Art. 91 Ziff. 1 erfüllt, ist diese Massnahme
anzuordnen; an deren Stelle darf nicht eine Strafe ausgesprochen werden.

Sachverhalt

    A.- Der heute siebzehnjährige X., der infolge erheblicher
Schwierigkeiten in der Schule und Entweichens aus dem Elternhaus seit 1962
wiederholt in Heimen untergebracht war, wurde am 21. September 1967 wegen
Diebstahls verurteilt und der eigenen Familie zur Erziehung überlassen.
Da sich diese Massnahme nicht bewährte - X. wurde wieder straffällig -,
verfügte die Jugendanwaltschaft des Bezirkes Zürich am 11. Juni 1968
vorsorglich die Einweisung des Jugendlichen in die Beobachtungsstation
Enggistein zur psychiatrischen Begutachtung. Am 21. November 1968 wurde
X. vom Jugendgericht des Bezirksgerichtes Zürich wegen wiederholten
vollendeten und versuchten Diebstahls, wiederholter Störung des
öffentlichen Verkehrs, wiederholten Hausfriedensbruches, Sachbeschädigung
und einer Reihe von Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz in
eine Erziehungsanstalt für Jugendliche eingewiesen, weil bei ihm Anzeichen
einer schweren Verwahrlosung in Erscheinung getreten waren und die eigene
Familie der Erziehungsaufgabe nicht mehr zu genügen vermochte. X. wurde
zuerst im Pestalozziheim "Neuhof" untergebracht, aus dem er indessen
wiederholt entwich, weshalb er am 20. Mai 1969 in die Aufnahmestation des
Basler Jugendheims versetzt wurde. Nachdem er mehrmals erfolglos versucht
hatte, auch aus dieser Anstalt zu entweichen, tat er sich mit anderen
Insassen zusammen, um einen Aufseher niederzuschlagen und diesem die
Schlüssel abzunehmen, welches Vorhaben teilweise ausgeführt wurde. Wegen
dieses Vorfalles wurde X. Ende Juli 1969 in die Erziehungsanstalt Aarburg
versetzt, aus der er erneut entwich.

    B.- Während der kurzen Aufenthalte ausserhalb der verschiedenen
Anstalten beging X. zahlreiche strafbare Handlungen. Am 27. März 1969
wurde er deshalb vom Jugendgericht des Bezirksgerichtes Zürich der
wiederholten vollendeten und versuchten Entwendung von Motorfahrzeugen,
des wiederholten Führens eines Motorfahrzeuges ohne Führerausweis, der
Widerhandlung gegen Art. 36 Abs. 4 SVG, des pflichtwidrigen Verhaltens
bei einem Unfall, des wiederholten Diebstahls, des Hausfriedensbruchs,
der Hehlerei und der Entwendung eines Fahrrades zum Gebrauch schuldig
erklärt und in eine Erziehungsanstalt für Jugendliche eingewiesen.

    Auf Berufung der Jugendstaatsanwaltschaft und des Verurteilten, die
statt der Einweisung in eine Erziehungsanstalt die Bestrafung des X. mit
41 Tagen Einschliessung, abzüglich 7 Tage Untersuchungshaft, bzw. dessen
Übergabe an eine vertrauenswürdige Familie verlangten, erkannte das
Obergericht des Kantons Zürich am 16. Oktober 1969 auf Bestrafung
des Fehlbaren im Sinne des Antrages der Jugendstaatsanwaltschaft. Im
Jugendstrafrecht sei zwar, so führte das Obergericht zur Begründung aus,
in allen Fällen, in denen der Jugendliche sittlich verwahrlost oder
sittlich gefährdet sei, eine entsprechende Massnahme anzuordnen. Nur
wo sich eine solche erübrige, sei der Jugendliche zu bestrafen. Aus
diesem Grunde spreche denn auch Art. 95 StGB von den nichtverwahrlosten
bzw. nichtgefährdeten Jugendlichen. Der Gesetzgeber habe aber dabei nicht
an jene seltenen Fälle gedacht, in denen sich Massnahmen als sinnlos
erwiesen, weil diese schon auf Grund früherer Urteile angeordnet worden
seien. Würde diesfalls nämlich wieder die gleiche Massnahme verhängt,
so müsste sich dem Fehlbaren die Überlegung aufdrängen, dass auch weitere
strafrechtliche Verfehlungen nicht geahndet werden können, was als Anreiz
zur Wiederholung wirken würde. Aus diesen Gründen sei im vorliegenden
Fall gemäss Art. 95 StGB eine Strafe zu verhängen. Die Erziehung in einer
Familie aber falle ausser Betracht, weil die bereits früher angeordnete
Einweisung in eine Erziehungsanstalt weiterdauere und nicht anzunehmen
sei, dass X. zu Hause oder in einer anderen Familie besser erzogen
werden könnte.

