Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 133



96 IV 133

35. Urteil des Kassationshofes vom 2. Oktober 1970 i.S. Haldimann gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 38 Abs. 1 SVG; Tragweite dieser Bestimmung im Verhältnis zu
allgemeinen Vorsichtspflichten.

    1.  Das Vortrittsrecht gilt nur im Rahmen der von Gesetz und Verordnung
allgemein den Fahrzeugführern auferlegten Vorsichtspflichten, soweit
deren Erfüllung mit Rücksicht auf die technischen Besonderheiten der
Strassenbahn möglich ist.

    2.  Die Grundregel von Art. 26 Abs. 2 SVG gilt auch für den Führer
einer Strassenbahn.

    3.  Diesen trifft bei einem Manöver gemäss Art. 45 Abs. 1 VRV eine
erhöhte Sorgfaltspflicht; nach den Umständen kann es geboten sein, ein
solches Manöver durch eine Hilfsperson überwachen zu lassen.

Sachverhalt

    A.- Am 11. Februar 1969, um 13.45 Uhr, ereignete sich auf der
Thunstrasse in Bern vor der Station Kirchenfeld der Vereinigten Bern -
Worb - Bahnen (VBW), deren Geleise in die genannte Strasse eingelassen
sind, eine Streifkollision zwischen einem von Haldimann gesteuerten
VBW-Triebwagen und einem von Bernhard Hofer geführten Tanklastenzug.
Haldimann wollte den Triebwagen der Zugskomposition, die er zuvor von Worb
her nach dem Kirchenfeld geführt hatte, zur Rückfahrt an die Spitze des
Zuges manövrieren. Zu diesem Zwecke musste er zunächst vom Abstellgeleise
vor der Station Kirchenfeld auf das stadteinwärts führende Tramgeleise
fahren und von diesem in entgegengesetztem Sinne von links nach rechts
schräg die Strasse überqueren, um in das stadtauswärts führende Geleise
zu gelangen. Vor dem Wechsel der Fahrbahnseite beobachtete Haldimann
im Rückspiegel die Verkehrslage in Richtung des Helvetiaplatzes und
setzte daraufhin den Triebwagen in Bewegung, wobei er auf 14 km/Std
beschleunigte. Gleichzeitig fuhr Hofer mit einem Tanklastenzug vom
Helvetiaplatz her stadtauswärts. In der Folge näherten sich Triebwagen
und Lastenzug seitlich immer mehr, bis schliesslich zwischen dem rechten
Randstein und dem Lichtraumprofil des Triebwagens für den 2,35 m breiten
Lastenzug bloss noch 2,70 m Raum blieben. Zu Beginn der rechtsseitigen
Einmündung der Helvetiastrasse, wo der Triebwagen wegen der Linksbiegung
des Schienenwegs eine grössere seitliche Ausladung hatte als auf gerader
Strecke, stiess das genannte Fahrzeug mit der vorderen rechten Ecke gegen
den Anhänger des Tanklastenzuges.

    B.- Am 16. März 1970 verurteilte der Gerichtspräsident IX von Bern
Haldimann wegen unaufmerksamen Manövrierens mit der Strassenbahn (Art. 26,
48 SVG und 45 Abs. 1 VRV) und Hofer wegen unvorsichtigen Fahrens mit
einem Tanklastenzug (Art. 31 Abs. 1 und 38 Abs. 1 SVG) zu Bussen von je
Fr. 50.-. Auf Appellation Haldimanns bestätigte das Obergericht des Kantons
Bern am 21. Mai 1970 das erstinstanzliche Urteil, soweit es jenen betraf.

    C.- Haldimann führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer bestreitet, sich der
ihm zur Last gelegten Gesetzesverletzungen schuldig gemacht zu haben.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern hat sich mit dem Antrag auf
Abweisung der Beschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 38 Abs. 1 SVG ist der Strassenbahn das Geleise
freizugeben und der Vortritt zu lassen. Diese Regel findet ihren
Grund darin, dass die Strassenbahn schienengebunden ist, gegenüber
Pneufahrzeugen einen unverhältnismässig längeren Bremsweg hat und dass
der Bremsvorgang anders als bei Pneufahrzeugen abläuft; mit Rücksicht
auf die Passagiere sind Schnellbremsungen tunlichst zu vermeiden. Das
dem Führer einer Strassenbahn zustehende Vortrittsrecht hat indessen, wie
die Vortrittsrechte anderer Strassenbenützer, keinen absoluten Charakter;
es darf nicht unbekümmert um das übrige Verkehrsgeschehen ausgeübt werden
(BGE 76 IV 133, 90 IV 90, 93 IV 33 u.a.m.). Vielmehr besteht auch es nur
im Rahmen der von Gesetz und Verordnung allgemein den Fahrzeugführern
auferlegten Vorsichtspflichten, soweit deren Erfüllung mit Rücksicht auf
die Besonderheit der Strassenbahn, ihres Betriebes und der Bahnanlagen
möglich ist (Art. 48 SVG).

