Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 139



96 IV 139

36. Entscheid der Anklagekammer vom 3. November 1970 i.S. Frauenknecht
gegen eidg. Untersuchungsrichter und Schweiz. Bundesanwaltschaft. Regeste

    Art. 44 Ziff. 1 und 52 Abs. 2 BStP. Beschwerde gegen die Abweisung
eines Haftentlassungsgesuches.

    1.  Entspricht der Untersuchungsrichter einem Gesuch des Verhafteten
auf Wiedererwägung der Abweisung, so ist die Beschwerde auch gegen den
neuen Entscheid zulässig (Erw. 1).

    2.  Die Beschwerde kann nur gutgeheissen werden, wenn der
Untersuchungsrichter das Gesetz verletzt oder sein Ermessen offensichtlich
überschritten hat (Erw. 2).

    3.  Haftbelassung wegen dringenden Fluchtverdachts, wenn dem
Beschuldigten eine mit Zuchthaus bedrohte Tat vorgeworfen wird (Erw. 3).

    4.  Die Anklagekammer ist nur Beschwerdeinstanz (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Alfred Frauenknecht soll in den Jahren 1968/69 mehrere
hunderttausend Pläne und Zeichnungen für die Herstellung des
Mirage-Triebwerkes an Agenten Israels weitergeleitet und dafür über Fr. 800
000.-- erhalten haben. Er wird in einer eidgenössischen Voruntersuchung
des wirtschaftlichen Nachrichtendienstes und der Verletzung militärischer
Geheimnisse beschuldigt und befindet sich seit 23. September 1969 in Haft.

    Am 3. Februar 1970 wurde er dem eidgenössischen Untersuchungsrichter
zugeführt, der ihn wegen dringenden Fluchtverdachts in Haft behielt und
ein erstes Haftentlassungsgesuch am 3. März 1970 abwies. Die Anklagekammer
des Bundesgerichtes wies eine gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerde
Frauenknechts am 19. März 1970 ab.

    Am 24. September 1970 stellte der Beschuldigte ein neues
Haftentlassungsgesuch. Der wegen Abwesenheit des eidgenössischen
Untersuchungsrichters entscheidende erste Ersatzmann wies es am
29. September 1970 ab. Beschwerde wurde gegen diese Verfügung nicht
geführt.

    Am 18. Oktober 1970 stellte Frauenknecht erneut ein Begehren um
Haftentlassung. Er warf dem Stellvertreter des Untersuchungsrichters vor,
er habe ohne Kenntnis der Akten und der Persönlichkeit des Beschuldigten
entschieden, und erklärte die Begründung der Eingabe vom 24. September zum
"integrierenden Bestandteil" des neuen Gesuches. Andere Gründe brachte
er nicht vor.

    Am 21. Oktober 1970 wies der eidgenössische Untersuchungsrichter
das Gesuch ab. Zur Begründung führte er aus, gemäss Art. 44 BStP könne
ein Beschuldigter schon dann wegen Fluchtverdachts in Haft genommen
werden, wenn ihm eine mit Zuchthaus bedrohte Tat vorgeworfen werde. Dies
treffe hier insofern zu, als ein schwerer Fall von wirtschaftlichem
Nachrichtendienst gegeben sei. Auch der Tatbestand der Verräterei gemäss
Art. 86 MStG, auf den ausschliesslich Zuchthaus angedroht sei, komme in
Frage. Die Verhältnisse hätten sich seit dem Entscheid der Anklagekammer
nicht geändert. Frauenknecht sei für Israel auch heute noch eine wertvolle
Kraft. Er könnte sich nach wie vor ins Ausland flüchten. Im übrigen seien
die Ausführungen des Entscheides vom 29. September 1970 zu bestätigen.