    C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie ihn einer vertrauenswürdigen Familie zur Erziehung übergebe.

    D.- Die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt
Abweisung der Beschwerde, eventuell Rückweisung der Sache zur Anordnung
der Anstaltsversorgung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie der Kassationshof in seinem Urteil BGE 94 IV 19 dargelegt
hat, kommt Art. 95 StGB im Verhältnis zu Art. 91 und 92 StGB subsidiäre
Bedeutung zu und erlaubt nach seinem ausdrücklichen Wortlaut die Bestrafung
Jugendlicher nur, wenn sie nicht sittlich verwahrlost, sittlich verdorben
oder gefährdet sind, wenn sie kein Verbrechen oder schweres Vergehen
begangen haben, das einen hohen Grad der Gefährlichkeit offenbart, und
wenn sie auch keiner besonderen Behandlung bedürfen. Das schweizerische
Jugendstrafrecht, das vom Gedanken der Erziehung und Besserung beherrscht
ist und der Sühne und Vergeltung eine völlig untergeordnete Rolle zuweist
(BGE 94 IV 58), folgt im Falle fehlbarer Jugendlicher, die erziehungs-
oder behandlungsbedürftig sind, dem Prinzip der Ausschliesslichkeit
der Massnahme. Es unterscheidet sich insoweit vom österreichischen
Jugendstrafrecht, das Strafe und Massnahme zugleich vorsieht, wo die
Voraussetzungen für beide gegeben sind (§ 2 Abs. 1 Jugendgerichtsgesetz
von 1961), aber auch vom deutschen Recht, dem zufolge aus Anlass der
Straftat eines Jugendlichen Erziehungsmassregeln oder an ihrer Stelle
Zuchtmittel oder Jugendstrafe angeordnet werden können, wenn die Massnahme
nicht ausreicht (§ 5 Abs. 1 und 2 Jugendgerichtsgesetz von 1953). Dem
schweizerischen Richter steht es nicht zu, an Stelle oder neben einer nach
seiner Meinung nicht ausreichenden Massnahme eine Strafe zu verhängen (BGE
68 IV 38; ebenso GERMANN, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Anmerkungen
zu Art. 91). Diese soll nur gegenüber normalen jungen Rechtsbrechern
zur Anwendung kommen, die als Gelegenheitsdelinquenten aus Unwissenheit,
Sorglosigkeit, Leichtsinn und dergleichen einen Fehltritt begangen haben
(HAFTER, Allgemeiner Teil S. 475; LOGOZ, N. 1 zu Art. 95 StGB; THORMANN -
VON OVERBECK, N. 7 der Vorbemerkungen zu Art. 82-100 StGB; Botschaft des
Bundesrates über die Teilrevision des StGB vom 1. März 1965; BBl 1965
I 586). Solche Jugendliche wissen, dass sie eine Strafe zu gewärtigen
haben, wenn sie gegen die Strafrechtsordnung verstossen. Sie empfinden
die Vergeltung als etwas Natürliches, weshalb bei ihnen die Strafe in
der Regel ausreicht, um eine Besserung herbeizuführen (vgl. WEGMANN,
Einschliessung und bedingter Strafvollzug, SJZ 1961 S. 90).

    Am Gesagten vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass - wie
die Staatsanwaltschaft geltend macht - Art. 95 des Gesetzesentwurfes
des Bundesrates betreffend das Schweizerische StGB (BBl 1965 I 625)
eine dem angefochtenen Urteil entsprechende Lösung vorsieht. Abgesehen
davon, dass es sich dabei um einen blossen Entwurf handelt, würde mit der
Verwirklichung der Revision in dem vom Bundesrat vorgeschlagenen Sinne
ein grundsätzlicher Wechsel im System des Jugendstrafrechtes vollzogen,
was aber nur auf dem Weg der Gesetzgebung geschehen kann. Dem Richter
steht es nicht zu, die geltende gesetzliche Ordnung abzuändern.

