Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 414



95 I 414

60. Urteil vom 8. Oktober 1969 i.S. Schachtler gegen Obergericht des
Kantons Luzern Regeste

    Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für die Klage aufgrund von
Art. 271 Ziff. 5 SchKG.

    Die unentgeltliche Rechtspflege darf dem Kläger nicht verweigert
werden, wenn die Betreibung, in welcher der provisorische Verlustschein
ausgestellt wurde, im Zeitpunkt der Arrestnahme bereits erloschen war.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- In der Betreibung Nr. 9719 des Betreibungsamtes Luzern wurde der
Gläubigerin, Atlas Bank in Zürich, am 23. Februar 1967 ein provisorischer
Verlustschein ausgestellt. Gestützt darauf erwirkte die Gläubigerin
gegen den Schuldner am 21. Februar 1969 einen Arrest. Schachtler
erhob Arrestaufhebungsklage, die er damit begründete, dass die zugrunde
liegende Betreibung Nr. 9719 des Betreibungsamtes Luzern mangels Stellung
des Verwertungsbegehrens erloschen sei. Der Amtsgerichtspräsident I
Luzern-Stadt wies das mit der Klage verbundene Gesuch um Gewährung des
Armenrechts wegen Aussichtslosigkeit ab, ebenso das Obergericht des
Kantons Luzern den dagegen erhobenen Rekurs. Hiegegen richtet sich die
staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Rekursentscheid aufzuheben
und die Sache zur Weiterbehandlung und zur Gewährung des Armenrechts an
das Obergericht zurückzuweisen. Es wird eine Verletzung von Art. 4 BV
(Abweisung des Armenrechtsgesuches aus unzutreffenden Gründen) gerügt.

    Das Obergericht beantragt unter Hinweis auf die Erwägungen seines
Entscheides die Abweisung der Beschwerde.

Erwägung 2

    2.- Nach den vom Bundesgericht zu Art. 4 BV entwickelten Grundsätzen
hat die bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen
Zivilprozess einen Anspruch darauf, dass der Richter für sie ohne
vorgehende Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird. Als
aussichtslos gelten Prozessbegehren, bei denen die Gewinnaussichten
beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und nicht mehr
als ernsthaft bezeichnet werden können; dagegen hat ein Begehren
nicht als aussichtslos zu gelten, wenn die Gewinnaussichten und die
Verlustgefahren sich ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig
geringer sind, als diese. Das Bundesgericht prüft den angefochtenen
Entscheid in rechtlicher Hinsicht grundsätzlich soweit frei, als der
bundesrechtliche Armenrechtsanspruch im Streite liegt (BGE 89 I 161 Erw. 2
mit Verweisungen).

Erwägung 3

    3.- Es ist streitig, ob die Arrestaufhebungsklage aussichtslos ist. Wie
es sich damit verhält, hängt zunächst davon ab, ob das Arrestbegehren nur
solange gestellt werden kann, als die dem provisorischen Verlustschein
zugrunde liegende Betreibung noch gültig ist und fortgesetzt werden kann,
oder ob er auch nach Hinfall der Betreibung einen Arrestgrund darstellt.

    Die kantonalen Instanzen nehmen das letztere an. Das Obergericht
erklärt unter Hinweis auf LEEMANN, (Der schweiz. Verlustschein,
S. 34 ff.), die Literatur sei von jeher überwiegend auf diesem Boden
gestanden. Auch das Urteil des Bundesgerichtes in BGE 88 III 67 Erw. 5
könne nur dahin verstanden werden, dass ein Gläubiger gestützt auf einen
provisorischen Verlustschein in jedem Fall die Möglichkeit habe, einen
Arrest zu erwirken. FRITZSCHE (Schuldbetreibung, Konkurs und Sanierung,
Bd I 269, Bd II 207) pflichte dieser Auffassung des Bundesgerichtes
bei. Der Beschwerdeführer vermöge nicht darzutun, weshalb diese Praxis
zu Misständen oder zu Rechtsunsicherheit Anlass gäbe.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 115 SchKG dient die Pfändungsurkunde, falls nach
der Schätzung des Beamten nicht genügendes Vermögen vorhanden ist, dem
Gläubiger als provisorischer Verlustschein und äussert als solcher die in
den Art. 271 Ziff. 5 und Art. 285 SchKG bezeichneten Rechtswirkungen. Der
Gläubiger kann, wenn ihm ein Verlustschein zugestellt wurde, für eine
verfallene, nicht durch Pfand gedeckte Forderung Vermögensstücke des
Schuldners mit Arrest belegen lassen. Eine ausdrückliche Antwort auf die
gestellte Frage ist diesen Vorschriften nicht zu entnehmen. Diese ist
aus allgemeinen Grundsätzen über die Wirkung einer hängigen oder einer
erloschenen Betreibung zu gewinnen.

