Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 II 129



96 II 129

22. Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. Juni 1970 i.S. Erben des Hans
Otto Maurer gegen Aktiengesellschaft Maurer, Stüssi & Co. Regeste

    Feststellungsklage.

    Art. 20 OR. Rechtliches Interesse des Vermieters an der Feststellung
der Nichtigkeit einer unbestimmten Kündigungsklausel. Kündbarkeit
des Mietvertrages nach der subsidiären Vorschrift des Art. 267 OR bei
Nichtigkeit der Kündigungsklausel (Erw. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Am 1. Juli 1941 schloss die Aktiengesellschaft Maurer, Stüssi &
Co. Zürich mit dem ihr wirtschaftlich verbundenen Otto Adolf Maurer einen
Mietvertrag ab über die Liegenschaften Konradstrasse 62 (Kat. Nr. 2083)
in Zürich-Industriequartier und Herisauerstrasse 67 a (Kat. Nr. 2039)
in Bruggen-Winkeln, Kanton St. Gallen. Ziffer 4 des Mietvertrages lautet:

    "Der vorliegende Mietvertrag gilt mit Wirkung ab 1. Juli 1940 als in
Kraft getreten. Eine Kündigung ist nur seitens beider Parteien möglich,
wenn die Mieterin in Liquidation tritt. In diesem Fall ist die Kündigung
täglich auf 6 Monate möglich."

    Nach dem Tod des Otto Adolf Maurer wurde dessen Sohn Hans Otto
Maurer, der wegen Geistesschwäche bevormundet war, als einziger Erbe
Eigentümer der beiden Liegenschaften. In einem Nachtrag zum Mietvertrag
vom 1. Oktober 1965 wurde der Mietzins für beide Liegenschaften erhöht,
die Vormerkung im Grundbuch für die Dauer von dreissig Jahren vereinbart
und für die Dauer des Mietverhältnisses ein auf zehn Jahre vorzumerkendes
Vorkaufsrecht begründet.

    Am 28. August 1966 starb Hans Otto Maurer.

    B.- Die Erben des Hans Otto Maurer reichten beim Handelsgericht des
Kantons Zürich gegen die Mieterin Klage ein. Sie beantragten, Ziffer 4
des Mietvertrages vom 1. Juli 1941 nichtig zu erklären und aufzuheben,
weil die in der Kündigungsklausel enthaltene Bindung übermässig und
deshalb sittenwidrig sei.

    Das Handelsgericht behandelte die Klage als Feststellungsklage und
wies sie am 11. Dezember 1969 ab.

    C.- Die Kläger beantragen mit der Berufung, das vorinstanzliche
Urteil aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an das Handelsgericht
zurückzuweisen, eventuell festzustellen, dass Ziffer 4 des Mietvertrages
vom 1. Juli 1941 nichtig sei.

    Die Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen.

    Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies am 1. April 1970 die von
den Parteien ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde (die Beklagte reichte sie
wegen der Prozessentschädigung im handelsgerichtlichen Verfahren ein) ab.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Handelsgericht ist der Auffassung, der Mietvertrag enthalte
hinsichtlich seiner Kündbarkeit eine Lücke, wenn die Nichtigkeit der
streitigen Klausel festgestellt werde; das kantonale Prozessrecht (§
102 der zürcherischen ZPO) verbiete dem Richter, diese Lücke mangels
eines entsprechenden Antrages der Kläger auszufüllen. Zudem hätten die
Vertragschliessenden im Jahre 1941 eine langdauernde Bindung beabsichtigt,
die die subsidiäre Geltung des Art. 267 OR ausschliesse. Es müsse daher
auf Grund der Umstände, die beim Vertragsabschluss bestanden haben oder
später eingetreten seien, ermittelt werden, welche Vertragsdauer dem
beidseitigen Parteiwillen am ehesten entspreche. Die Kläger hätten aber
solche Anträge nicht gestellt. Die begehrte Feststellung sei daher nicht
geeignet, die Ungewissheit über die Kündbarkeit des Vertrages zu beheben,
weshalb das rechtliche Interesse an der Klage verneint werden müsse.