Erwägung 2

    2.- Nach der Aktenlage hat man es im vorliegenden Fall
beim Beschwerdeführer mit einem teils stark milieugeschädigten,
teils neurotisierten Jugendlichen zu tun, dem es offensichtlich an
Geborgenheit fehlt. Dass er sittlich verwahrlost ist, wird von der
Vorinstanz verbindlich festgestellt. Demzufolge ist der Jugendliche
erziehungsbedürftig. Daraus folgt, dass für die Anwendbarkeit des Art. 95
StGB kein Raum bleibt; vielmehr kommt nur eine der in Art. 91 StGB
genannten Erziehungsmassnahmen in Betracht, sofern der Beschwerdeführer
nicht gemäss Art. 92 StGB einer besonderen Behandlung bedarf.

Erwägung 3

    3.- Welche der in Art. 91 StGB vorgesehenen Massnahmen im Einzelfall
den Vorrang verdient, entscheidet die zuständige Behörde nach ihrem
Ermessen (BGE 88 IV 98 mit Verweisungen).

    a) Im vorliegenden Fall ist das Obergericht davon ausgegangen,
dass die früher angeordnete Einweisung des Beschwerdeführers in eine
Erziehungsanstalt noch andauere und dass deshalb dessen Erziehung in der
eigenen oder in einer anderen vertrauenswürdigen Familie nur in Frage
käme, wenn die laufende Massnahme nicht die geeignete wäre. Das hat die
Vorinstanz mit sachlich vertretbaren Gründen verneint. Erfahrungsgemäss
erfüllt die Familienerziehung bei fehlbaren Jugendlichen in der
Regel nur in Fällen leichterer Gefährdung ihre Aufgabe, weshalb
sie mit Vorsicht anzuwenden ist (SCHATZMANN, Anstaltsversorgung und
Familieneinweisung nach schweizerischem Jugendstrafrecht, ZStR 1953, S. 206
f.). Tatsächlich hat die eigene Familie ihrer Erziehungsaufgabe gegenüber
dem Beschwerdeführer nicht zu genügen vermocht; da dieser sittlich nicht
nur leicht gefährdet, sondern bereits schwer verwahrlost ist und bis anhin
erzieherisch erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat, überschritt somit
die Vorinstanz das ihr zustehende Ermessen nicht, wenn sie das Begehren
des Beschwerdeführers auf Erziehung in einer vertrauenswürdigen Familie
abwies. Soweit das Obergericht dabei die laufende Anstaltsversorgung bloss
vergleichsweise zur Bewertung der Erfolgsaussichten einer Familienerziehung
herangezogen hat, ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden.

