Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 II 433



96 II 433

56. Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. Dezember 1970 i.S. Hirzel
gegen Hirzel. Regeste

    Scheidungsgerichtsstand, Art. 144 ZGB.

    Die in § 254 der zürcherischen ZPO vorgesehene Sperrfrist,
welche die Anhängigmachung der Scheidungsklage erst acht Wochen nach
der Sühnverhandlung erlaubt, bedeutet nicht eine unerträgliche oder
unzulässige Erschwerung der Geltendmachung des Scheidungsanspruches und
ist daher mit dem Bundesrecht vereinbar (Bestätigung der Praxis).

Sachverhalt

    A.- Max Hirzel erhob am 13. März 1970 beim Friedensrichteramt Wetzikon
Scheidungsklage. Zur Sühnverhandlung vom 20. März 1970 erschien nur
der Ehemann. Die in Basel wohnhafte Ehefrau Barbla Hirzel-Werro hatte
dem Friedensrichter mitgeteilt, dass sie an der Sühnverhandlung nicht
teilnehmen werde, da sie bereits in Basel eine Scheidungsklage eingereicht
habe und sich einer Scheidung nicht widersetze. Der Friedensrichter
entsprach deshalb dem Begehren des Ehemannes auf sofortige Ausstellung der
Weisung. Bereits drei Tage nach der Sühnverhandlung reichte Max Hirzel die
Weisung beim Bezirksgericht Hinwil ein. Dieses wies die Scheidungsklage
am 23. April 1970 mit der Begründung von der Hand, dass die in § 254
der Zürcher ZPO vorgesehene Wartefrist von acht Wochen nach dem ersten
Sühnversuch bis zur Einreichung der Weisung beim Gericht nicht eingehalten
worden sei.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich wies einen von Max Hirzel gegen
diesen Entscheid erhobenen Rekurs mit Beschluss vom 26. Juni 1970 ab. Zur
Begründung führte es aus, die in § 254 ZPO vorgesehene Wartefrist sei nach
konstanter Praxis zwingenden Rechts. Eine in Missachtung dieser Frist
ausgestellte Weisung sei nichtig und vermöge daher die Rechtshängigkeit
der Klage nicht zu begründen. Eine Ausnahme im Sinne von § 254 Abs. 2 ZPO
sei nicht gegeben, da es nicht darauf ankomme, ob der Aussöhnungsversuch
bzw. die Besinnungszeit einen Erfolg verspreche. Entscheidend für die
Annahme einer solchen Ausnahme sei vielmehr allein, ob eine Aussöhnung aus
zwingenden Gründen tatsächlicher Natur zum vornherein ausgeschlossen sei;
dies sei der Fall, wenn ein Ehegatte geisteskrank oder sein Wohnsitz nicht
bekannt sei. Schliesslich treffe auch nicht zu, dass die Wartefrist des §
254 ZPO bundesrechtswidrig sei, wie der Ehemann geltend mache.

    C.- Max Hirzel führt beim Bundesgericht Nichtigkeitsbeschwerde und
beantragt, den Entscheid des Obergerichts vom 26. Juni 1970 aufzuheben
und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er
behauptet, § 254 Abs. 1 der Zürcher ZPO sei mit dem Bundesrecht nicht
vereinbar, da es nicht angehe, dass ein Scheidungskläger durch das
kantonale Recht daran gehindert werde, einen ihm gemäss Bundesrecht
zustehenden Anspruch jederzeit gerichtlich geltend zu machen.

    D.- Barbla Hirzel-Werro beantragt die Abweisung der Beschwerde.

