Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 556



95 I 556

80. Urteil vom 12. Dezember 1969 i.S. Kaiser und Konsorten gegen
Einwohnergemeinde Rorschach und Regierungsrat des Kantons St. Gallen.
Regeste

    Art. 86, 96 Abs. 2 OG.

    Der Beschwerdeentscheid des Regierungsrates des Kantons St. Gallen
gegen einen Beschluss eines Gemeindeparlamentes ist, wenn die Verletzung
von Volksrechten geltend gemacht wird, nicht letztinstanzlich (Erw. 3);

    Voraussetzungen, unter denen das Bundesgericht eine staatsrechtliche
Beschwerde der zuständigen letztinstanzlichen kantonalen Behörde überweisen
kann (Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Gemeinderat von Rorschach beschloss am 30. Juni 1969
auf Antrag des Stadtrates, der Interessengemeinschaft Bootsbetrieb
Rorschach-Rheineck zur Finanzierung eines neuen Motorbootes ein Darlehen
von Fr. 385'000.-- zu gewähren. Dr. Kaiser rekurrierte dagegen an den
Regierungsrat mit dem Antrag, den Beschluss als ungültig zu erklären
und den Gemeinderat anzuhalten, das Kreditgesuch dem obligatorischen
Referendum zu unterstellen. Der Regierungsrat lehnte das Eintreten auf
den Rekurs mit Entscheid vom 19. August 1969 ab.

    Dr. E. Kaiser führt für sich und weitere Stimmberechtigte
staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Nichteintretensentscheid
des Regierungsrates wegen Gehörsverweigerung und Willkür aufzuheben.

    Die Stadt Rorschach und der Regierungsrat des Kantons St. Gallen
beantragen, auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten,
eventuell sie abzuweisen. Sie machen geltend, die Beschwerdeführer hätten
gemäss Art. 59 lit. c Ziff. 1 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes zunächst
an das Verwaltungsgericht gelangen müssen.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer erklären zwar, die staatsrechtliche Beschwerde
gestützt auf die Art. 38, 39 Abs. 4, Art. 45 und 46 der Kantonsverfassung
sowie auf Grund von Art. 85 lit. a OG erheben zu wollen. Indes geht es
lediglich um eine Frage des kantonalen Verwaltungsverfahrens, nämlich
darum, ob gegen einen Beschluss des Gemeindeparlamentes die Möglichkeit des
Weiterzuges an den Regierungsrat besteht. Diese Frage ist vom Bundesgericht
bloss daraufhin zu prüfen, ob Art. 4 BV verletzt ist.

Erwägung 3

    3.- Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger
sind erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch
gemacht worden ist (Art. 86 Abs. 2 OG). Nach st. gallischem Recht können
Verfügungen der Verwaltungsbehörden mit dem Rechtsmittel des Rekurses an
den Regierungsrat weitergezogen werden, sofern nicht der Weiterzug an die
Verwaltungsrekurskommission oder an das Versicherungsgericht offen steht
(Art. 43 VRP). Doch kann in den im Gesetz (Art. 49 Abs. 1 lit. c ebenda)
bezeichneten Fällen gegen Verfügungen und Entscheide des Regierungsrates
noch beim Verwaltungsgericht Beschwerde erhoben werden, sofern gegen den
letztinstanzlichen Entscheid kein anderes Rechtsmittel des Bundesrechts als
die staatsrechtliche Beschwerde zulässig wäre. Zu den so mit der kantonalen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren Entscheiden gehören solche über
die Ausübung von Volksrechten, die Fälle ausgenommen, in denen Kassations-
oder Minderheitsbeschwerde erhoben werden kann.

    Die Beschwerdeführer behaupten nicht, dass sie eine Kassations-
oder Minderheitsbeschwerde erhoben haben; sie vertreten dagegen die
Auffassung, dass zur Anfechtung des Gemeindebeschlusses der Rekurs an
den Regierungsrat gegeben gewesen wäre. Ob dies zutreffe, d.h. ob der
Entscheid des Regierungsrates die Ausübung von Volksrechten betreffe,
hat aber das Verwaltungsgericht als diejenige Behörde zu befinden, welche
in der Sache selbst zu entscheiden hätte.

    Es fehlt daher an der in Art. 86 OG geforderten Erschöpfung des
kantonalen Instanzenzuges.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführer haben diese Tatsache in ihrer nachträglichen
Eingabe vom 21. November 1969 nicht in Abrede gestellt. Sie verweisen
aber darauf, dass der Entscheid des Regierungsrates keine Rechtsbelehrung
enthält. Damit werde Art. 24 Abs. 1 lit. d verletzt, wonach die Verfügung
u.a. die Belehrung über das zulässige ordentliche Rechtsmittel, die
Frist sowie die Instanz enthalten muss. Sie verlangen deshalb, dass die
Beschwerde, weil rechtzeitig bei einer unzuständigen Stelle eingereicht,
vom Bundesgericht entsprechend BGE 94 I 285 an das Verwaltungsgericht
weitergeleitet werde.

    Im zitierten Fall hatte das Bundesgericht als Instanz
der Verwaltungsrechtspflege zu entscheiden. Darin wird ein vor
kantonalen oder eidgenössischen Behörden eingeleitetes und beurteiltes
Verwaltungsverfahren fortgesetzt und entschieden. Die staatsrechtliche
Beschwerde leitet dagegen ein neues, selbständiges Verfahren ein,
in dem über die Verfassungsmässigkeit eines kantonalen Hoheitsaktes zu
befinden ist. Geht es darin um die Verletzung verfassungsmässiger Rechte,
so ist vor der Anrufung des Bundesgerichts der kantonale Instanzenzug zu
erschöpfen. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so ist die Unzulässigkeit
der Beschwerde durch Nichteintretensentscheid festzustellen, nicht durch
eine Abschreibung, wie die Beschwerdeführer sie verlangen.

    Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde schliesst freilich die
Möglichkeit nicht aus, eine Beschwerde auf Antrag oder von Amtes wegen
der vom Beschwerdeführer übergangenen kantonalen Instanz weiterzuleiten,
sofern nicht von vorneherein ersichtlich ist, dass die Frist zur Erhebung
des in Frage kommenden kantonalen Rechtsmittels bereits verstrichen,
und der Beschwerdeführer mit solcher Weiterleitung einverstanden ist und
die zuständige kantonale Behörde es nicht ablehnt, die staatsrechtliche
Beschwerde als kantonales Rechtsmittel entgegenzunehmen. Ob sie das
tun kann und ob die Voraussetzungen für die Erhebung des kantonalen
Rechtsmittels erfüllt sind, hat sie nach dem massgebenden kantonalen
Recht zu entscheiden.

    Der Überweisung der staatsrechtlichen Beschwerde an das st. gallische
Verwaltungsgericht steht nichts im Wege. Zwar ist hierüber das kantonale
Verwaltungsgericht nicht angehört worden. Doch ist das Bundesgericht zu
solcher Anhörung nicht verpflichtet.

    Die Rechtsmittelfrist von Art. 47 Abs. 3 VRP, die mangels einer
Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid 30 Tage beträgt,
ist gewahrt, wenn auf den Eingang der Beschwerde beim Bundesgericht
abzustellen ist. Die Beschwerdeführer verlangen die Überweisung.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1.- Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

    2.- Die Beschwerdeschrift sowie die eingeholten Vernehmlassungen
werden im Sinne der Erwägungen dem Verwaltungsgericht des Kantons
St. Gallen weitergeleitet.