    Die Kläger fechten im Berufungsverfahren die Argumentation des
Handelsgerichtes, soweit sie sich auf die Auslegung des kantonalen
Prozessrechtes stützt, mit Recht nicht an (vgl. Art. 43 OG). Sie machen
aber geltend, nicht sie, sondern die Beklagte sei von Bundesrechts wegen
verpflichtet gewesen, die Anwendbarkeit des dispositiven Gesetzesrechtes
durch einen Antrag auf Feststellung des Parteiwillens auszuschalten. Sie
habe aber einen entsprechenden Antrag nicht gestellt, weshalb bei
Feststellung der Nichtigkeit von Ziffer 4 des Vertrages Art. 267 OR
unmittelbar anwendbar und daher die Ungewissheit über die Kündbarkeit
des Vertrages behoben sei.

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Klage
auf Feststellung eines dem eidgenössischen Recht unterstehenden
Rechtsverhältnisses von Bundesrechts wegen zuzulaslen, wenn der Kläger
an der sofortigen Feststellung ein erhebliches Interesse hat (BGE 77 II
344 f., 79 II 394, 80 II 366, 81 II 466, 82 II 319, 84 II 398, 495, 691,
88 II 238, 90 II 33, 91 II 409/10, 93 II 16, 270). An dieser Voraussetzung
fehlt es in der Regel, wenn der Kläger in der Lage ist, über die blosse
Feststellung hinaus eine vollstreckbare Leistung zu verlangen. In einem
solchen Falle ist die Feststellung des Rechtsverhältnisses Voraussetzung
des Leistungsurteils und hat als solche keine selbständige Bedeutung (BGE
80 II 366 Erw. 4, 81 II 466, 84 II 691/92). Das rechtliche Interesse an der
begehrten Feststellung ist dagegen zu bejahen, wenn die Rechtsbeziehungen
der Parteien ungewiss sind und durch die richterliche Feststellung über
Bestand und Inhalt des Rechtsverhältnisses die herrschende Ungewissheit
beseitigt werden kann (BGE 77 II 349, LEUCH, Die Zivilprozessordnung
für den Kanton Bern, 3. Aufl., S. 195/96). So hat die Rechtsprechung
beispielsweise die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines
Grundstückkaufvertrages (vgl. BGE 90 II 33) oder einer Konkurrenzklausel
(BGE 69 II 77 Erw. 1) als zulässig erklärt.

Erwägung 3

    3.- a) Zunächst ist zu prüfen, ob der Inhalt der streitigen Klausel
genügend bestimmt ist. Danach kann der Mietvertrag von beiden Parteien
gekündigt werden, wenn die Mieterin in Liquidation tritt. Ob dieses
Ereignis aber jemals eintreten wird, stand bei Vertragsabschluss nicht
fest und war nicht feststellbar. Die Kündbarkeit des Mietvertrages ist
somit ungewiss. Die Kläger haben aber ein schützenswertes Interesse zu
wissen, ob sie bis zu einer allfälligen Liquidation der Beklagten an
den Mietvertrag gebunden sind oder ob sie diesen zu einem bestimmten
Zeitpunkt kündigen können. Ferner haben sie Anspruch auf Beseitigung
dieser rechtlichen Ungewissheit, damit sie vom Kündigungsrecht einen
sicheren Gebrauch machen können, ohne sich den Umtrieben und Gefahren
eines Prozesses und dem finanziellen Risiko einer rechtswidrigen Kündigung
auszusetzen. Ihnen ist somit grundsätzlich das Recht einzuräumen, die
Nichtigkeit der streitigen Vertragsklausel feststellen zu lassen. Eine
solche Feststellung liegt denn auch im Interesse der Beklagten.

