Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 6



95 I 6

2. Urteil vom 29. Januar 1969 i.S. Eisengiesserei Emmenbrücke AG gegen
Gemeinde Oberkirch und Regierungsrat des Kantons Luzern Regeste

    Kantonales Steuerrecht; Rückwirkung.

    Wann lässt sich die Rückwirkung eines Steuererlasses durch
beachtenswerte triftige Gründe rechtfertigen und daher mit Art. 4 BV
vereinbaren?

Sachverhalt

    A.- Gemäss § 20 der Steuergesetznovelle (StGN) des Kantons Luzern vom
28. Juli 1919 sind die Gemeinden zur Einführung der Wertzuwachssteuer
ermächtigt worden. Mit der Wertzuwachssteuer kann der bei Veräusserung
oder Enteignung eines im Gemeindegebiet gelegenen Grundstücks erzielte
Mehrerlös gegenüber dem Erwerbspreis belegt werden. Laut § 32 StGN kann
die Wertzuwachssteuer rückwirkend auf ein Jahr eingeführt werden.

    Am 16. April 1961 hat die Gemeindeversammlung Oberkirch (LU) auf Antrag
des Gemeinderates beschlossen, die Wertzuwachssteuer für das Gebiet der
Gemeinde Oberkirch rückwirkend auf den 1. Januar 1961 einzuführen.

    B.- Die Beschwerdeführerin beabsichtigte, in der Gegend von Sursee,
wo sich ein Teilbetrieb ihrer Giesserei befindet, ein neues Giesserei-Werk
zu erstellen. Nachdem sich laut einem Gutachten von Dr. Tschachtli vom
28. Januar 1961 das Bauland in Sursee selbst als geologisch ungeeignet
erwiesen hatte, beauftragte sie den gleichen Geologen mit der Untersuchung
von Bauland in Oberkirch. Er erstattete am 21. März 1961 seinen
schriftlichen Bericht, worin er vom geologischen und baugrundtechnischen
Gesichtspunkt aus den Kauf der in Frage stehenden Grundstücke empfahl.
Gleichzeitig geführte Verhandlungen mit der SBB hatten am 20. März 1961
die Möglichkeit der Erstellung eines Anschlussgeleises ergeben. Daraufhin
erwarb die Beschwerdeführerin mit Kaufverträgen vom 28. März 1961 zwei
benachbarte Grundstücke in Oberkirch, das eine von W. für Fr. 381'210.--,
das andere von A. für Fr. 331'100.--.

    Diese Verträge enthalten folgende Bestimmung:

    "Sämtliche dieses Kaufes wegen ergehenden Kosten: Verschreibungs-
Pfandentlassungs- Geometer- und Grundbucheintragungskosten, die
Handänderungsgebühren und die Wertzuwachssteuern, sofern solche bezogen
werden, werden von der Käuferin allein getragen".

    C.- Gestützt auf den Gemeindebeschluss vom 16. April 1961 erliess der
Gemeinderat von Oberkirch am 17. Mai 1962 zwei Erkenntnisse, womit er die
beiden Verkäufer zur Entrichtung einer Wertzuwachssteuer verpflichtete, und
zwar W. zu Fr. 108'749.15 und A. zu Fr. 94'323.10. Die Beschwerdeführerin,
als Übernehmerin der Wertzuwachssteuern, rekurrierte am 22. Juni 1962
an den Regierungsrat des Kantons Luzern. Sie beantragte Aufhebung der
beiden Steuererkenntnisse wegen unzulässiger rückwirkender Anwendung
der Wertzuwachssteuer, evt. Rückweisung an den Gemeinderat Oberkirch
wegen Formfehlern im Veranlagungsverfahren und wegen gesetzwidriger
Steuerberechnung.

    Am 3. Juli 1967 entschied der Regierungsrat den Rekurs. Den
grundsätzlichen Einwand der Beschwerdeführerin gegen die rückwirkende
Anwendung des Wertzuwachssteuerbeschlusses der Gemeinde Oberkirch vom 16.
April 1961 wies er ab. Er berief sich dabei auf § 32 StGN sowie auf
seinen grundsätzlichen Entscheid vom 11. Dezember 1950 (Amtl. Sammlung
1950, S. 33), wonach die rückwirkende Einführung nicht vorbehaltlos
zulässig sei, sondern nur für Rechtsgeschäfte, die zur Vermeidung der
Steuer noch vor deren Einführung abgeschlossen worden sind. Dies sei
hier der Fall, entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin, die
Steuer sei wegen der beiden Grundstückkäufe eingeführt worden. Nur
die Absicht, die Wertzuwachssteuer zu vermeiden, erkläre den eiligen
Kaufsabschluss. Andererseits anerkannte der Regierungsrat die Einwendungen
der Beschwerdeführerin gegen das Veranlagungsverfahren und gegen die
Steuerberechnung. Er hob deshalb die beiden angefochtenen Erkenntnisse
auf und wies die Sache zur nochmaligen Behandlung an den Gemeinderat von
Oberkirch zurück.