    E.- Mit Präsidialverfügung vom 16. Juli 1970 wurde der
Nichtigkeitsbeschwerde gestützt auf Art. 70 Abs. 2 OG aufschiebende
Wirkung erteilt.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 68 Abs. 1 lit. a OG ist in Zivilsachen, die nicht
der Berufung unterliegen, gegen letztinstanzliche Entscheide kantonaler
Behörden die Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig, wenn
statt des massgebenden eidgenössischen Rechts kantonales oder ausländisches
Recht angewendet worden ist. Gegen den angefochtenen Beschluss des Zürcher
Obergerichts ist eine Berufung nicht möglich, weil es sich dabei nicht
um einen Endentscheid im Sinne von Art. 48 OG handelt. Ein solcher läge
nur dann vor, wenn ein materiellrechtlicher Anspruch endgültig beurteilt
worden wäre. Die Vorinstanzen haben die vorliegende Klage jedoch materiell
nicht geprüft. Sie haben diese vielmehr aus einem prozessualen Grund
nicht an die Hand genommen, und zwar ohne dass dem Beschwerdeführer
dadurch verunmöglicht worden wäre, seinen Anspruch erneut geltend zu
machen (WURZBURGER, Les conditions objectives du recours en réforme au
Tribunal fédéral, S. 180 ff. mit Verweisungen; BIRCHMEIER, Handbuch des
OG, S. 162).

    Gegenstand der vorliegenden Beschwerde bildet die Rüge, die letzte
kantonale Instanz habe statt des eidgenössischen Rechts kantonales
Recht angewendet. Eine Nichtanwendung eidgenössischen Rechts im Sinne
von Art. 68 Abs. 1 lit. a OG liegt nämlich auch dann vor, wenn sich aus
dem Bundeszivilrecht ergibt, dass es bestimmte zur Anwendung gelangte
kantonale Vorschriften - und zwar auch solche prozessualer Natur -
ausschliessen will (BIRCHMEIER, aaO, S. 257). Eine solche Nichtanwendung
von Bundesrecht wird vom Beschwerdeführer geltend gemacht. Auf seine
Beschwerde ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- a) Ehescheidungsklagen werden im Kanton Zürich gemäss § 121 Abs. 1
ZPO durch Einreichung der vom Friedensrichter auszustellenden Weisung
beim Bezirksgericht anhängig gemacht. Für das Sühnverfahren gelten nach §
254 ZPO folgende Sonderregeln:

    "Bei Ehescheidungsklagen kann der Friedensrichter nach seinem Ermessen
einen zweiten Sühnversuch anordnen. Die Ausstellung der Weisung darf
nicht vor acht Wochen nach dem ersten Sühnversuch verlangt werden.

    Wird die Scheidung einer Ehe aus Gründen verlangt, welche einen
Aussöhnungsversuch von vornherein ausschliessen (z.B. Geisteskrankheit),
so soll dem klagenden Ehegatten ohne weiteres die Weisung an das Gericht
zugestellt werden."

    Zürich und Schwyz sind die einzigen Kantone, die in Ehescheidungssachen
zwischen das Sühnverfahren und die Anrufung des Gerichts eine Sperrfrist
eingeschoben haben (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 468,
Ziff. 5 d). Was den Kanton Schwyz anbetrifft, sei auf § 391 Abs. 2 seiner
Zivilprozessordnung verwiesen, wonach der Weisungsschein nicht vor Ablauf
von 60 Tagen nach dem ersten Sühnversuch ausgestellt werden darf. Ferner
sieht die Zivilprozessordnung des Kantons Genf vor, dass der mit der
Durchführung des Sühnverfahrens betraute Gerichtspräsident innert einer
Frist von längstens einem Monat eine zweite Sühnverhandlung anordnen kann,
wenn er eine Versöhnung als noch möglich erachtet; erscheint der beklagte
Teil zum zweiten Mal nicht zur Sühnverhandlung, hat der Gerichtspräsident
ferner die Möglichkeit, die Einreichung der Klage beim Gericht erst nach
Ablauf eines Monats zuzulassen (vgl. die Art. 434 Abs. 3, 436 Abs. 2 und
438 Abs. 1 der Genfer Zivilprozessordnung).