    b) Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass die Dauer des
Mietvertrages unbestimmt ist, wenn angenommen wird, die Nichtigkeit
der streitigen Klausel wirke sich nicht auf den ganzen Vertrag aus
(Art. 20 Abs. 2 OR). Ob die infolgedessen im Vertrag entstandene Lücke
durch den Richter nach dem mutmasslichen Parteiwillen auszufüllen ist,
wie die Vorinstanz annimmt, ist allerdings fraglich. Art. 20 Abs. 2
OR sieht schlechthin die Nichtigkeit einer rechtswidrigen Klausel
(oder des ganzen Vertrages), nicht aber ihre Abänderung durch den
Richter vor. Das Bundesgericht hat daher - von der Sonderregelung des
dienstvertraglichen Konkurrenzverbots in Art. 357 OR abgesehen - ein
zeitlich und örtlich unbeschränktes Konkurrenzverbot als nichtig erklärt
und seine Beschränkung auf das den Umständen des Falles entsprechende
Mass abgelehnt, weil die streitige Klausel keine teilbare Verpflichtung
enthalte. Der Berechtigte könne daher nicht erklären, er wolle das
Konkurrenzverbot nur in beschränktem Umfange geltend machen; in einer
solchen Erklärung läge nicht ein Verzicht auf ein Recht, sondern die
Ersetzung des ursprünglichen Vertrages durch einen solchen andern
Inhalts, da das zeitlich und örtlich unbeschränkte und daher nichtige,
gegenüber einem beschränkten und somit gültigen Konkurrenzverbot nicht
eine weitergehende, sondern eine andere Verpflichtung darstelle. Ebenso
sei auch der Richter nicht befugt, die übermässige Unterlassungspflicht zu
beschränken, da er damit die Grenzen der Vertragsauslegung überschreiten
und den Parteiwillen durch seine eigene Willkür ersetzen würde (BGE
23 I 743, 25 II 456, 39 II 547). Im Entscheid 43 II 663 stellte das
Bundesgericht diese Rechtsprechung allerdings in Frage, bestätigte sie
aber später eindeutig (vgl. BGE 67 II 224/25, wo es die Herabsetzung einer
zeitlich unbegrenzten Wasserbezugspflicht ablehnte, und BGE 80 II 327, wo
es die Vereinbarung eines übermässigen Darlehenszinses nicht herabsetzte,
sondern nichtig erklärte). Diese Auffassung wird in der Lehre von BECKER
(N. 16 zu Art. 20 OR) gebilligt, von OSER/SCHÖNENBERGER (N. 68 zu Art. 20
OR), VON TUHR/SIEGWART (OR I S. 243/44), SIEGWART (N. 31 zu Art. 561 OR),
SPIRO (Können übermässige Verpflichtungen oder Verfügungen in reduziertem
Umfang aufrechterhalten werden?, ZBJV 88 [1952] S. 449 f. und 497 f.) und
PIOTET (De l'invalidité partielle des actes juridiques spécialement en cas
de vice de consentement, ZSR 76 [1957] S. 97 f.) angefochten. Diese Autoren
vertreten den Standpunkt, der Richter könne gemäss Art. 20 Abs. 2 OR eine
nach Dauer und Umfang zu weit gehende Verpflichtung auf das erlaubte Mass
beschränken, was der Gesetzgeber - ohne am Grundsatz etwas zu ändern -
in einigen Sonderfällen (vgl. z.B. Art. 163 Abs. 3, Art. 351, Art. 357
und 417 OR) eigens hervorgehoben habe.

    Im vorliegenden Fall soll nach Auffassung des Handelsgerichtes Ziff. 4
des Mietvertrages nicht durch die subsidiäre Regelung des Gesetzes,
sondern durch eine neue vom ursprünglichen Vertragsinhalt abweichende
Klausel ersetzt werden. Auch wenn man sich mit der herrschenden Lehre für
die Teilbarkeit einer übermässigen Verpflichtung ausspricht, so greift
nach Art. 20 Abs. 2 OR Teilnichtigkeit Platz. Diese Rechtsfolge ist
zwingend, kann somit nicht durch eine vom Richter auf der Grundlage
des mutmasslichen Parteiwillens geschaffene Bestimmung abgeändert
werden. Falls die streitige Klausel nichtig ist, liegt ein Mietvertrag
von unbestimmter Dauer vor, der nach der subsidiären Regel des Art. 267
OR kündbar ist. Die Kläger hatten somit ein rechtlich schützenswertes
Interesse an der begehrten Feststellung, da dadurch die Ungewissheit über
die Kündigungsfrist behoben werden kann.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Handelsgerichtes des
Kantons Zürich vom 11. Dezember 1969 aufgehoben und die Sache im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.