    D.- Am 5. Oktober 1967 erliess der Gemeinderat zwei neue
Erkenntnisse. Gegenüber W. setzte er die Wertzuwachssteuer auf
Fr. 76'685.-- fest, gegenüber A. auf Fr. 64'225.--.

    Dagegen rekurrierte die Beschwerdeführerin erneut an den Regierungsrat.
Sie wiederholte ihren grundsätzlichen Einwand gegen den rückwirkenden
Steuerbezug und verlangte evt. Aufhebung wegen unrichtiger Veranlagung
und Verjährung des Steueranspruches. Mit Entscheid vom 12. Juli 1968 ist
der Regierungsrat auf das Begehren um grundsätzliche Steuerbefreiung unter
Hinweis auf seinen ersten Rückweisungsentscheid vom 3. Juli 1967, an den
er gebunden sei, nicht eingetreten. Die Wertzuwachssteuer gegenüber A.
ermässigte er auf Fr. 59'936.--. Die übrigen Rekursbegehren wies er ab.

    E.- Mit Eingabe vom 19. August 1968 hat die Beschwerdeführerin gegen
die Rekursentscheide des Regierungsrates vom 3. Juli 1967 und 12. Juli
1968 staatsrechtliche Beschwerde eingelegt mit dem Antrag auf Aufhebung
dieser beiden Entscheide. Sie macht geltend, die rückwirkende Anwendung des
Wertzuwachssteuerbeschlusses der Gemeinde Oberkirch vom 16. April 1961
auf die Handänderungen vom 28. März 1961 verletze Art. 4 BV und Art. 11
der luzern. KV. Ausserdem sei Art. 4 BV wegen der Steuerveranlagung trotz
eingetretener Verwirkung und Verjährung der Steueransprüche verletzt.

    F.- Der Regierungsrat beantragt, auf die Frage der Steuerbefreiung
wegen unzulässiger rückwirkender Anwendung der Wertzuwachssteuer nicht
einzutreten und die Beschwerde im übrigen abzuweisen. Der Gemeinderat
von Oberkirch beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Zulässigkeit der Beschwerde auch gegen den Zwischenentscheid
des Regierungsrates vom 3. Juli 1967; BGE 93 I 454).

Erwägung 2

    2.- In der rückwirkenden Anwendung des Wertzuwachssteuerbeschlusses
der Gemeinde Oberkirch vom 16. April 1961 auf die Grundstückkaufverträge
vom 28. März 1961 erblickt die Beschwerdeführerin in erster Linie eine
Verletzung von Art. 11 der luzernischen Kantonsverfassung, welcher lautet:

    "Einkommen und Vermögen sind nach den Bestimmungen der Gesetzgebung
zu versteuern".

    Allein wie das Bundesgericht schon 1921 entschieden hat, verweist
diese Bestimmung lediglich die Ausgestaltung des Steuerrechtes auf den
Weg des Gesetzes (BGE 47 I 16). Ein verfassungsmässiges Recht des Bürgers
begründet sie nicht. Daran ist festzuhalten. Die Beschwerde ist in diesem
Punkte unbegründet.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin macht sodann geltend, die rückwirkende
Anwendung des erwähnten Wertzuwachssteuerbeschlusses verletze Art. 4
BV. Wie in BGE 94 I 5 Erw. 3 dargelegt, lassen Rechtsprechung und Lehre
die Rückwirkung von Verwaltungsgesetzen, die den Bürger belasten, nur zu,
wenn sie

    -  ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar
gewollt ist;

    - in zeitlicher Beziehung mässig ist;

    - zu keinen stossenden Rechtsungleichheiten führt;

    - sich durch beachtenswerte (triftige) Gründe rechtfertigen lässt;

    - nicht in wohlerworbene Rechte eingreift.

    Demgegenüber kommt es nach dem Entscheid des Regierungsrates
vom 3. Juli 1967 für die rückwirkende steuerliche Erfassung von
Grundstückverkäufen - neben der ausdrücklichen Einführung der
Wertzuwachssteuer durch die Gemeinde und der Befristung ihrer
Rückwirkung auf höchstens 1 Jahr gemäss § 32 StGN - allein darauf
an, ob diese Verkäufe zur Vermeidung der Wertzuwachssteuer getätigt
worden sind oder nicht. Nach Auffassung des Regierungsrates ist somit,
abgesehen von der formrichtigen Einführung dieser Steuer und der dem Gesetz
entsprechenden Befristung, für die Zulässigkeit rückwirkender Anwendung der
Wertzuwachssteuer ausschliesslich das fiskalische Interesse der Gemeinde
massgebend. Andere Gründe als die Absicht der Beschwerdeführerin,
die erwartete Wertzuwachssteuer zu vermeiden, werden denn auch zur
Rechtfertigung der rückwirkenden Anwendung des Wertzuwachssteuerbeschlusses
vom 16. April 1961 auf die vorliegenden Handänderungen vom 28. März
1961 nicht geltend gemacht. Das Vorliegen dieser Voraussetzung allein
stellt indessen keinen beachtenswerten oder triftigen, die Rückwirkung
rechtfertigenden Grund im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dar.