    So gilt die Grundregel des Art. 26 Abs. 2 SVG, der zufolge besondere
Vorsicht geboten ist, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein anderer
Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird, auch für den Führer einer
Strassenbahn. Wo solche besondere Umstände gegeben sind, darf auch dieser
nicht einfach - auf sein Recht pochend - zufahren, sondern er hat alles
in seiner Macht Liegende zu tun, um der drohenden Gefahr eines Unfalls
zu begegnen. Er darf namentlich nicht weiterfahren, wenn er sieht oder
bei gebotener Aufmerksamkeit hätte sehen können, dass ein anderer ihm
den Vortritt nicht lassen will oder nicht lassen kann. Insoweit trifft
ihn dieselbe allgemeine Sorgfaltspflicht wie andere vortrittsberechtigte
Fahrzeuglenker auch (BGE 77 IV 221, 89 IV 145, 91 IV 142, 92 IV 19,
93 IV 35 E. 3).

    Zusätzlich zu dieser allgemeinen Pflicht ist der Führer einer
Strassenbahn kraft der ausdrücklichen Sonderregel des Art. 45 Abs. 1
VRV unter anderem beim Wechseln der Fahrbahnseite zu erhöhter Vorsicht
gehalten. Dem Umstand, dass es sich hiebei, wie die Vorinstanz mit
Recht ausführt, im Grunde genommen um ein verkehrsfremdes und deshalb
gefährliches Manöver handelt, muss der Führer eines Tramwagens durch
eigene und umsichtige Prüfung der Sachlage Rechnung tragen; er kann
sich dieser besonderen Sorgfaltspflicht nicht mit dem Hinweis auf die
nach Art. 38 Abs. 1 SVG bestehende Wartepflicht des andern entledigen
(BGE 92 IV 36; SCHULTZ, Die strafrechtliche Rechtsprechung zum neuen SVG,
S. 203/4; s. auch die Praxis zum Manöver des Art. 13 Abs. 5 VRV: BGE 91
IV 16, 94 IV 77). Diese erhöhte Sorgfaltspflicht des Strassenbahnführers
ist immer gegeben, wenn er eines der in Art. 45 Abs. 1 VRV erwähnten
Manöver ausführt, unbekümmert darum, ob eine konkrete Gefahr geschaffen
wird oder nicht. Die Verkehrsregeln des SVG und der VRV sind um der
Verkehrssicherheit willen erlassen worden und wollen schon der abstrakten
Gefährdung des Strassenverkehrs entgegenwirken (BGE 92 IV 34/35).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall stellt das Obergericht in tatsächlicher
Beziehung fest, dass der Beschwerdeführer sich nicht mehr um die
Verkehrsentwicklung gekümmert hat, nachdem er vom Abstellgeleise
einmal losgefahren war. Insbesondere habe er nicht mehr in den rechten
Rückspiegel geblickt, als er in den Bereich des Verkehrsstromes gelangt
sei. Damit hat er die ihm nach Art. 45 Abs. 1 VRV obgelegene Pflicht zu
erhöhter Vorsicht missachtet, zumal wenn man berücksichtigt, dass nach der
verbindlichen Feststellung der Vorinstanz das Manöver 12 Sekunden gedauert
hat und nach den im Plan des wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei
Zürich enthaltenen Angaben vom Beginn des Manövers bis zum Zeitpunkt,
da die Führerkabine des von Hofer gesteuerten Tanklastenzuges neben
dem Führerstand des Triebwagens der VBW-Bahn erschien, 7 bis 8 Sekunden
verflossen waren. Vor 14.00 Uhr herrscht auf Innerortsstrecken in Städten
zumeist reger Verkehr; der Strassenbahnführer, der von links nach rechts
die Fahrbahnseite wechselt, hat deshalb dem Umstand Rechnung zu tragen,
dass sich die Verkehrslage innert Sekundenfrist entscheidend ändern
kann. Er darf sich nicht auf ein vor mehreren Sekunden im Rückspiegel
gewonnenes Wahrnehmungsbild verlassen und im Vertrauen darauf zufahren,
dass die andern der durch sein Manöver geschaffenen gefährlichen Lage
durch entsprechend erhöhte Vorsicht begegnen würden. Das aber hat im
vorliegenden Fall Haldimann getan, was ihm als Übertretung von Art. 45
Abs. 1 VRV zur Last fällt.

