Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 111



96 IV 111

29. Urteil des Kassationshofes vom 30. November 1970 i.S. Leibundgut gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 169 StGB. Massgebend für die Feststellung, ob der Verdienst
aus selbständigem Erwerb den Notbedarf überschritten habe, ist bei
der Pfändung eines festen Monatsbetrages nicht das Einkommen jedes
einzelnen Monats, sondern der während der ganzen Pfändungsdauer erzielte
durchschnittliche Monatsverdienst. Dabei sind vom Bruttoeinkommen die
auf die Pfändungsperiode entfallenden Gewinnungskosten abzuziehen, und
zwar auch dann, wenn diese erst später bezahlt werden.

Sachverhalt

    A.- Otto Leibundgut, der sich seit Jahren in einer gespannten
finanziellen Lage befand, bestritt vom April 1968 an seinen Lebensunterhalt
vor allem dadurch, dass er in Ittigen in einer verlassenen Stallung,
die er gemietet und hergerichtet hatte, fremde Pferde wartete, sie
ausmietete und gelegentlich Verkäufe vermittelte. In mehreren gegen ihn
durchgeführten Pfändungen bezifferte er sein monatliches Einkommen auf ca.
Fr. 600.--. Als für die Zeit vom 20. April 1968 bis 11. Februar 1969 von
seinem Verdienst monatlich Fr. 100.-- gepfändet wurden, erhob er keine
Einwendungen, leistete aber auch nie eine Zahlung. Das Betreibungsamt
Bern erstattete daher am 12. Juli 1969 Strafanzeige gegen Leibundgut wegen
Verstrickungsbruches und wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen.

    B.- Das Strafamtsgericht Bern sprach Leibundgut am 1. September 1969
von der Anschuldigung des Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen (Art. 292
StGB) frei. Es erklärte ihn dagegen der Verfügung über gepfändete Sachen
(Art. 169 StGB) schuldig und verurteilte ihn zu vier Monaten Gefängnis.

    Gegen die Verurteilung appellierte Leibundgut an das Obergericht des
Kantons Bern. In der Hauptverhandlung schloss sich der Generalprokurator
seinem Antrag auf Freispruch an. Die II. Strafkammer des Obergerichts
bestätigte am 30. Januar 1970 den Schuldspruch und setzte die Strafe auf
drei Monate Gefängnis herab.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht
mit dem Antrag, das Urteil des bernischen Obergerichts aufzuheben und
die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 169 StGB ist strafbar, wer u.a. über eine amtlich
gepfändete Sache eigenmächtig zum Nachteil der Gläubiger verfügt.

    Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts sind unter Sachen im
Sinne dieser Bestimmung auch Rechte und andere Forderungen zu verstehen
(BGE 87 IV 118 lit. a), namentlich der Anspruch auf Lohn und anderes
Arbeitseinkommen, gleichgültig, ob der Verdienst aus unselbständiger
oder selbständiger Erwerbstätigkeit stammt (BGE 84 IV 155). Art. 169 StGB
erfasst auch den gepfändeten Anspruch auf Lohn, der noch nicht verdient
ist, und ebenso den gepfändeten künftigen Verdienst aus selbständiger
Arbeit (BGE 82 IV 187, 84 IV 155, 85 III 38, 86 III 15, 53, 91 IV 69).

Erwägung 2

    2.- Das Einkommen aus selbständiger Berufstätigkeit ist insoweit
pfändbar, als es nach Abzug der notwendigen Auslagen (Gestehungs-
oder Gewinnungskosten) den Notbedarf des Schuldners übersteigt
(BGE 86 III 16). Zu diesem Zweck hat das Betreibungsamt auf Grund
des durchschnittlichen Ertrages und Aufwandes das zu erwartende
durchschnittliche Reineinkommen einerseits und das Existenzminimum
anderseits festzustellen und gestützt darauf einen bestimmten Betrag
zu bestimmen, der monatlich abzuliefern ist, sofern nicht auf künftige
monatliche Abrechnung hin ein veränderlicher Betrag, der jeweils sich
ergebende Überschuss, gepfändet wird (BGE 85 III 40 Erw. 3, 86 III
56). Kommt der Schuldner seiner Pflicht zur Ablieferung der gepfändeten
Monatsbeträge trotz rechtskräftiger Verdienstpfändung in der Folge nicht
nach und wird deshalb ein Strafverfahren gegen ihn durchgeführt, so hat der
Strafrichter den Verdienstumfang und den Notbedarf des Schuldners sowie
die allfällige pfändbare Quote selber zu ermitteln, um festzustellen,
ob eine strafbare Handlung vorliege oder nicht.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer bei seiner möglicherweise
leichtfertigen Angabe, er werde monatlich voraussichtlich Fr. 600.--
verdienen, zu Recht nicht behaftet, sondern stellte auf die während der
Dauer der Einkommenspfändung tatsächlich erzielten Einkünfte ab. Wie
das Strafverfahren ergab, waren diese in den fraglichen zehn Monaten
unterschiedlich hoch und schwankten monatlich zwischen Fr. 40.- und Fr.
1'134.--. Die Vorinstanz prüfte, in welchen Monaten der Verdienst das
Existenzminimum, das in den ersten drei Monaten Fr. 400.--, in den
folgenden Fr. 550.-- betrug, überschritten habe oder nicht und sprach
dementsprechend den Beschwerdeführer für drei Monate, in denen der
Verdienst kleiner war, von der Anschuldigung des Verstrickungsbruches frei,
wogegen sie ihn für die übrigen sieben Monate schuldig erklärte.

