Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 542



95 I 542

78. Auszug aus dem Urteil vom 9. Dezember 1969 i.S. Niederberger gegen
Staatsanwaltschaft und Regierungsrat des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 88 OG. Legitimation bei Abweisung eines Begnadigungsgesuches; E.1.

    Art. 31 Ziff. 8 zürch. KV. Verfassungsmässigkeit der zürcherischen
Ordnung des Begnadigungsrechtes, die es der Gesetzgebung überlässt, die
Fälle zu bestimmen, in welchen der Regierungsrat das Gesuch dem Kantonsrat
zu unterbreiten hat; Überprüfungsbefugnis; E. 3 und 4.

    Keine Verletzung der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes (Art. 251
Abs. 3 BStP); E. 5.

Sachverhalt

    Am 12. Dezember 1966 verurteilte das Obergericht des Kantons Zürich
den Beschwerdeführer wegen Betruges, fortgesetzter und wiederholter
Veruntreuung, wiederholter und fortgesetzter ungetreuer Geschäftsführung
sowie wiederholter und fortgesetzter Urkundenfälschung, begangen in
den Jahren 1957 bis 1959, zu zwei Jahren Gefängnis, abzüglich 302
Tage erstandener Untersuchungshaft. Der Verurteilte verlangte vom
Regierungsrat des Kantons Zürich die Begnadigung. Dieser lehnte das
Begehren ab. Niederberger stellte ein Wiedererwägungsgesuch. Er wurde
auch damit abgewiesen.

    Mit der staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Niederberger, der
Beschluss vom 5. September 1968 sei aufzuheben.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist dazu bestimmt, den Bürger
vor einer Beeinträchtigung in ihm verfassungsmässig zustehenden Rechten
durch den Staat und seine Organe zu schützen. Sie setzt also voraus,
dass der Betroffene in einem rechtlich geschützten Interesse, einem ihm
persönlich zustehenden Rechtsanspruch verletzt ist.

    Die einschlägigen Gesetze enthalten darüber keine Vorschriften,
unter welchen Voraussetzungen der durch den Strafrichter Verurteilte zu
begnadigen ist. Es sind dafür ausserhalb der richterlichen Beweiswürdigung,
Rechtsanwendung und Strafzumessung liegende Verhältnisse massgebend. Sie
können unter Umständen auch bloss politischer Natur sein. Darum
steht der Begnadigungsbehörde bei der Ausübung des Gnadenrechtes ein
weitgehendes freies Ermessen zu. Auf die Gewährung von Gnade besteht
kein Rechtsanspruch, der etwa demjenigen gleichgestellt werden könnte,
dass der Beschuldigte im Zweifelsfalle nicht verurteilt werden darf. Darum
erhebt sich die Frage, ob und inwieweit allenfalls wegen Verweigerung der
Begnadigung staatsrechtliche Beschwerde erhoben werden kann. Bestenfalls
kann gesagt werden, die Begnadigungsbehörde habe sich bei der Ausübung der
ihr zustehenden Befugnis an Grundsätze zu halten und sie könne, jedenfalls
für den Regelfall, bei gleichen tatsächlichen Verhältnissen nicht einem
Gesuchsteller entsprechen, das Gesuch des anderen aber ablehnen.

    Inwieweit der Entscheid des Regierungsrates, der es abgelehnt hat, das
Gesuch des Beschwerdeführers dem Kantonsrat zum Entscheid zu unterbreiten,
staatsrechtlicher Anfechtung zugänglich ist, mag jedoch dahingestellt
bleiben, wenn sich die Beschwerde bei der sich aufdrängenden Zurückhaltung
des über die Verfassungsmässigkeit urteilenden Richters als unbegründet
erweist.

Erwägung 2

    2.- ...