    b) Dagegen hält dieser sachlich in dem Masse nicht stand, als darin
die erneute Einweisung des Beschwerdeführers in eine Erziehungsanstalt als
sinnlos abgelehnt wird, weil die gleiche Massnahme früher schon erfolglos
verfügt worden sei und ihre nochmalige Anordnung beim Fehlbaren die
Überlegung aufdrängen müsste, auch weitere strafrechtliche Verfehlungen
blieben ungeahndet. Diese Auffassung verkennt, dass im Jugendstrafrecht
der Sühnegedanke gegenüber den erzieherischen Bedürfnissen des Fehlbaren
zurückzutreten hat. Sie geht aber auch an der Erfahrungstatsache vorbei,
dass bei sittlich verwahrlosten oder verdorbenen Jugendlichen, die
Gefahr laufen, ins Gewohnheitsverbrechertum abzugleiten, regelmässig eine
lange erzieherische Betreuung notwendig ist und dass die Wirksamkeit der
Massnahme gerade in solchen Fällen häufig von der Beharrlichkeit abhängt,
mit der sie durchgeführt wird (BBl 1965 I 590). Dem hat übrigens der
Gesetzgeber ebenfalls Rechnung getragen, indem er einerseits in Art. 91
Ziff. 1 Abs. 2 StGB für die Anstaltserziehung eine Minimaldauer von einem
Jahr vorgeschrieben und anderseits die Möglichkeit des Vollzuges dieser
Massnahme bis zum 22. Altersjahr des Anstaltszöglings ausgedehnt hat.
Zieht man im vorliegenden Fall in Betracht, dass der Beschwerdeführer
erstmals mit Urteil des Bezirksgerichtes Zürich vom 21. November 1968
in eine Erziehungsanstalt eingewiesen wurde, dass also im Zeitpunkt des
angefochtenen Entscheides (16. Oktober 1969) die Massnahme nicht einmal ein
Jahr gedauert hatte und ihr Vollzug überdies wiederholt durch Entweichungen
des Beschwerdeführers aus den verschiedenen Anstalten unterbrochen
wurde, so kann nicht gesagt werden, der bisherige Misserfolg mache eine
nochmalige Anordnung der Anstaltsversorgung sinn- und zwecklos. Die
Auffassung der Vorinstanz lässt sich umso weniger halten, als Art. 93
Abs. 2 StGB eine Fortsetzung dieser Massnahme in Form einer strafferen
erzieherischen Betreuung vorsieht. Danach hat der Jugendliche, der sich
als unverbesserlich erweist, indem er beispielsweise trotz strenger
Aufsicht wiederholt aus der Anstalt entweicht, mit Erreichen des 18.
Altersjahres die Versetzung in eine Strafanstalt zu gewärtigen (BGE
91 IV 180, 85 IV 16). Da im vorliegenden Fall dieses Erziehungsmittel
für die Zukunft noch zur Verfügung steht, ist unter Vorbehalt von
Art. 92 StGB eine erneute Einweisung des Beschwerdeführers in eine
Erziehungsanstalt durchaus sinnvoll. Schon der Umstand, dass diesem
eine Versetzung in eine Strafanstalt droht, dürfte seine Wirkung nicht
verfehlen. Dazu kommt, dass die Annahme des Bezirksgerichtes, wonach der
Beschwerdeführer die Familienerziehung durch sein wiederholtes Entweichen
aus den Erziehungsanstalten erzwingen wollte, nicht ohne weiteres von der
Hand zu weisen ist. Mit der erneuten Anordnung der Anstaltsversorgung
aber dürfte dem Jugendlichen für die Zukunft auch die Erfolglosigkeit
eines solchen Unterfangens klar werden; der Eingewiesene soll sich
der Anstaltserziehung nicht durch schlechte Führung entziehen und die
Familienversorgung erzwingen können, wenn er diese für vorteilhafter hält
(BGE 92 IV 85 E. 2). Sofern also der Beschwerdeführer nicht im Sinne
von Art. 92 StGB behandlungsbedürftig ist und deshalb in eine besondere
Anstalt eingewiesen werden muss, ist daher erneut im Sinne des Art. 91
Ziff. 1 Abs. 1 StGB zu verfahren.

Erwägung 4

    4.- Die Frage, ob X. einer besonderen Behandlung gemäss Art. 92 StGB
bedürfe, hat die Vorinstanz nicht geprüft. Das hätte jedoch geschehen
müssen, nachdem im Gutachten der Beobachtungsstation Enggistein vom
12. November 1968 abschliessend ausdrücklich darauf hingewiesen wurde,
dass bei wiederkehrenden Entweichungen aus der Erziehungsanstalt
das weitere Vorgehen erneut geplant und allenfalls auch eine
psychotherapeutisch-medikamentöse Behandlung ins Auge gefasst werden
müsse, weil die Entweichungen dann nicht mit strengeren Massnahmen zu
bekämpfen wären, sondern höchstens mit dem Versuch einer "Beeinflussung
von innen her".

    Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie
die Behandlungsbedürftigkeit des Beschwerdeführers abkläre (Art. 90
StGB). Sollte sich dabei die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung
des Beschwerdeführers ergeben, diese jedoch ambulant oder auch in einer
Erziehungsanstalt durchgeführt werden können, so wird die Vorinstanz die
beiden Massnahmen (Art. 91 Ziff. 1 Abs. 1 und 92 StGB) kumulativ anzuordnen
haben (BGE 88 IV 99, 92 IV 85). Sollte X. jedoch einer Behandlung bedürfen,
die eine gleichzeitige Einweisung in eine Erziehungsanstalt ausschliesst,
so käme nur Art. 92 StGB zur Anwendung.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich - I. Strafkammer - vom 16. Oktober 1969
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.