    Dieses Vorgehen ist bei der Verdienstpfändung eines
selbständigerwerbenden Schuldners, insbesondere eines solchen mit
unregelmässigen Einnahmen und Auslagen, unzutreffend. Wäre der Schuldner
bei der Pfändung eines festen Monatsbetrages nur ablieferungspflichtig,
wenn sein Verdienst in den einzelnen Monaten das Existenzminimum
übersteigt, käme man zum unbefriedigenden Ergebnis, dass der Schuldner
die Höhe der abzuliefernden Beträge weitgehend selber bestimmen könnte,
indem er in den Monaten, in denen er den Verdienst absichtlich unter
den Notbedarf sinken lässt, nichts zu bezahlen hätte, in andern dagegen,
in denen er für ein übermässig hohes Einkommen sorgt, trotzdem nur die
festgesetzte Quote abliefern müsste. Die Annahme der Vorinstanz, dass der
jeweilige tatsächliche Monatsverdienst massgebend sei, hätte ausserdem die
unbillige Folge, dass ein Schuldner, der regelmässig das Existenzminimum
übersteigende Einnahmen erzielt, aber die Geschäftsunkosten (z.B. Miete,
Lieferantenrechnungen) in grösseren Zeitabständen zu bezahlen hat,
während Monaten zur Ablieferung der Pfändungsquote verpflichtet wäre, die
Gewinnungskosten dagegen unter Umständen überhaupt nicht oder nur in dem
Monat, in dem er die Anschaffungen bezahlt, abziehen könnte, was zu einer
Verfälschung der wirklichen Einkommensverhältnisse führen würde. Um zu
einem den Gegebenheiten gerecht werdenden Ergebnis zu gelangen, hätte die
Vorinstanz, statt die Einkünfte jedes einzelnen Monats dem Existenzminimum
gegenüberzustellen, auf Grund des während der ganzen Pfändungsperiode
erzielten Verdienstes das durchschnittliche Monatseinkommen berechnen und
gestützt darauf ermitteln müssen, ob der Notbedarf überschritten wurde oder
nicht. Bereits das aus der vorinstanzlichen Aufstellung sich ergebende
Gesamtbruttoeinkommen von Fr. 5'297.-- zeigt, dass der durchschnittliche
Monatsverdienst von Fr. 529.70 das während sieben Monaten auf Fr. 550.--
bemessene Existenzminimum nicht erreichte.

    Entscheidend ist jedoch nicht das Bruttoeinkommen, sondern der
Nettoverdienst, der allein von der Einkommenspfändung erfasst wird.
Gewinnungskosten, ohne die ein pfändbares Einkommen überhaupt nicht erzielt
werden könnte, sind daher vom Bruttoeinkommen abzuziehen. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz ist die Berücksichtigung von Gewinnungskosten
nicht davon abhängig zu machen, ob sie vom Schuldner tatsächlich bezahlt
wurden oder nicht. Aufwendungen, die ein selbständigerwerbender Schuldner
zur Erzielung seines Verdienstes notwendig machen muss, behalten ihren
Charaker als Gewinnungskosten auch dann, wenn deren Zahlung erst in einem
späteren Zeitpunkt fällig oder aus einem andern Grunde hinausgeschoben
wird. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten und ausgewiesenen Auslagen
für die Anschaffung von Futtermitteln im Betrage von Fr. 4'663.05 sind
somit vom Bruttoeinkommen in Abzug zu bringen, vorausgesetzt, dass der
Bedarf an Futtermitteln während der Pfändungsdauer nicht geringer war. Das
wird auch von der Vorinstanz nicht angenommen, die davon ausgeht, dass
die Anschaffung erforderlich gewesen sei.

    Das durchschnittliche Reineinkommen des Beschwerdeführers lag unter
diesen Umständen während der ganzen Pfändungsperiode bei weitem unter
dem festgestellten Existenzminimum. Es fehlte daher an einem pfändbaren
Verdienst, so dass der Tatbestand des Art. 169 StGB nicht erfüllt wurde
und der Beschwerdeführer von der Anklage freizusprechen ist.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Bern vom 30 Januar 1970 aufgehoben und die Sache
zur Freisprechung des Angeschuldigten an die Vorinstanz zurückgewiesen.