    b) Die Sperrfrist des § 254 der Zürcher ZPO hängt mit dem
Aussöhnungsversuch, den der Friedensrichter in der Sühnverhandlung
vorzunehmen hat, insofern zusammen, als sie wegfällt, falls eine
solche Verhandlung aus zwingenden äusseren Gründen von vornherein nicht
durchgeführt werden kann, so wenn ein Ehegatte z.B. geisteskrank oder sein
Aufenthaltsort unbekannt ist. In allen andern Fällen muss die Sperrfrist
ohne Rücksicht darauf abgewartet werden, ob der Aussöhnungsversuch Erfolg
verspreche oder nicht. Sie ist auch dann zu beachten, wenn der beklagte
Teil zur Sühnverhandlung gar nicht erscheint oder auf andere Weise zu
erkennen gibt, dass er zu einem Aussöhnungsversuch nicht Hand bieten will
(ZR Bd 58 Nr. 88 S. 234/35; STRÄULI/HAUSER, Kommentar, N. 3 zu § 254
ZPO). Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, der Sinn der Sperrfrist
sei ein anderer als derjenige des Sühnverfahrens. Die Sperrfrist soll
den Parteien auch dann, wenn sie zu Beginn des Sühnverfahrens zu einer
Aussöhnung nicht bereit sind, Gelegenheit zu nochmaliger Besinnung
geben und sie von einer voreiligen Klageanhängigmachung abhalten (ZR
58 S. 235 2. Spalte unten). Es mag zwar Fälle geben, in denen schon
in diesem Stadium der Auseinandersetzung eine Aussicht auf Versöhnung
ausgeschlossen werden kann. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
steht aber in diesem Zeitpunkt noch nicht fest, ob die Parteien innerlich
endgültig und unwiderrruflich zur Scheidung entschlossen seien. Viele,
die den Friedensrichter anrufen mit dem scheinbar unwiderruflichen
Entschluss, sich endgültig vom Gatten zu trennen, revidieren diesen
in oder nach der Sühnverhandlung und reichen dem Partner die Hand zur
Versöhnung, wenn nach einiger Zeit ihre Erregung abgeklungen ist. Eine
solche nachträgliche Versöhnung ist auch möglich, wenn der Beklagte gar
nicht zur Sühnverhandlung gekommen ist oder sonst zum Ausdruck gebracht
hat, dass er scheiden will. Sie wird durch die Sperrfrist erleichtert;
denn erfahrungsgemäss ist eine Aussöhnung eher möglich, solange der Prozess
noch nicht beim Gericht hängig ist. Das friedensrichterliche Verfahren ist
aber noch kein eigentliches Gerichtsverfahren und wird von den Parteien
auch nicht als solches aufgefasst.

    Der pflichtbewusste Friedensrichter wird sich denn auch nicht darauf
beschränken, den Parteien gegen die Erhebung offenbar unbegründeter
Ansprachen oder die Bestreitung begründeter Rechtsbegehren Vorstellungen
zu machen (§ 112 Abs. 1 ZPO), sondern er wird die Gatten an ihre Pflichten
mahnen, ihnen die Nachteile einer Scheidung auseinandersetzen, sie zu
beraten versuchen und ihnen nahelegen, ihre weitern Schritte nochmals
gründlich zu überlegen. Die Sperrfrist zwingt die Parteien zu solcher
Überlegung und bewahrt sie vor voreiligen Schritten; insofern ist sie
ein Teil des Sühnverfahrens.

Erwägung 3

    3.- Es ist nun zu prüfen, ob diese Regelung im zürcherischen
Prozessrecht mit dem Bundesrecht vereinbar sei. Das kantonale
Prozessrecht widerspricht dem Bundesprivatrecht dann, wenn es dessen
Verwirklichung verunmöglicht oder hindert (GULDENER, aaO, S. 64; GULDENER,
Bundesprivatrecht und kantonales Zivilprozessrecht, ZSR N.F. Bd 80
II S. 22 f. mit Verweisungen). Eine Verletzung des Bundesprivatrechts
darf allerdings nicht schon immer dann angenommen werden, wenn es für
die Durchsetzung des materiellen Rechts zweckmässigere Lösungen gäbe
als die im kantonalen Prozessrecht vorgesehenen, sondern erst dann,
wenn die Verwirklichung des Bundesprivatrechts durch die Ausgestaltung
des kantonalen Prozessrechts unerträglich bzw. in unzulässiger Weise
erschwert wird (KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im
schweizerischen Recht, S. 9).

