Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 III 4



96 III 4

2. Entscheid vom 4. April 1970 i.S. Sch. Regeste

    Zustellung einer Betreibungsurkunde an eine betriebene
Aktiengesellschaft. Art. 65 SchKG. Zunächst muss die Zustellung an ein
Mitglied der Verwaltung oder einen Prokuristen versucht werden. Nur
wenn ein solcher Vertreter der Gesellschaft in dem Lokal, wo er seine
Tätigkeit für diese auszuüben pflegt, nicht angetroffen wird, darf die
Zustellung an einen andern Angestellten erfolgen. Sie ist auch gültig,
wenn der Angestellte nicht im Dienste der betriebenen, sondern einer
andern, im gleichen Lokal tätigen Gesellschaft steht (Erw. 1).

    Rechtsstillstand wegen Verhaftung. Art. 60 SchKG findet auch Anwendung,
wenn sämtliche Organe einer Gesellschaft (insbesondere der einzige
Verwaltungsrat einer Einmannaktiengesellschaft) verhaftet worden sind,
sofern diese Organe nicht in der Lage sind, rechtzeitig einen Vertreter
zu bestellen (Erw. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Sch. führt gegen die Firma X. AG eine Betreibung für eine
Forderung von Fr. 175 000.-- nebst 5% Zins seit dem 1. Januar 1967. Das
Betreibungsamt erliess den Zahlungsbefehl am 29. Dezember 1969. Dieser
wurde am 6. Januar 1970 durch die Post zugestellt, wobei der Postbote
in der Zustellungsbescheinigung vermerkte: "Büro-Fräulein M. hat Annahme
verweigert. ZB im Büro hinterlassen".

    Die Firma X. AG erhob am 11. Februar 1970 Beschwerde bei der
Aufsichtsbehörde mit dem Begehren, die am 6. Januar 1970 erfolgte
Zustellung des Zahlungsbefehls in der fraglichen Betreibung sei aufzuheben.

    B.- Die kantonale Aufsichtsbehörde hiess die Beschwerde mit Entscheid
vom 24. Februar 1970 gut und hob die Zustellung des Zahlungsbefehls vom
6. Januar 1970 auf. Sie führte im wesentlichen aus, es sei fraglich, ob
die Zustellung des Zahlungsbefehls an die Büroangestellte M. ungesetzlich
sei, weil diese nicht für die Firma X. AG, sondern für die Y. AG tätig
war. Die bundesgerichtliche Praxis spreche eher für die Wirksamkeit der
Zustellung. Wie es sich damit verhalte, könne jedoch offen bleiben, weil
die Zustellung des Zahlungsbefehls vom 6. Januar 1970 aus einem anderen
Grunde aufgehoben werden müsse. X., der einzige Verwaltungsrat der Firma
X. AG, habe vom 6. Januar bis zum 5. Februar 1970 eine Gefängnisstrafe
verbüsst. Die betriebene Firma sei daher vom 6. Januar 1970 an in den
Genuss des Rechtsstillstandes gemäss Art. 60 SchKG gekommen. Da das
Betreibungsamt es unterlassen habe, eine Frist für die Bestellung
eines Vertreters anzusetzen, habe der Rechtsstillstand jedenfalls
bis zur Entlassung von X. am 5. Februar 1970 gedauert. Dieser habe am
9. Februar 1970 vom Zahlungsbefehl Kenntnis erhalten und am 11. Februar
1970 rechtzeitig Beschwerde erhoben. Die Zustellung des Zahlungsbefehls
sei somit aufzuheben und das Betreibungsamt anzuweisen, sie nochmals
ordnungsgemäss vorzunehmen.

    C.- Gegen den Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde vom 24. Februar
1970 erhebt der Gläubiger Sch. Rekurs an die Schuldbetreibungs-und
Konkurskammer des Bundesgerichts. Er beantragt, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben und die Beschwerde der Schuldnerin sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 65 SchKG erfolgt die Zustellung von Betreibungsurkunden
bei Betreibung einer juristischen Person oder einer Gesellschaft an den
Vertreter derselben. Als Vertreter einer Aktiengesellschaft gilt jedes
Mitglied der Verwaltung sowie jeder Prokurist. Werden diese Personen
in ihrem Geschäftslokal aber nicht angetroffen, so kann die Zustellung
auch an einen anderen Angestellten erfolgen. Wie das Bundesgericht in
BGE 88 III 18 Erw. 2 ausgeführt hat, kommt für die Ersatzzustellung nur
ein Angestellter in Betracht, der in den gleichen Räumlichkeiten wie
der Vertreter der Gesellschaft arbeitet und deshalb ohne weiteres in
der Lage ist und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht versäumen wird, die
Betreibungsurkunde unverzüglich an den Vertreter weiterzuleiten, so dass
dieser bei seiner Rückkehr ins Geschäftslokal davon Kenntnis erhält. Kein
Hindernis für die Gültigkeit der Zustellung der Betreibungsurkunde wäre
nach Auffassung des Bundesgerichts die Tatsache, dass der Angestellte
nicht im Dienste der betriebenen, sondern einer anderen, im gleichen
Lokal tätigen Gesellschaft steht (BGE 88 III 18 Erw. 3).