    B.- Mit Eingabe vom 23./26. Oktober 1970 führt Frauenknecht durch
seinen Verteidiger gegen den Entscheid vom 21. Oktober Beschwerde. Er
beantragt, er sei aus der Haft zu entlassen, eventuell sei dem
Beschwerdeführer zu gestatten, "mit anderen Gefangenen zuweilen zu
sprechen, etwa gemeinsam ein Essen einzunehmen, und auch Besuche künftig
allein, ohne Aufsicht, zu empfangen, zumal Besuche seiner Frau".

    C.- Der eidgenössische Untersuchungsrichter beantragt, die Beschwerde
abzuweisen und auf die Eventualanträge nicht einzutreten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Entscheid des ersten Ersatzmannes des eidgenössischen
Untersuchungsrichters vom 29. September 1970 ist in Rechtskraft erwachsen,
da gegen ihn nicht Beschwerde geführt wurde. Dass seit der Einreichung
des Gesuches vom 24. September 1970 neue Verhältnisse eingetreten seien,
die ein neues Haftentlassungsgesuch rechtfertigten, wurde im Gesuch
vom 18. Oktober 1970 nicht geltend gemacht. Dieses Gesuch ging somit
bloss auf Wiedererwägung des Entscheides vom 29. September 1970. Der
Untersuchungsrichter hätte darauf nicht einzutreten brauchen. Tatsächlich
ist er aber eingetreten, indem er prüfte, ob ein Grund zur Haftentlassung
vorliege. Daher ist die Beschwerde gegen den Entscheid vom 21. Oktober
zulässig. Es verhält sich gleich wie in der Verwaltungsrechtspflege des
Bundesgerichtes nach Art. 97 ff. OG (BGE 60 I 52, 70 I 120, 72 I 55,
75 I 392, 83 I 32 Erw. 1, 86 I 245 Erw. 2, 91 I 361, 95 I 278).

Erwägung 2

    2.- Die in Art. 52 Abs. 2 BStP vorgesehene Beschwerde gegen die
Abweisung eines Haftentlassungsgesuches ist die gleiche wie die in
Art. 214 ff. BStP geregelte. Sie kann nur gutgeheissen werden, wenn der
Untersuchungsrichter das Gesetz verletzt oder das ihm eingeräumte Ermessen
offensichtlich überschritten hat (BGE 77 IV 56, 83 IV 182 Erw. b, 90 IV
239 f.). Die Anklagekammer hat nicht nach eigenem Ermessen zu prüfen,
ob sich die Amtshandlung des Untersuchungsrichters, d.h. die Ablehnung
der Haftentlassung, rechtfertigt oder nicht. Es ist nicht ihre Aufgabe,
in das Ermessen des Untersuchungsrichters einzugreifen und ihm dadurch
die Verantwortung für die Führung der Untersuchung abzunehmen (BGE 95 IV
46 Erw. 2).

Erwägung 3

    3.- Art. 44 BStP gestattet die Verhaftung und Haftbelassung des wegen
eines Verbrechens oder Vergehens dringend Verdächtigen unter anderem dann,
wenn dringender Fluchtverdacht besteht. Ein solcher kann insbesondere
bejaht werden, wenn dem Beschuldigten eine mit Zuchthaus bedrohte Tat
vorgeworfen wird. Massgebend ist die angedrohte, nicht die tatsächlich zu
erwartende Strafe. Letztere vermag die Haftentlassung nur zu rechtfertigen,
wenn sie einen Fluchtverdacht als nicht dringlich erscheinen lässt.

    Der Untersuchungsrichter hat daher das Gesetz nicht verletzt. Er
beschuldigt den Beschwerdeführer eines schweren Falles wirtschaftlichen
Nachrichtendienstes (Art. 273 Abs. 3 StGB) und der Verletzung militärischer
Geheimnisse (Art. 86 MStG). Beide Bestimmungen drohen Zuchthaus an.