Erwägung 3

    3.- Die Verfassung des Kantons Zürich überträgt in Art. 31 Ziff. 8
das Begnadigungsrecht dem Kantonsrat "nach Massgabe von Art. 56 dieser
Verfassung". Danach steht ihm das Begnadigungsrecht zu; es ist aber
der Gesetzgebung überlassen, die Fälle zu bezeichnen, in welchen der
Regierungsrat, an den die Begnadigungsgesuche zu richten sind, verpflichtet
ist, ein Gesuch mit einem Antrag dem Kantonsrat vorzulegen. Für die übrigen
Fälle wird der Regierungsrat als befugt bezeichnet, über die Vorlegung der
Gesuche an den Kantonsrat oder über deren Abweisung zu befinden. Ausgeführt
wird die Vorschrift durch § 491 der Strafprozessordnung. Er bestimmt, der
Regierungsrat sei, wenn das Urteil auf lebenslängliches Zuchthaus lautet,
oder wenn der Richter an ein erhöhtes Mindestmass der Zuchthausstrafe
gebunden war, ferner bei politischen Vergehen und Verbrechen, verpflichtet,
das Gesuch mit seinem Antrag dem Kantonsrat vorzulegen. In allen anderen
Fällen entscheidet er über die Vorlegung oder Abweisung. In der Lehre ist
streitig, ob mit der Neufassung der beiden Verfassungsvorschriften die
frühere Streitfrage, ob § 491 StPO eine verfassungsmässig unzulässige
teilweise Übertragung des Begnadigungsrechts an den Regierungsrat
darstelle, gelöst wurde (in diesem Sinn PETRZILKA, Erläuterungen, S. 517;
a.M. WOLFFERS, Zur Begnadigung nach zürcherischem Recht, ZBl 41 (1940)
S. 465). Die angefochtene Ordnung verstösst weder gegen kantonales
Verfassungs- noch gegen Bundesrecht.

    Welche Begnadigungsgesuche dem Kantonsrat zu unterbreiten sind, wird
in Art. 56 KV dem Gesetzgeber überlassen. Dieser stellt in § 491 StPO auf
die Schwere der Strafe ab. Ob diese Unterscheidung verfassungswidrig ist,
ist bloss unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV zu prüfen. Dass § 491
StPO eine Verfassungsvorschrift ausführt, ist ohne Bedeutung. Gesetzliche
Vorschriften, die einen in der Verfassung selbst angeführten Grundsatz
ausführen, werden dadurch nicht Verfassungsrecht. Die Auslegung durch
den Regierungsrat wäre nur zu beanstanden, wenn sie mit dem Wortlaut
oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift unvereinbar und sachlich nicht zu
rechtfertigen wäre.

Erwägung 4

    4.- Nur diejenigen Begnadigungsgesuche dem Kantonsrat zur Behandlung
zu überweisen, welche schwere Fälle betreffen, lässt sich mit sachlichen
Gründen rechtfertigen. Die Prüfung daraufhin, ob auf die Vollstreckung
einer ausgesprochenen Strafe verzichtet werden soll, ist nicht bloss
gewährleistet, wenn der Kantonsrat entscheidet, sondern auch, wenn der
Entscheid darüber dem Regierungsrat zukommt. Er ist ebenso wie jener in
der Lage, zu prüfen, ob Gründe der Billigkeit und Zweckmässigkeit für
Bewilligung oder Ablehnung der Begnadigung sprechen. Es werden damit
auch nicht gleiche Verhältnisse ungleich behandelt. Die Schwere der
zu verbüssenden Strafe ist ein zulässiges Unterscheidungskriterium. Da
der Regierungsrat in gleicher Weise wie der Kantonsrat zu prüfen hat,
ob sich die Begnadigung rechtfertigt, läuft die Ordnung nicht auf eine
Privilegierung von Gesuchstellern hinaus, die den Gesetzen in schwerer
Weise zuwider gehandelt haben.

Erwägung 5

    5.- Bundesrecht bezeichnet der Beschwerdeführer als verletzt, weil Art.
251 Abs. 3 BStP vorschreibe, dass im Verfahren in Bundesstrafsachen,
die von den kantonalen Gerichten zu beurteilen sind, die Urteile den
Parteien in schriftlicher Ausfertigung zugestellt werden sollen.

    Art. 251 BStP findet sich unter dem dritten Titel des Gesetzes. Er
ordnet das Verfahren in Bundesstrafsachen, die von den kantonalen
Gerichten zu beurteilen sind. Die darin enthaltenen Vorschriften gelten
bei Beurteilung von Strafsachen eidgenössischen Rechts, für Urteile der
kantonalen Gerichte, wenn sie eidgenössisches Strafrecht anwenden. Die
Vorschrift über die Begründung dieser Urteile soll dem Bundesgericht
die durch Verfassung und Gesetz zugewiesene Aufgabe ermöglichen, die
Entscheidung auf eine Verletzung eidgenössischen Rechts zu überprüfen.

    Begnadigungsentscheide unterliegen nicht der bundesgerichtlichen
Überprüfung. Sie gehen nicht vom Richter aus, sondern stellen einen
Hoheitsakt dar, der ausserhalb des prozessualen Rechtsganges gewährt wird.
Der Entscheid darüber bedarf deshalb keiner schriftlichen Begründung. Eine
solche wäre angesichts der für den Entscheid massgebenden Gesichtspunkte
auch nicht leicht möglich (HAFTER, Strafrecht, Allgem. Teil S. 443 N. 2).