    Im vorliegenden Fall war die Sekretärin M., welcher der Postbote den
Zahlungsbefehl aushändigte, lediglich Angestellte der Firma Y. AG. Diese
Gesellschaft und die betriebene Firma benützen aber ein gemeinsames
Geschäftslokal. Zudem ist der Verwaltungsratspräsident der Y. AG,
X., zugleich einziger Verwaltungsrat der X. AG. Die Büroangestellte
M. war daher in den gleichen Räumlichkeiten tätig wie der Vertreter der
betriebenen Firma und stand zu diesem in einem Unterordnungsverhältnis,
wenn auch lediglich in seiner Eigenschaft als Verwaltungsratspräsident
der Y. AG. Es war unter diesen Umständen zu vermuten, dass Frl. M. ohne
weiteres in der Lage sein werde, den Zahlungsbefehl unverzüglich an
X. weiterzuleiten. Damit ist aber der ratio legis von Art. 65 SchKG
Genüge getan. Der Postbote brauchte nicht zu wissen, dass der einzige
Verwaltungsrat der betriebenen Firma gegenwärtig im Gefängnis sass. Er
war daher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts berechtigt,
den Zahlungsbefehl der Büroangestellten M. zu übergeben. Dass diese
die Annahme der Urkunde verweigerte, schliesst die Rechtswirkungen des
Zustellungsaktes nicht aus (BGE 90 III 8).

Erwägung 2

    2.- Der einzige Vertreter der Schuldnerin hatte seine Freiheitsstrafe
am 6. Januar 1970, dem Tage der Zustellung des Zahlungsbefehls, bereits
angetreten. Dies wird zwar vom Rekurrenten bezweifelt, ist aber im
angefochtenen Entscheid für das Bundesgericht verbindlich festgestellt
(Art. 81 in Verbindung mit Art. 63 Abs. 2 OG).

    Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Firma X. AG
sich auch auf Art. 60 SchKG berufen und für sich den Rechtsstillstand in
Anspruch nehmen könne. Nach dem Wortlaut von Art. 60 SchKG kommt diese
Rechtswohltat nämlich nur einer natürlichen Person, die während ihrer
Verhaftung betrieben wird und keinen Vertreter hat, zu. Die Vorinstanz
hat unter Hinweis auf BGE 65 III 122 angenommen, dass Art. 60 SchKG auch
auf Aktiengesellschaften Anwendung finde, sofern deren Verwaltung einem
einzigen Mann obliegt, der verhaftet worden ist. Im angeführten Urteil
aus dem Jahre 1939 hat das Bundesgericht dargelegt, dass der damalige
Art. 57 SchKG, welcher nur von Personen sprach, auch für Gesellschaften,
deren sämtliche Vertreter sich im Militärdienste befinden, Geltung
haben solle. Hiegegen wendet der Rekurrent ein, Art. 57 sei anlässlich
der Teilrevision des SchKG vom 28. September 1949 geändert und mit den
Art. 57 a-e ergänzt worden. In Art. 57 e SchKG habe die in BGE 65 III
122 enthaltene Auffassung Eingang gefunden. Indem der Gesetzgeber Art. 60
SchKG unverändert gelassen habe, habe er eindeutig zum Ausdruck gebracht,
dass der Rechtsstillstand den Gesellschaften nur zukommen solle, wenn ihre
Organe sich im Militärdienste befinden, nicht aber, wenn sie verhaftet
worden sind.

    Dieser Argumentation kann indessen nicht beigepflichtet werden. Die
Teilrevision des SchKG von 1949 hatte lediglich den Zweck, dem Abbau
der ausserordentlichen Vollmachten des Bundesrates zu dienen und das
Notrecht auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung in das ordentliche Recht
überzuführen (vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung
über eine Teilrevision des SchKG, BBl 1948 I S. 1220). Da Art. 57
SchKG durch Art. 16 der Verordnung des Bundesrates über vorübergehende
Milderungen der Zwangsvollstreckung vom 17. Oktober 1939 abgeändert worden
war, drängte sich seine Revision und Ergänzung bei dieser Gelegenheit
auf. Es bestehen aber gar keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber
anlässlich dieser Teilrevision Art. 60 SchKG absichtlich unverändert
gelassen und damit habe zum Ausdruck bringen wollen, der Rechtsstillstand
komme nur solchen Gesellschaften zugute, deren Organe sich im Militärdienst
befinden. Es mag sein, dass dem Rechtsstillstand wegen Militärdienstes auch
wehrpolitische Erwägungen zugrunde liegen (vgl. BGE 95 III 7 und 66 III
50 Erw. 1). Trotzdem lassen sich auch genügend Gründe für die Ausdehnung
der Schutzbestimmung von Art. 60 SchKG auf Gesellschaften, deren sämtliche
Organe verhaftet sind, anführen; denn auch eine Gesellschaft ist in dieser
Situation zur angemessenen Wahrung ihrer Rechte im Vollstreckungsverfahren
nicht oder nur unter sehr erschwerten Umständen in der Lage (KILLER,
Betreibungsferien und Rechtsstillstand, Blätter für Schuldbetreibung
und Konkurs, 1966 S. 2). Es soll daher nicht nur eine natürliche Person,
die verhaftet worden ist, in den Genuss dieser Rechtswohltat gelangen,
sondern auch eine Gesellschaft, deren sämtliche Organe verhaftet worden
sind, insbesondere wenn es sich dabei um den einzigen Verwaltungsrat
einer Einmannaktiengesellschaft handelt (solange dieses Gebilde von der
Rechtsordnung geduldet wird). Eine unterschiedliche Behandlung der beiden
Fälle würde sich nicht rechtfertigen, da der Grund, welcher den betriebenen
Schuldner am Handeln hindert, in beiden der gleiche ist. Überdies kommt
der Vorschrift von Art. 60 SchKG keine praktische Bedeutung zu, wenn
die Freiheitsstrafe mindestens ein Jahr dauert; denn in diesem Fall muss
die Vormundschaftsbehörde gemäss Art. 371 ZGB einen Vormund bestellen,
und bis dahin werden die Betreibungsurkunden der Vormundschaftsbehörde
zugestellt (KILLER, a.a. O., S. 7).