    Der Untersuchungsrichter hat auch das Ermessen, das ihm in der
Abwägung des Grades des Fluchtverdachtes zusteht, nicht überschritten. Es
ist nicht offensichtlich unrichtig, dass er den wirtschaftlichen
Nachrichtendienst des Beschwerdeführers als schwer würdigt. Die Auffassung
des Beschwerdeführers, er sei nicht ein Spion, der für Geld gewissenlos
Nachrichtendienst betrieben habe, überzeugt angesichts des erhaltenen
Verbrecherlohnes nicht. Schwere Fälle aber müssen mit Zuchthaus bestraft
werden; Art. 273 Abs. 3 StGB lässt dem Richter nicht die Wahl, Gefängnis
auszusprechen. Ob es auch wahrscheinlich sei, dass der Beschwerdeführer
militärische Geheimnisse verletzt habe, kann deshalb dahingestellt
bleiben. Die Dringlichkeit des Fluchtverdachtes entfällt auch nicht
offensichtlich deshalb, weil die bereits ausgestandene Haft die zu
erwartende Strafe voraussichtlich tilgen werde, denn es sind bis zu zwanzig
Jahre Zuchthaus angedroht (Art. 35 Ziff. 1 StGB). Massgebend für die Frage
der Ermessensüberschreitung sind die Verhältnisse zur Zeit der Abweisung
des Haftentlassungsgesuches, nicht die Lage, die sich allenfalls entwickeln
könnte, wenn die Erhebung der Anklage oder die Beurteilung derselben sehr
lange auf sich warten liesse. Auch liegt nicht auf der Hand, dass die
Fluchtgefahr nicht mehr bestehe, weil der zu erwartende Strafrest für den
Beschwerdeführer keinen genügenden Anreiz mehr biete, die Nachteile einer
Flucht ins Ausland auf sich zu nehmen. Der Beschwerdeführer kommt sich
nach der Auffassung des Untersuchungsrichters immer mehr als Märtyrer vor
und wäre wegen seiner uneinsichtigen Haltung wahrscheinlich nicht bereit,
die Strafe auf sich zu nehmen. Diese Überlegung fällt nicht aus dem Rahmen
des Ermessens. Dazu kommt, dass, wie der Untersuchungsrichter mit Recht
geltend macht, Israel in hohem Masse an der Person des Beschwerdeführers
interessiert sein muss und der Beschwerdeführer im Falle der Freilassung
in der Schweiz kaum leicht eine Arbeitsstelle fände, die seinen Wünschen
nach materiellen Vorteilen entspräche.

    Die weiteren Anbringen des Beschwerdeführers sind unter dem
Gesichtspunkt der Dringlichkeit des Fluchtverdachtes bedeutungslos. So
kommt nichts darauf an, ob der Beschwerdeführer nach der Haftentlassung
durch Studium der Literatur besser zur Vorbereitung seiner Verteidigung
beitragen könnte, in Reichweite seiner Familie und seines Anwaltes wäre
und gewisse Verhandlungen angeblich zum Vorteil der Eidgenossenschaft
zu Ende zu führen und dadurch nach seiner Auffassung aufrichtige Reue
zu betätigen vermöchte. An der entscheidenden Frage vorbei geht auch
das Argument, ein Staat, "der zugunsten arabischer Mörder nicht nur
weite Massstäbe anwendet, sondern das Recht selbst verletzt", sollte
"aus neutralitätsrechtlichen also verfassungsrechtlichen Gründen nicht
hinsichtlich Israels derartig strenge Massstäbe anlegen".

    Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

Erwägung 4

    4.- Da die Anklagekammer nicht Untersuchungsbehörde, sondern
nur Beschwerdeinstanz ist, kann sie auf die Eventualbegehren des
Beschwerdeführers nicht eintreten. Der Beschwerdeführer hat diese Anträge
beim Untersuchungsrichter nicht gestellt, und ein Entscheid hierüber,
der auf dem Beschwerdeweg angefochten werden könnte, liegt nicht vor.

Entscheid:

                   Demnach erkennt die Anklagekammer:

    1.- Die Beschwerde wird abgewiesen.

    2.- Auf die Eventualanträge des Beschwerdeführers wird nicht
eingetreten.