    Von diesem Vorwurf vermag ihn der Umstand nicht zu entlasten,
dass er, als der Triebwagen quer in der Strasse fuhr, im Rückspiegel
den Helvetiaplatz angeblich nicht mehr hat überblicken können. Die
Vorinstanz hält dem zutreffend entgegen, dass Haldimann - wenn die
Beobachtungsverhältnisse vom Führerstand des Triebwagens aus wirklich
so schlecht gewesen sein sollten - sein Manöver durch eine Hilfsperson,
z.B. den Kondukteur, hätte überwachen lassen sollen. Diese Pflicht
ergab sich für den Beschwerdeführer unmittelbar aus Art. 45 Abs. 1 VRV
(vgl. BGE 89 IV 143 und 145). Von der Anordnung einer solchen Vorkehr
durfte Haldimann nicht deswegen absehen, weil der Schaffner mit dem
Auslad voll beschäftigt gewesen sei. Zieht man in Betracht, dass das
Manöver 12 Sekunden gedauert hat, so erhellt ohne weiteres, dass mit der
Inanspruchnahme des Kondukteurs für den Wechsel der Fahrbahnseite der
Auslad und damit die fahrplanmässige Abwicklung des Bahnbetriebes keine
so erhebliche Verzögerung erfahren hätten, dass die genannte Massnahme
dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten gewesen wäre.

Erwägung 3

    3.- Eine Verletzung seiner Vorsichtspflicht hat sich der
Beschwerdeführer aber auch dadurch zuschulden kommen lassen, dass er, als
die Führerkabine des Lastenzuges 4-5 Sekunden vor der Kollision auf der
Höhe seines Führerstandes erschien und er das Strassenfahrzeug wahrnahm,
mit unverminderter Geschwindigkeit seine Fahrt fortsetzte, obwohl er
sah, dass sich die beiden Fahrzeuge immer mehr näherten. Als erfahrener
Triebwagenführer musste er bei gebotener Aufmerksamkeit erkennen, dass es
dabei zu einer kritischen Lage kommen konnte. Da bei Schienenfahrzeugen
die Ausladung in Biegungen erfahrungsgemäss grösser ist als auf geraden
Strecken (BGE 92 IV 35), konnte ihm nicht entgehen, dass bei der Einfahrt
des Triebwagens in das rechte Geleise für einen breiten Lastenzug zwischen
dem Randstein und dem Lichtprofil jenes Wagens wenig Raum blieb und deshalb
die geringste seitliche Abweichung des Lastenzuges zu einer Kollision
führen musste. Diese Möglichkeit war umso mehr in Rechnung zu stellen,
als einerseits dem Beschwerdeführer nach der verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz bekannt war, dass die Strassenfahrzeuge an der Unfallstelle
die Tendenz haben, nach links, d.h. gegen die Strassenbahn zu neigen,
und anderseits die Erfahrung im Strassenverkehr zeigt, dass Anhänger bei
Unebenheiten der Fahrbahn leicht seitlichen Schwankungen unterliegen und
weniger Beharrungsvermögen haben als die schwereren und unter dem Schub
des Motors besser in der gewollten Fahrlinie gehaltenen Zugwagen. Als
Haldimann sah, dass zwischen der 5. und der 4. Sekunde vor dem Unfall sich
der Tanklastwagen immer mehr an seinem Führerstand vorbei nach vorne schob,
musste ihm überdies klar werden, dass Hofer nicht die Absicht hatte, ihn
zuerst durch den "Engpass" durchfahren zu lassen. Darin aber lag nach der
gesamten Verkehrslage ein konkretes Anzeichen für ein Fehlverhalten des an
sich wartepflichtigen Lastwagenführers (Art. 26 Abs. 2 SVG), das Haldimann
nicht unbeachtet lassen durfte. Hatte er sich als Vortrittsberechtigter
nicht zum vorneherein auf eine vorschriftswidrige Fahrweise des andern
einzurichten (BGE 93 IV 34, 94 IV 143), so musste er nunmehr alles tun,
um der drohenden Unfallgefahr zu begegnen (BGE 96 IV 38). Namentlich
hätte er sogleich eine Schnellbremsung einleiten sollen, mittels der er
nach den tatsächlichen Annahmen der Vorinstanz den Triebwagen auf 2-2,5
m hätte zum Stehen bringen können. Eine Schnellbremsung wäre ihm umsomehr
zuzumuten gewesen, als er während seines Manövers offenbar keine Passagiere
mitführte. Statt dessen hat er, wie das Obergericht weiter verbindlich
feststellt, der Sache den Lauf gelassen, indem er von dem Augenblick an,
da er den rechts vorstossenden Lastenzug gewahrte, bis zur Kollision
noch 14-17 m zurücklegte, ohne irgendetwas zur Verhütung des Unfalls zu
unternehmen. Damit hat Haldimann seine Vorsichtspflicht erneut verletzt,
was zur Abweisung der Beschwerde führen muss.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.