Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 1



96 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. April 1970
i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Gertrud und Klara Burkhalter.
Regeste

    Art. 238 Abs. 2, 237 Ziff. 2, 117, 18 Abs. 3 StGB.

    Unfall auf Bahnübergang. Dienstpflichten des Barrierenwärters.

Sachverhalt

    A.- Am 23. Dezember 1966, um 15.54 Uhr, ereignete sich bei trübem,
nebligem Wetter und schlechter Sicht auf dem bewachten Bahnübergang Ils bei
Lyssach, dessen Barrieren nicht geschlossen waren, ein schwerer Unfall,
indem der Schnellzug Zürich-Bern Nr. 128 mit einem von Otto Lehmann
gesteuerten Kastenwagen zusammenstiess, als dieser im Begriffe war,
auf der Strasse den besagten Übergang zu überqueren. Lehmann wurde aus
dem Fahrzeug geschleudert und getötet. Am Zug und an festen Bahnanlagen
entstand für insgesamt ca. Fr. 18'000.-- Schaden. Auch gingen Fenster
von mit Passagieren besetzten Wagenabteilen in Brüche.

    Das Unglück ereignete sich, als die beiden Barrierenwärterinnen Frau
Gertrud Burkhalter-Schürch und Frau Klara Burkhalter-Rütti im Begriffe
waren, sich abzulösen. Die erstere hatte Dienst von 06.00-10.45 Uhr und
von 12.30-15.55 Uhr. Die letztere erschien auf dem Wärterposten um 15.50
Uhr. Der Schnellzug Zürich-Bern Nr. 128, der gemäss Fahrplan im Bahnhof
Burgdorf um 15.46 Uhr und im Bahnhof Lyssach zwei Minuten später, also
um 15.48 Uhr hätte durchfahren sollen, hatte Verspätung.

    Nach der Bedienungsvorschrift für den Wärterposten Ils hat der jeweils
diensttuende Wärter auf ein ihm vom Bahnhof Burgdorf aus durchgegebenes
Glockensignal hin unverzüglich die Barrieren zu schliessen. Die Barrieren
sind von einem kleinen Wärterhäuschen aus zu bedienen, das nach den beiden
Fahrrichtungen und gegen die vor ihm durchführenden Geleise hin Fenster
aufweist. Das Läutewerk steht neben dem Wärterhäuschen und muss gemäss
Ziff. 8.2 des von der Generaldirektion der SBB erlassenen Reglementes
R 319.1 über die Bewachung der Niveauübergänge und die Bedienung der
Barrieren vom 1. April 1963 (im folgenden Reglement R 319.1 genannt)
bei jedem Dienstantritt vom Wärter aufgezogen werden. Dementsprechend
betätigte Frau Klara Burkhalter nach ihrer Ankunft auf dem Posten und
nachdem ihre Kollegin ihr mitgeteilt hatte, dass der Schnellzug Nr. 128
noch ausstehe, die Kurbel des besagten Läutewerks. Daraufhin begab sie
sich in das Wärterhäuschen zurück, wo Frau Gertrud Burkhalter noch am
Arbeitstisch sass. Während eines Gesprächs der beiden Frauen nahte der
Schnellzug Nr. 128, worauf Frau Gertrud Burkhalter aufsprang, um die
Barrieren zu senken. Dazu war es indessen zu spät. Das Läutewerk hatte das
erwartete Signal nicht gegeben. Beide Wärterinnen wussten indessen, dass
das Glockensignal gelegentlich ausbleibt, wenn die Vorstation "abläutet",
während das Läutewerk aufgezogen wird.

    B.- Am 27. September 1968 verurteilte der Gerichtspräsident I von
Burgdorf Frau Gertrud Burkhalter wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger
Störung des Eisenbahnverkehrs zu einer bedingt aufgeschobenen Strafe von
zehn Tagen Gefängnis, sprach dagegen Frau Klara Burkhalter von der Anklage
der fahrlässigen Tötung, der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs
und der fahrlässigen Störung des Eisenbahnverkehrs frei.

    Mit Urteil vom 23. September 1969 sprach das Obergericht des Kantons
Bern beide Angeklagten von Schuld und Strafe frei.

    C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die
Sache zur Verurteilung der beiden Angeklagten wegen fahrlässiger
Tötung und fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    Die Beschwerdegegnerinnen haben sich mit dem Antrag auf Abweisung
der Nichtigkeitsbeschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Verhalten der Beschwerdegegnerin Gertrud Burkhalter.  1. - Nach
Ziff. 4.1 und 2 des Dienstreglementes R 319.1 hat der Wärter den Dienst
persönlich zu leisten und darf er während der Arbeitszeit den Posten
nicht verlassen. Gemäss Ziff. 7.1 des genannten Reglementes wird seine
Arbeitszeit für jede Fahrplanperiode im Dienstplan festgesetzt. Sind
demnach jedem Barrierenwärter genaue Dienstzeiten zugewiesen, so hat er
- was im Bahnverkehr eine Notwendigkeit ist - bis zur letzten Minute
seinen Dienst zu versehen; die Sicherheit des Bahnverkehrs verlangt
eine pünktliche und lückenlose Folge der einzelnen Dienste. Es steht
daher ausser Frage, dass Frau Gertrud Burkhalter im Zeitpunkt, als der
Schnellzug Nr. 128 den Bahnübergang Ils durchfuhr, noch im Dienst stand
und deshalb für ein der Bedienungsvorschrift entsprechendes rechtzeitiges
Senken der Barrieren verantwortlich war. Die Vorinstanz stellt nämlich in
für den Kassationshof verbindlicher Weise fest, dass die Arbeitszeit der
genannten Beschwerdegegnerin bis 15.55 Uhr dauerte, der Unfall jedoch sich
um 15.54 Uhr ereignet hat. Der Umstand, dass ihre Dienstkollegin einige
Minuten vor Beginn ihrer Arbeitszeit eine zu ihrem Pflichtenheft gehörende
Verrichtung vornahm, indem sie gemäss Ziff. 8.2 des Reglementes R 319.1 das
Läutewerk aufzog, enthob jene nicht ihrer Verantwortung für die richtige
Erfüllung der eigenen Dienstpflicht. Abgesehen davon, dass ihr bekannt
war, dass das Glockensignal bisweilen ausbleibt, wenn die Vorstation
"abläutet", während das Läutewerk beim Wärterhäuschen aufgezogen wird,
war sie zugegen, als ihre Kollegin die Kurbel der Signalglocke betätigte.

