Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 5



96 IV 5

2. Urteil des Kassationshofes vom 20. März 1970 i.S. Waser gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden. Regeste

    1. Art. 268 Ziff. 1 BStP.

    Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Urteil des
Kantonsgerichts Nidwalden in einer erstinstanzlich durch Strafurteil des
Strafgerichts Nidwalden erledigten Strafsache (Erw. 1).

    2. Art. 31 Abs. 1 StGB. Rückzug des Strafantrages.

    Unter Urteil erster Instanz ist ein Sachentscheid zu verstehen, der im
ordentlichen Gerichtsverfahren ergangen ist. Dass der Urteilsfällung eine
mündliche Parteiverhandlung vorausgegangen sei, ist nicht erforderlich
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Waser, der überschuldet war und kein Vermögen besass, verliess
Ende Dezember 1967 Frau und Kind unter dem Vorwand, er fahre mit einem
Kollegen nach Amerika, um einen gemeinsamen Freund zu besuchen, und werde
in zwei bis drei Wochen wieder zurück sein. In Wirklichkeit unternahm er
eine abenteuerliche Reise durch Afrika. Dort borgte er von einem Schweizer
einen kleineren Geldbetrag, den er entgegen seinem Versprechen nicht
zurückbezahlte. Ende Mai 1968 kehrte Waser mittellos in die Schweiz zurück.

    Frau Waser, der wenige Wochen nach der Abfahrt ihres Mannes das Geld
ausging, musste von der Heimatgemeinde Wolfenschiessen durch Beiträge von
zusammen Fr. 750.-- unterstützt werden. Ferner war sie auf die finanzielle
Hilfeleistung von Verwandten angewiesen.

    B.- Auf Strafklage der Armenverwaltung Wolfenschiessen und eine Anzeige
des geschädigten Schweizers führte das Verhöramt Nidwalden gegen Waser
eine Strafuntersuchung wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflichten
und wegen Betruges.

    Am 28. Februar 1969 verurteilte das Strafgericht Nidwalden Waser auf
Grund der Untersuchungsakten wegen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht
und wegen Betruges zu einem Monat Gefängnis.

    Gegen dieses Urteil erhob Waser am 12. April 1969 Rekurs an das
Kantonsgericht Nidwalden. Am 17. September 1969 schrieb der Armenrat
Wolfenschiessen dem Anwalt des Angeschuldigten, dass er den gegen
Waser gestellten Strafantrag, nachdem dieser die Unterstützungsbeiträge
zurückbezahlt habe, zurückziehe und annehme, dass der Anwalt auf Grund
dieser Mitteilung den Rückzug selber veranlasse. Am 4. Oktober 1969 leitete
der Anwalt dieses Schreiben unter Berufung auf die Rückzugserklärung an
das Kantonsgericht weiter.

    Das Kantonsgericht Nidwalden, das den Rekurs am 22. Oktober 1969
beurteilte, sprach Waser von der Anklage des Betruges frei, verurteilte
ihn dagegen wegen Vernachlässigung der Unterstützungspflicht (Art. 217
Ziff. 1 StGB) zu drei Wochen Gefängnis. Es nahm an, dass das Urteil
des Strafgerichts vom 28. Februar 1969 ein solches erster Instanz sei,
weshalb der erst nachträglich erklärte Rückzug des Strafantrages gemäss
Art. 31 Abs. 1 StGB nicht mehr berücksichtigt werden könne.

    C.- Waser führt gegen das Urteil des Kantonsgerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei wegen Verletzung von
Art. 31 StGB aufzuheben und die Sache zur Freisprechung oder Einstellung
des Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er macht geltend,
das Verfahren vor dem Strafgericht Nidwalden sei kein ordentliches
Gerichtsverfahren gewesen und das von ihm erlassene Erkenntnis kein Urteil
erster Instanz, sondern ein Verwaltungsakt. Das Kantonsgericht, das nicht
als zweite Instanz geurteilt habe, hätte daher infolge des rechtzeitigen
Rückzuges des Strafantrages keine Strafe ausfällen dürfen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das angefochtene Urteil des Kantonsgerichts ist ein
letztinstanzliches im Sinne des Art. 268 Ziff. 1 (Satz 1) BStP; nach dem
kantonalen Prozessrecht konnte es an keine obere Instanz weitergezogen
werden, welche die Anwendung eidgenössischen Rechts hätte frei überprüfen
können (Art. 22 Ziff. 1 und Art. 23 des Gesetzes des Kantons Nidwalden
über die Organisation und das Verfahren der Gerichte vom 28. April 1968;
BGE 92 IV 199 und dort erwähnte Entscheidungen). Weitere Voraussetzung der
Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde ist nach Art. 268 Ziff. 1 (Satz 2),
dass das Kantonsgericht, dem nach der kantonalen Gerichtsorganisation die
Stellung eines unteren Gerichts zukommt, als zweite Instanz entschieden
hat. Das trifft zu. Der erstinstanzliche Entscheid des Strafgerichts
war ein Urteil im Sinne des Art. 268 Ziff. 1 (Satz 1) BStP, denn das
Strafgericht hat, indem es den Beschwerdeführer der eingeklagten Delikte
schuldig erklärte und mit Strafe belegte, einen Entscheid in der Sache
selber gefällt, der unter Vorbehalt der Anfechtung durch Rekurs endgültig
war (BGE 72 IV 89, 74 IV 128, 83 IV 211). Es ist daher ungeachtet der
Auffassung des Beschwerdeführers, dass das Kantonsgericht als erste
Instanz geurteilt habe, auf die Beschwerde einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 31 Abs. 1 StGB kann bei Antragsdelikten der Strafantrag
vom Berechtigten solange zurückgezogen werden, als das Urteil erster
Instanz noch nicht verkündet ist.