Erwägung 3

    3.- Art. 60 SchKG gilt indessen nur mit einer gewissen Einschränkung
auch für Gesellschaften, deren sämtliche Organe verhaftet sind. Der
Rekurrent macht nämlich für den Fall, dass das Bundesgericht diese
Bestimmung grundsätzlich auch für Gesellschaften als anwendbar erklären
sollte, geltend, der Schuldnerin sei es schon geraume Zeit vor dem
6. Januar 1970 bekannt gewesen, dass ihr einziger Verwaltungsrat
eine Freiheitsstrafe zu verbüssen habe. Sie wäre daher verpflichtet
gewesen, ein neues Organ zu wählen oder für die Zeit der Abwesenheit
von X. einen anderen Vertreter zu bestellen. Der Rekurrent verweist
in diesem Zusammenhang auf BGE 71 III 26. In diesem Urteil hat das
Bundesgericht festgehalten, es könne von den Gesellschaften, deren
Organe sich im Militärdienst befinden, ohne weiteres verlangt werden,
dass sie während der Abwesenheit ihrer gewöhnlichen Vertreter neue Organe
wählen oder Stellvertreter bestimmen; denn in normalen Zeiten würden
die Wehrpflichtigen nicht kurzfristig zu längeren Dienstleistungen
einberufen. Der Gesetzgeber hat diesen Gedanken dann anlässlich der
Teilrevision von 1949 in Art. 57 e SchKG aufgenommen. Danach finden die
Bestimmungen über den Rechtsstillstand auch auf Gesellschaften Anwendung,
deren Vertreter sich im Militärdienst befindet, solange sie nicht in der
Lage sind, einen anderen Vertreter zu bestellen.

    Die gleichen Überlegungen besitzen aber auch ihre Gültigkeit
für Gesellschaften, deren Organe eine Freiheitsstrafe zu verbüssen
haben. Wenn das Datum des Strafantritts den betreffenden Organen schon
längere Zeit zum voraus bekannt ist, so ist ihnen zuzumuten, für die
Vertretung der Gesellschaft während ihrer Abwesenheit rechtzeitig die
notwendigen Anordnungen zu treffen. Eine Gesellschaft soll sich daher -
in Analogie zur Regelung in Art. 57 e SchKG - nur dann auf Art. 60 SchKG
berufen können, wenn ihre Organe nicht in der Lage sind, rechtzeitig einen
anderen Vertreter zu bestellen. Der Grundgedanke von Art. 60 SchKG, nämlich
der Schutz des Schuldners, würde sonst zu fremden Zwecken missbraucht.

Erwägung 4

    4.- Es ist durchaus möglich, dass X., dem einzigen Verwaltungsrat
der betriebenen Firma, der wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand
verurteilt worden war, schon geraume Zeit zum voraus bekannt war, dass
er vom 6. Januar bis 5. Februar 1970 eine Freiheitsstrafe zu verbüssen
hatte. Der angefochtene Entscheid enthält darüber keine Feststellung. Es
muss daher zuerst untersucht werden, wie es sich damit verhält, bevor die
Frage, ob der Firma X. AG der Rechtsstillstand mit Recht gewährt worden
ist oder nicht, entschieden werden kann. Der angefochtene Entscheid ist
demgemäss aufzuheben, und die Sache ist zur entsprechenden Ergänzung des
Tatbestandes an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ergeben die vorzunehmenden
Abklärungen, dass X. für die Zeit seiner Abwesenheit vernünftigerweise
einen Vertreter hätte bestellen können, so ist der betriebenen Gesellschaft
der Rechtsstillstand nach Art. 60 Sch KG zu verweigern, und die Betreibung
ist fortzusetzen.

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetr.- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben
und die Sache zur Ergänzung des Tatbestandes im Sinne der Erwägungen und
zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.