Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 380



95 I 380

55. Urteil vom 3. September 1969 i.S. Aktiengesellschaft für Verkehrswerte
gegen Sarom 99 A.-G. und Gen. und Obergericht des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 40, 94 OG, Art. 79 ff. BZP.

    Art. 80 BZP ist auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht
anwendbar. Gegen den Entscheid des Präsidenten über das Gesuch um Gewährung
aufschiebender Wirkung ist deshalb ein Weiterzug an das Bundesgericht
nicht zulässig.

Sachverhalt

    Die Beschwerdeführerin verlangte mit der am 23. Juni 1969 gegen den
Beschluss des Obergerichts vom 14. Mai 1969 erhobenen staatsrechtlichen
Beschwerde die Gewährung aufschiebender Wirkung. Der Präsident lehnte
das Gesuch mit Verfügung vom 21. Juli 1969 ab, ebenso ein Gesuch um
Wiedererwägung der Verfügung. Mit Schreiben vom 15. August 1969 erklärte
die Beschwerdeführerin, sie ziehe die Verfügung des Präsidenten an die
Kammer weiter und verlangte, die Wiedererwägungsverfügung sei aufzuheben
und der staatsrechtlichen Beschwerde aufschiebende Wirkung zu verleihen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Bundesgericht tritt auf den Weiterzug nicht ein:

    Nach Art. 40 OG finden, wo dieses Gesetz keine besondern
Bestimmungen über das Verfahren enthält, die Vorschriften des
Bundesgesetzes über den Bundeszivilprozess Anwendung. Voraussetzung
ist also das Fehlen von Vorschriften im Organisationsgesetz. Doch
gibt nicht jedes Fehlen einer Verfahrensbestimmung in diesem Gesetz
Anlass zu analoger Anwendung des Bundeszivilprozesses. Das Fehlen muss
sich als ein Mangel, eine Lücke im Organisationsgesetz darstellen.
Ausserdem muss eine Ordnung des Bundeszivilprozesses in Frage stehen,
die sich nach dem Sinn des Organisationsgesetzes auf dieses anwenden
lässt. Wenn deshalb das Organisationsgesetz nicht ausdrücklich auf die
Bestimmungen des Bundeszivilprozesses verweist, wie es etwa in Art. 67
Abs. 3 und 4 OG zutrifft, ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine Lücke des
Organisationsgesetzes anzunehmen ist, oder ob dieses eine abschliessende
Ordnung einer bestimmten Materie und auch der Bundeszivilprozess eine
Bestimmung enthält, die sich zu analoger Anwendung eignet. So wurde
bisher z.B. angenommen, die Bestimmungen des BZP über die Intervention
seien nicht anwendbar. Ebenso enthalte das OG für Patentstreitigkeiten
besondere Vorschriften, welche die Anwendung von Art. 67 BZP ausschlössen
(einerseits BGE 81 I 397, anderseits BGE 91 II 72). Sodann muss es
sich um eine besondere Bestimmung über das Verfahren handeln. Mit der
analogen Anwendung von Art. 80 BZP auf die staatsrechtliche Beschwerde
soll aber eine neue Zuständigkeit des Bundesgerichts geschaffen, nicht so
sehr eine Bestimmung über das Verfahren ergänzt werden. Soll gegen eine
bestimmte Entscheidung ein Rechtsmittel eingeräumt werden, geschieht dies
nach allgemein geltender Auffassung durch eine besondere Vorschrift des
Gesetzes, in dem die Weiterziehbarkeit der Entscheidung geordnet werden
soll. Ist dies nicht geschehen, so muss ohne dagegen sprechende zwingende
Gründe davon ausgegangen werden, der Gesetzgeber habe gegen den Entscheid
ein Rechtsmittel nicht einräumen wollen.

    Art. 94 OG bezeichnet für den Erlass einer vorsorglichen Verfügung den
Präsidenten des Gerichts, d.h. den Abteilungspräsidenten als zuständig
(Art. 14 OG). Ein Rechtsmittel gegen dessen Entscheid ist nicht
vorgesehen. Art. 80 BZP bezeichnet als zuständig den Abteilungspräsidenten
vor rechtshängiger Klage, nachher den Instruktionsrichter, in der
Hauptverhandlung das Gericht. Der Entscheid (sc. des Instruktionsrichters
oder des Abteilungspräsidenten) kann an das Gericht weitergezogen werden,
wobei die Beschwerde ohne gegenteilige Verfügung keine aufschiebende
Wirkung hat.