    a) In BGE 92 IV 161 wurde in Abweichung von der früheren
Rechtsprechung entschieden, dass der Strafbefehl, der regelmässig
auf Grund eines summarischen Verfahrens und von einer andern Behörde
(Bezirksamt, Amtsstatthalter, Bezirksanwalt usw.) als der ordentlichen
unteren Gerichtsinstanz erlassen wird, erst dann einem im ordentlichen
Verfahren ergangenen Gerichtsurteil gleichgestellt werden kann, wenn
er mangels Anfechtung rechtskräftig geworden ist. Dass der Strafbefehl,
solange die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verlangt werden kann,
nicht Urteilscharakter hat, wurde hauptsächlich damit begründet, dass
der Antragsteller im Strafbefehlsverfahren sehr oft keine Gelegenheit zur
Mitwirkung oder Akteneinsicht habe und ohne ordentliches Gerichtsverfahren
sich auch kein hinreichendes Bild über Tat und Täter machen könne, um
zu entscheiden, ob er den Strafantrag aufrechterhalten oder zurückziehen
wolle. Als weiterer Grund wurde angeführt, dass die Revision des Art. 268
Ziff. 1 BStP vom 25. Juni 1965 weitgehend entwertet würde, wenn der noch
nicht rechtskräftige Strafbefehl als Urteil gälte, weil dann der Entscheid
der unteren Gerichtsinstanz, die auf Einsprache hin zu urteilen hat,
bereits ein der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof unterliegendes
zweitinstanzliches Urteil wäre, obschon ein ordentliches Gerichtsverfahren
erst vor einer Instanz stattgefunden hat.

    b) Der Kanton Nidwalden kennt das Strafbefehlsverfahren nicht. Alle
Strafsachen werden im ordentlichen Strafverfahren, d.h. auf Grund einer
vom kantonalen Verhörrichter durchgeführten Strafuntersuchung beurteilt,
und zwar erstinstanzlich durch das Strafgericht, wenn es sich um leichtere
Delikte handelt, sonst durch das Kantonsgericht. Soweit das Strafgericht
zuständig ist, erledigt es die Straffälle entweder durch Genehmigung
des vom Verhörrichter ausgefertigten und vom Betroffenen angenommenen
Strafantrages oder durch Strafurteil. Strafantrag wie Strafurteil können
an das Kantonsgericht weitergezogen werden (Art. 19 ff. des eingangs
erwähnten Gerichtsgesetzes des Kantons Nidwalden).

    Im vorliegenden Falle entschied das Strafgericht durch Strafurteil. Der
Entscheid, durch den der Beschwerdeführer erstinstanzlich verurteilt wurde,
ist also von einer Gerichtsinstanz nach freier und selbständiger Würdigung
des Untersuchungsergebnisses gefällt worden, so dass von einem blossen
Verwaltungsakt, wie der Beschwerdeführer einwendet, nicht die Rede sein
kann. Auch der weitere Einwand, das Verfahren vor dem Strafgericht sei
kein ordentliches gewesen, trifft nicht zu. Richtig ist zwar, dass Urteile
erster Instanz im ordentlichen Verfahren in der Regel nicht auf Grund der
Akten, sondern einer mündlichen Parteiverhandlung gefällt werden. Unter
dem Gesichtspunkt des Art. 31 Abs. 1 StGB ist aber die Durchführung
einer mündlichen Parteiverhandlung nicht entscheidend. Massgebend ist,
dass der Antragsteller vor der Urteilsfällung Gelegenheit hatte, in
Kenntnis aller wesentlichen Umstände sich über die Aufrechterhaltung
oder den Rückzug des Strafantrages schlüssig zu werden, und dass auch
der Angeschuldigte im Hinblick auf eine mögliche Verständigung mit
dem Geschädigten sich über seine Aussichten im Prozess ein Bild machen
konnte. Diese Voraussetzungen waren hier gegeben. Es wurde nicht nur ein
vorläufiges Ermittlungsverfahren, sondern eine umfassende Strafuntersuchung
durchgeführt, und sowohl dem Angeschuldigten als auch der Antragstellerin
ist vom Abschluss der Untersuchung Kenntnis gegeben worden mit der
Aufforderung, innert der gesetzten Frist in die Untersuchungsakten Einsicht
zu nehmen und gegebenenfalls Vervollständigungsbegehren zu stellen.
Beide konnten sich demnach anhand der vollständigen Akten über die
Sachlage, wie sie dem Strafgericht zur Beurteilung unterbreitet wurde,
Rechenschaft geben und vor der Urteilsfällung die für einen allfälligen
Rückzug des Strafantrages erforderlichen Entschlüsse fassen. Dass die
Antragstellerin nur berechtigt, aber nicht verpflichtet war, in die
Akten Einsicht zu nehmen, ändert nichts; auch im Verfahren mit mündlicher
Hauptverhandlung ist dem Geschädigten freigestellt, ob er in die Akten
Einblick nehmen und vor Gericht erscheinen will.

    Der Entscheid des Strafgerichts war somit ein Urteil erster Instanz
im Sinne des Art. 31 Abs. 1 StGB, so dass der erst nachträglich erfolgte
Rückzug des Strafantrages vom Kantonsgericht zu Recht nicht berücksichtigt
worden ist.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.