Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 II 15



96 II 15

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. März 1970
i.S. D. gegen Vormundschaftsbehörde M. Regeste

    Tragweite des Anspruchs auf Anhörung nach Art. 374 Abs. 1 ZGB.

    Die zu entmündigende Person ist nicht nur zum Entmündigungsgrund als
solchem zu befragen, sondern es ist ihr Gelegenheit zu geben, zu allen
wesentlichen Einzeltatsachen Stellung zu nehmen, welche zur Entmündigung
führen sollen.

    Der Anspruch auf Anhörung deckt sich nicht mit dem aus Art. 4 BV
folgenden Anspruch auf rechtliches Gehör. Hat sich die zu entmündigende
Person in einem Entmündigungsverfahren zu allen Einzeltatsachen äussern
können, so ist Art. 374 Abs. 1 ZGB auch dann Genüge getan, wenn der
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Berufungsklägerin macht geltend, es stimme in keiner Weise,
dass ihr schon früher vormundschaftliche Massnahmen angekündigt worden
seien. Eine Entmündigung setzt jedoch nach Bundesrecht keine vorherige
Androhung oder Ankündigung voraus. Hingegen darf eine Person gemäss
Art. 374 Abs. 1 ZGB wegen Verschwendung, Trunksucht, lasterhaften
Lebenswandels oder der Art und Weise ihrer Vermögensverwaltung nicht
entmündigt werden, ohne dass sie vorher angehört wurde. Ob eine solche
Anhörung erfolgt ist, muss von Amtes wegen geprüft werden (BGE 87 II
131/32; EGGER, Kommentar z. ZGB, 2. Aufl., N. 11 zu Art. 374).

    Das Bundesgericht hat in einem Kreisschreiben vom 18. Mai 1914
an die kantonalen Regierungen Grundsätze über die Durchführung der in
Art. 374 Abs. 1 ZGB vorgeschriebenen Anhörung aufgestellt (vgl. BGE 40 II
182-184). Dabei handelt es sich nicht um verbindliche Rechtssätze, deren
Nichtbefolgung in jedem Fall zwingend zur Ungültigkeit der ausgesprochenen
Entmündigung führen müsste (BGE 84 II 147/48). Entscheidend ist, dass
die zu entmündigende Person Gelegenheit erhält, nicht nur zum in Frage
stehenden Entmündigungsgrund als solchem, sondern zu allen wesentlichen
Einzeltatsachen Stellung zu nehmen (BGE 53 II 438; EGGER, aaO, N. 6 zu
Art. 374).

    Die Vormundschaftsbehörde des Kreises M. ist der Pflicht zur Anhörung
in genügender Weise nachgekommen. Bereits bei der Einvernahme vom
14. Oktober 1968 über die zum Schutze der Kinder getroffenen Massnahmen
hat sie der Berufungsklägerin von der vorgesehenen Entmündigung gemäss
Art. 370 ZGB Kenntnis gegeben, allerdings ohne sie schon damals zu
allen wesentlichen Punkten zu befragen. Eine eingehendere Befragung
wurde dann aber in der Sitzung vom 16. November 1968 durchgeführt,
zu welcher die Berufungsklägerin persönlich vorgeladen worden war. Bei
dieser Gelegenheit wurden ihr die wichtigsten Tatsachen vorgehalten,
auf welche die Behörde ihren Entmündigungsentscheid stützte, und das
Protokoll über diese Befragung wurde in den Beschluss aufgenommen. Da sich
die Berufungsklägerin weigerte, die meisten der ihr gestellten Fragen
zu beantworten, hat sie es sich selber zuzuschreiben, wenn die Anhörung
keine Gesichtspunkte ergab, die gegen eine Entmündigung sprachen.

    Den vorinstanzlichen Akten lässt sich entnehmen, dass der
Berufungsklägerin dagegen im Verfahren vor dem Kleinen Rat keine
Gelegenheit eingeräumt wurde, zur Beschwerde der Gemeinde T. gegen den
Entscheid des Bezirksgerichtsausschusses U. Stellung zu nehmen. Gegen
eine solche Verweigerung des durch Art. 4 BV gewährleisteten Anspruchs
auf rechtliches Gehör wäre grundsätzlich eine staatsrechtliche Beschwerde
an das Bundesgericht möglich gewesen. Art. 374 Abs. 1 ZGB jedoch wäre nur
verletzt, wenn die Vorinstanz wesentliche neue Tatsachen in bezug auf die
Entmündigung als solche berücksichtigt hätte, ohne der Berufungsklägerin
die Möglichkeit zu einer Stellungnahme einzuräumen (BGE 40 II 184 Ziff. 5;
EGGER, aaO, N. 16 zu Art. 374). Das ist nicht der Fall, soweit die
Vorinstanz den gleichen Sachverhalt beurteilte, der bereits Grundlage des
Entmündigungsbeschlusses gebildet hatte. Soweit sie dagegen meint, einen
Entmündigungsgrund auch im häufigen Ortswechsel der Berufungsklägerin
unter Hinterlassung von Schulden erblicken zu können, handelt es sich um
einen Sachverhalt, zu dem sich die Berufungsklägerin nicht hat aussprechen
können, und der daher unberücksichtigt zu bleiben hat.

    Es würde zu weit führen, aus Art. 374 ZGB einen Anspruch auf
rechtliches Gehör ableiten zu wollen, der sich inhaltlich mit demjenigen
deckt, den die Praxis auf Grund von Art. 4 BV entwickelt hat. Die
Tragweite der vom Bundeszivilrecht vorgeschriebenen Anhörung beschränkt
sich darauf, die Zulässigkeit der Entmündigung davon abhängig zu machen,
dass sich der zu Bevormundende zu allen für die Anwendung des massgebenden
Entmündigungsgrundes wesentlichen Tatsachen äussern konnte. Sofern dies
in dem zur Entmündigung führenden Verfahren geschehen ist, kann es unter
dem Gesichtspunkt von Art. 374 ZGB nicht mehr darauf ankommen, ob dem
zu Bevormundenden auch im kantonalen Rechtsmittelverfahren alle sich aus
Art. 4 BV ergebenden Rechte gewährt wurden.

    (4. - Das Bundesgericht weist die Sache zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurück, damit diese die Aussichten auf eine Heirat der
Berufungsklägerin abkläre.)