Erwägung 5

    5.- Nach Art. 149 SchKG wird ein definitiver Verlustschein ausgestellt,
wenn der an der Pfändung teilnehmende Gläubiger für seine Forderung oder
einen Teil derselben aus dem Erlös der gepfändeten Sache nicht gedeckt
wird, der provisorische, wenn nach der Schätzung des Betreibungsbeamten
bei der Pfändung nicht genügend Vermögen vorhanden ist. Provisorisch
ist der Verlustschein in diesem Fall, weil sich bei einer Nach-
oder Ergänzungspfändung oder bei der Verwertung der gepfändeten Sache
ergeben kann, dass der Gläubiger für seine Forderung doch noch befriedigt
wird. Das Recht, eine Nach- oder Ergänzungspfändung zu verlangen erlischt
nach Art. 88 Abs. 2 SchKG mit Ablauf eines Jahres seit der Zustellung des
Zahlungsbefehls. Bis dahin kann der Gläubiger auch einen Arrest verlangen
oder die Anfechtungsklage anstellen. Durch den provisorischen Verlustschein
wird also bezeugt, dass eine generelle Zwangsvollstreckung in das Vermögen
des Schuldners im Gange ist und dass der Gläubiger voraussichtlich ganz
oder teilweise zu Verlust kommen wird. Die ungenügende Pfändung, welche
durch den provisorischen Verlustschein festgestellt wird, verliert
ihre Bedeutung, wenn der Gläubiger nachträglich befriedigt wird. Mit
dem definitiven Verlustschein ist dagegen die Betreibung abgeschlossen
und steht der Verlust fest. Bei solcher Verschiedenheit der Wirkungen
der beiden Arten von Verlustscheinen lässt sich wohl kaum rechtfertigen,
sie bezüglich des Arrestes gleichzustellen, wenn die Betreibung, die zum
provisorischen Verlustschein geführt hat, nicht fortgesetzt wird. Es liegt
näher anzunehmen, die Wirkung des provisorischen Verlustscheins beschränke
sich auf die Dauer des angehobenen Betreibungsverfahrens, und mit dem
Erlöschen der Betreibung falle die Wirkung der vorgenommenen Pfändung
dahin. Wenn dem aber so ist, könnte der provisorische Verlustschein
nach dem Erlöschen der Betreibung nicht mehr als Grundlage für einen
Arrest dienen (so für die Anfechtungsklage JAEGER, Schuldbetreibungs-
und Konkurspraxis 1911-1945 zu Art. 285 Note 3). Entsprechendes sollte
für den Arrest gelten.

    Auch die Lehre scheint hiervon auszugehen.

    Nach BLUMENSTEIN (Handbuch des schweiz. Schuldbetreibungsrechtes
S. 498) bleibt der provisorische Verlustschein solange in Kraft, bis die
Betreibung vollständig durchgeführt ist und ein definitiver Verlustschein
ausgestellt wird. Inzwischen, nicht auch nachher, äussert er gewisse
Wirkungen, die dem definitiven Verlustschein zukommen. Nach JAEGER
(zu Art. 115 Note 3) berechtigt der provisorische Verlustschein den
Gläubiger, solange die eingeleitete Betreibung ihren Fortgang nimmt,
zur Arrestnahme. OVERBECK (Schuldbetreibung und Konkurs, S. 125) führt
aus, der provisorische Verlustschein bleibe solange in Kraft, bis das
Betreibungsverfahren vollständig, d.h. bis zur Verwertung durchgeführt
ist. LEEMANN vertritt keine andere Auffassung.

    Auch das Bundesgericht hat in BGE 88 III 59 nicht erklärt, der
provisorische Verlustschein berechtige zur Arrestnahme. In diesem
Entscheid ging es um die Zulässigkeit einer zweiten Betreibung. Das
Bundesgericht anerkennt darin, dass vom allgemeinen Verbot, zwei oder
mehrere Betreibungen nebeneinander zu führen, bei der Arrestprosequierung
eine Ausnahme gelte. Für den Fall, dass die erste Betreibung erloschen
ist, wird damit über die Zulässigkeit des Arrestes auf Grund eines
provisorischen Verlustscheins nichts ausgesagt. FRITZSCHE (S. 207) und
KUMMER (ZbJV 99, 455) nehmen keinen andern Standpunkt ein. Nach diesem muss
der Gläubiger den Arrest gestützt auf den provisorischen Verlustschein
allerdings prosequieren, und folglich "allenfalls noch vor Erledigung
der ersten Betreibung für die nämliche Forderung eine zweite anheben".

Erwägung 6

    6.- Es ist nicht streitig, dass die dem provisorischen Verlustschein
zugrunde liegende Betreibung gegen den Beschwerdeführer erloschen
ist. Die Auffassung des angefochtenen Entscheides, der Verlustschein
berechtige trotzdem zur Stellung des Arrestgesuches, erscheint daher als
zweifelhaft. Jedenfalls könnte nicht gesagt werden, Gewinnaussichten und
Verlustgefahren der Arrestaufhebungsklage hielten sich nicht die Waage
und diese sei aussichtslos. Die unentgeltliche Rechtspflege durfte dafür
nicht verweigert werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts
des Kantons Luzern vom 31. Juli 1969 aufgehoben.