    Musste sie demnach mit der Möglichkeit rechnen, dass das Glockensignal
ausbleiben könnte, so stellt sich vorerst die Frage, ob es nicht ihrer
Vorsichtspflicht entsprochen hätte, Frau Klara Burkhalter davon abzuhalten,
unmittelbar vor der erwarteten, jedoch noch nicht signalisierten Durchfahrt
des Schnellzuges das Läutewerk aufzuziehen. Diese Frage ist zu verneinen.
Einmal konnte Frau Gertrud Burkhalter nicht wissen, ob der Schnellzug noch
in der letzten Minute ihrer Dienstzeit oder in der ersten ihrer Kollegin
durchfahren werde. Zum andern verpflichtet Ziff. 8.2 des Reglementes R
319.1 den Wärter, das Läutewerk bei Dienstantritt aufzuziehen, was nur
heissen kann, dass ansonst Gefahr besteht, dass kein Glockensignal ertönt,
weil das Werk abgelaufen ist. War aber so oder anders mit der Möglichkeit
des Ausbleibens des Signals zu rechnen, so kann es Frau Gertrud Burkhalter
nicht zum Verschulden gereichen, wenn sie der Dienstvorschrift folgend
ihre Kollegin das Läutewerk hat aufziehen lassen.

    Dagegen muss ihr als Verletzung ihrer Vorsichtspflicht angerechnet
werden, dass sie vom Wärterhäuschen aus die Anfahrtsstrecke des
Schnellzuges nicht überwacht hat. Schreibt das Dienstreglement dem Wärter
vor, dass er fünf Minuten vor der fahrplanmässigen Durchfahrtszeit eines
Zuges beim Posten dienstbereit an der Bedienungsstelle der Barrieren
zu stehen und namentlich auf das Herannahen von Zügen sowie auf den
Strassenverkehr zu achten habe (Ziff. 11.2 und 12.1 des genannten
Dienstreglementes), so muss er letzteres erst recht tun, wenn der Zug
Verspätung hat, er dessen Herannahen wegen der geschlossenen Fenster
und Türen des Wärterhäuschens nicht rechtzeitig hören kann und - wie im
vorliegenden Fall - überdies mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass
der Zug nicht durch ein Läutesignal angezeigt werde. Die Auffassung der
Vorinstanz, wonach Ziff. 11.2 des Reglementes 319.1 nur für den Fall der
fahrplanmässigen Durchfahrt von Zügen, nicht aber bei Verspätungen Geltung
habe, trifft nicht zu. Der Umstand, dass die genannte Dienstvorschrift
den Wärter verpflichtet, 5 Minuten vor der fahrplanmässigen Durchfahrt des
Zuges auf dem Posten zu stehen und auf den Schienenverkehr zu achten, hat
nur einen Sinn, wenn mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass im Fahrplan
vorgesehene Züge vorzeitig durchfahren. Davon geht auch Ziff. 20.9 aus,
wo bestimmt wird, dass Züge, die mehr als 3 Minuten vorzeitig verkehren,
dem Wärter zu melden sind. Züge mit 3 Minuten und weniger Vorsprung werden
nicht gemeldet. Wegen solcher Unregelmässigkeiten hat der Wärter 5 Minuten
vor der im Fahrplan vorgesehenen Zeit seinen Posten zu beziehen. Ziff. 11.2
schliesst demnach Abweichungen vom Fahrplan sinngemäss ein. Hat aber der
Wärter, wenn er einmal pflichtgemäss auf dem Posten steht, auf vorzeitige
Züge zu achten, so muss er dasselbe selbstverständlich auch bezüglich
verspäteter Züge tun, deren Verspätung weniger als 10 Minuten beträgt
und deshalb dem Wärter nicht gemeldet wird. Es besteht kein Anlass, die
genannte Vorschrift nur auf vorzeitige, nicht aber auch auf verspätete Züge
anzuwenden, deren Verspätung sich im Rahmen der Ziff. 20.10 hält. Dass
dadurch aber der Barrierenwärter überfordert würde, kann im Ernste nicht
angenommen werden. Indem die Beschwerdegegnerin Gertrud Burkhalter an
ihrem Arbeitstisch sitzend sich mit ihrer Kollegin unterhalten hat,
statt die Anfahrtsstrecke des erwarteten Zuges zu überwachen, hat sie
ihre Dienstpflicht verletzt, und es trifft sie daher der Vorwurf der
Fahrlässigkeit im Sinne des Art. 18 Abs. 3 StGB.