    Die beiden Vorschriften weichen voneinander also in verschiedener
Beziehung ab. Für Verfügungen im Sinne von Art. 94 ist immer der Präsident
zuständig, nicht der Instruktionsrichter und auch nicht die Kammer. Die
Verfügung kann erst nach Eingang der Beschwerdeschrift verlangt werden,
nicht schon vorher. Verschiedenheiten bestehen auch bezüglich des
Inhaltes der Verfügung. Art. 94 OG ermächtigt den Präsidenten zum
Erlass derjenigen vorsorglichen Verfügungen, die erforderlich sind,
um den bestehenden Zustand zu erhalten oder bedrohte rechtliche
Interessen einstweilen sicherzustellen. Nach Art. 79 BZP können
vorsorgliche Verfügungen getroffen werden zum Schutze des Besitzers
gegen verbotene Eigenmacht und widerrechtliche Vorenthaltung sowie zur
Abwehr eines drohenden, nicht leicht wieder gutzumachenden Nachteils,
insbesondere durch Veränderung des bestehenden Zustandes vor oder während
der Rechtshängigkeit des Anspruches. Die vorsorgliche Verfügung wird
damit u.a. gewährt zur raschen Verwirklichung des Besitzanspruches,
sodass sie die ordentliche Besitzesschutzklage sozusagen entbehrlich
macht, ferner zur Wiedererlangung eines widerrechtlich entzogenen oder
vorenthaltenen Besitzes aufgrund des Rechts (vgl. für die analoge Ordnung
des bernischen Rechts LEUCH, bernische Zivilprozessordnung zu Art. 326
Note 5 lit. a). Die Wirkung der nach Art. 94 OG erlassenen Verfügung
geht nicht soweit. Das OG enthält also eine anders geartete Ordnung der
Materie als der Bundeszivilprozess. Das verbietet eine analoge Anwendung
der Vorschrift von Art. 79. Das Institut der vorsorglichen Verfügung ist in
Art. 94 abschliessend geordnet. Das war übrigens schon die Auffassung unter
der Herrschaft des früheren Organisationsgesetzes, welches in Art. 22 beim
Fehlen besonderer Bestimmungen auf die Vorschriften des Bundesgesetzes über
das Verfahren bei dem Bundesgericht in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
vom 22. November 1850 verwies. Doch betrachtete man die Vorschrift von
Art. 185 des Organisationsgesetzes über die Zuständigkeit des Präsidenten
des Bundesgerichtes zum Erlass provisorischer Verfügungen als eine
besondere Bestimmung über das Verfahren bei staatsrechtlichen Beschwerden
(REICHEL, Das Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege,
zu Art. 22 Ziff. III, 4). Es wurde also angenommen, dass in diesem
Punkt die Vorschriften des Bundeszivilprozesses angesichts der besondern
Bestimmungen des Organisationsgesetzes nicht anwendbar seien. Bei Erlass
des revidierten Bundeszivilprozesses war denn auch nirgends die Rede davon,
dass die Vorschriften von Art. 79 ff. auch auf das Organisationsgesetz
anwendbar seien. Es wäre schwer verständlich, dass der Gesetzgeber
eine Weiterziehung des Präsidialentscheides an die Kammer hätte zulassen
wollen, ohne es ausdrücklich zu erklären. Die Verfügungen müssen in vielen
Fällen ohne Aufschub getroffen werden können, sodass nicht abgewartet
werden kann, bis ein Urteil der Kammer vorliegt, das unter Umständen
nicht sofort ergehen könnte. Auch die Frage hätte der Regelung bedurft,
ob der Weiterziehung aufschiebende Wirkung zukomme oder ob diese von der
Kammer - oder dem Präsidenten - ausdrücklich angeordnet werden muss.

    Daraus ergibt sich, dass die Ordnung von Art. 94 OG abschliessend
ist und für die analoge Anwendung von Art. 79 BZP kein Raum bleibt.