    Wie das Bundesgericht schon in BGE 61 I 92 - den Entscheid in BGE 47
I 15 präzisierend - festgestellt hat, hält eine Rückwirkungsklausel nicht
schon deshalb vor Art. 4 BV stand, weil sie dem Steuergesetz beigefügt
wurde, um seine Umgehung während der Zeitspanne der Gesetzesberatung zu
verhindern. Vielmehr müssten sich für die Rückwirkung im einzelnen Falle
weitere, beachtenswerte Gründe anführen lassen, wie z.B. die Dringlichkeit
von Massnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen (BGE 61 I 94). In BGE 77 I
191 (Erw. 6 b) wurde entschieden, eine Rückwirkungsklausel, welche einen
Teil der Steuerpflichtigen der Möglichkeit beraube, durch kompensierende
Kapitalverlustrealisationen die Wirkung einer neuen Einkommenssteuer ganz
oder teilweise auszugleichen, sei mit Art. 4 BV unvereinbar. Damit wurde
anerkannt, dass der Abschluss von an sich zulässigen Rechtsgeschäften
zur Vermeidung einer bevorstehenden neuen Steuer schützenswert ist. In
BGE 92 I 232 hat das Bundesgericht sodann ausgeführt, dem Interesse des
Bürgers an der Voraussehbarkeit der Rechtsordnung könnten erhebliche
öffentliche Interessen an der rückwirkenden Inkraftsetzung von Erlassen
entgegenstehen. Diese Interessen könnten vorgehen, insbesondere wenn
nichtfiskalische, sondern wirtschaftspolitische Zwecke im Vordergrund
stünden. Auch nach der Praxis des Regierungsrates des Kantons Luzern
(Amtl. Sammlung 1950, S. 36), aufwelche sich der Regierungsrat im Entscheid
vom 3. Juli 1967 ausdrücklich beruft, kann eine Rechtfertigung für die
rückwirkende Anwendung gerade der in Frage stehenden Wertzuwachssteuer
"nicht einfach darin liegen, dass man erklärt, für die Gemeinde
seien derartige Steuereingänge erwünscht; denn das sind sie in jedem
Falle". Es müssten vielmehr "ganz besondere Gründe geltend gemacht werden
können, die die Rückwirkung geradezu als eine Notwendigkeit erscheinen
lassen." Derartige Gründe werden aber im vorliegenden Falle nicht
angeführt. Im Gegensatz zu seiner eigenen und der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung begnügte sich der Regierungsrat im vorliegenden Falle mit
dem Vorliegen der Absicht der Beschwerdeführerin, durch beschleunigten
Abschluss der Kaufverträge die Wertzuwachssteuer zu vermeiden, um deren
rückwirkende Anwendung als zulässig zu erklären.

    Da somit beachtenswerte oder triftige Gründe, die ein Abweichen
vom Grundsatz der Nichtrückwirkung rechtfertigen würden, nicht
geltend gemacht werden, verletzt die rückwirkende Anwendung des
Wertzuwachssteuerbeschlusses der Gemeinde Oberkirch vom 16. April
1961 auf die von der Beschwerdeführerin mit W. und A. abgeschlossenen
Grundstückkaufverträge vom 28. März 1961 Art. 4 BV. Sie stellt zudem eine
stossende, mit Art. 4 BV unvereinbare Rechtsungleichheit dar, indem die
Rückwirkung im vorliegenden Falle in Abweichung von der eigenen Praxis
des Regierungsrates, auf die er sich selbst beruft, bejaht wurde, ohne
dass Gründe angeführt worden sind, welche eine solche Ausnahmebehandlung
sachlich rechtfertigen würden. Die beiden angefochtenen Entscheide des
Regierungsrates vom 3. Juli 1967 und 12. Juli 1968 sind daher aufzuheben.

    Damit erübrigt sich die Prüfung der Frage, ob entsprechend der Annahme
des Regierungsrates tatsächlich nur die Absicht der Beschwerdeführerin,
die Wertzuwachssteuer zu vermeiden, den eiligen Kaufsabschluss erklären
könne. Dahingestellt kann auch bleiben, wie es sich mit der von der
Beschwerdeführerin für den Fall ihrer grundsätzlichen Steuerpflicht
erhobenen Einrede der Verwirkung und Verjährung der Steueransprüche
verhält.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und die beiden Entscheide des
Regierungsrates des Kantons Luzern vom 3. Juli 1961 und 12. Juli 1968
werden aufgehoben.