    Es fragt sich nun, ob die im zürcherischen Prozessrecht vorgesehene
Sperrfrist die Geltendmachung des Scheidungsanspruchs in unzulässiger
Weise erschwert und daher mit dem Bundesrecht nicht vereinbar ist, wie der
Beschwerdeführer unter Berufung auf verschiedene Meinungsäusserungen in der
Literatur behauptet (vgl. insbesondere GULDENER, ZSR Bd 80 II S. 404, und
GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, II. Supplement, zu S. 468 Anm. 56).
Zuzugeben ist, dass die Sperrfrist in gewissen Fällen dem Scheidungskläger
die Durchsetzung des Scheidungssanpruchs etwas erschweren mag, was aber
noch nicht einen Eingriff in die kantonale Prozessordnung rechtfertigen
würde.

    Ob die Anhängigmachung der Scheidungsklage in unerträglicher
oder in unzulässiger Weise erschwert wird, beurteilt sich in erster
Linie nach den tatsächlichen Auswirkungen der Sperrfrist in der
Praxis. Sie veranlasst und zwingt die Parteien, sich nach erfolglosem
ersten Sühnversuch nochmals zu besinnen. Tatsächlich kommen in dieser
nachträglichen Besinnungszeit häufig Aussöhnungen zustande. Die Sperrfrist
begünstigt demnach die Aussöhnung zwischen den Parteien und dient damit,
wie das Sühnverfahren, einem schutzwürdigen Zweck (BGE 74 II 72; BÜHLER,
Das Ehescheidungsverfahren, ZSR N.F. Bd 74 II S. 391a/392a; BARDE, Le
Procès en divorce, ZSR N.F. Bd 74 II S. 459a). Die Verfolgung dieses
Zwecks liegt im Rahmen des Bundesprivatrechts. Die Sperrfrist will den
Kläger nämlich keineswegs hindern, seine unter Umständen begründete Klage
einzureichen, sondern sie verlangt von ihm nur, dass er sich diesen Schritt
gut und reiflich überlege. Angesichts der Wichtigkeit und der Bedeutung,
die ein Scheidungsprozess im Leben eines jeden Gatten hat, darf von
demjenigen, der einen auf Lebzeiten abgeschlossenen Vertrag in einer
spannungsgeladenen Atmosphäre oder aus einer gefühlsbetonten Situation
heraus auflösen will, verlangt werden, dass er sich auch nach einer ersten
ergebnislos verlaufenen Sühnverhandlung nochmals besinne und nicht voreilig
handle. Dabei ist eine Überlegungszeit von acht Wochen dem Scheidungskläger
zumutbar; jedenfalls bedeutet sie nicht eine unerträgliche oder unzulässige
Erschwerung der Geltendmachung des Scheidungsanspruchs. Sie ist demzufolge
auch nicht bundesrechtswidrig. Das Bundesgericht hat schon im Entscheid
74 II 71 f., auf dessen Begründung verwiesen werden kann, ausgeführt,
es gehe wohl nicht an, die zürcherische Sperrfrist von Bundesrechts
wegen als unstatthaft zu erklären - und zwar sagte es dies in Kenntnis
der Unzukömmlichkeiten, welche die Sperrfrist nach sich ziehen kann,
wenn die Ehegatten in verschiedenen Kantonen Wohnsitz haben. Von dieser
Auffassung abzuweichen, besteht auch zur Zeit kein Anlass.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen und der Ent scheid des
Obergerichts des Kantons Zürich (I. Zivilkammer) vom 26. Juni 1970
bestätigt.