Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 350



95 I 350

52. Auszug aus dem Urteil vom 9. Juli 1969 i.S. Neuapostolische Kirche
in der Schweiz gegen Evangelische Landeskirche, Katholische Landeskirche
und Steuerrekurskommission des Kantons Thurgau. Regeste

    Kultussteuer, Art. 49 Abs. 6 BV.

    Juristische Personen, die selber religiöse oder kirchliche
Zwecke verfolgen, können nicht verpflichtet werden, an andere
Religionsgemeinschaften, z.B. an die Landeskirchen, Kultus- oder
Kirchensteuern zu entrichten.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Nach dem auf 1. Januar 1965 in Kraft getretenen thurg. Steuergesetz
vom 9. Juli 1964 (StG) sind, wie schon nach dem StG vom 5. September 1950,
die "Kirchgemeinden" befugt, zur Deckung ihrer Ausgaben Gemeindesteuern
zu erheben (§ 132 StG). Gemeint sind die Gemeinden der evangelischen und
der katholischen Landeskirche (§ 56 KV). Die Bestimmungen des StG über
die Kirchensteuer lauten (in der Fassung gemäss § 38 Ziff. 3 des Gesetzes
vom 20. Januar 1966 über die öffentliche Fürsorge):

    "§ 135. Kirchensteuer für natürliche Personen.  Steuerpflichtige, die
keiner staatlich anerkannten Kirchgemeinde angehören, haben derjenigen
Landeskirche, aus der sie oder ihre Vorfahren ausgetreten sind, eine
Steuer für die Kosten von Friedhof, Turm, Uhr und Geläute zu entrichten.

    § 136. Kirchensteuern für juristische Personen. Die juristischen
Personen haben sowohl den evangelischen wie den katholischen Kirchgemeinden
Kirchensteuern zu entrichten.

    Massgebend für den Umfang der Steuerpflicht ist das Verhältnis
der Niedergelassenen und Aufenthalter der beiden Konfessionen der
Munizipalgemeinde, in welcher die juristische Person steuerpflichtig ist."

    Nach dem StG sind von der Staatssteuerpflicht u.a. befreit die
thurgauischen Kirchgemeinden (§ 13 lit. b) sowie juristische Personen,
die sich religiösen Zwecken widmen (§ 13 lit. e), doch bleibt für die
letzteren die Gemeindesteuerpflicht für ihr Grundeigentum vorbehalten
(§ 134 Abs. 2). Die Steuerbefreiung gemäss § 13 lit. e erfolgt durch
Beschluss des Regierungsrates.

    B.- Die Beschwerdeführerin, die "Neuapostolische Kirche in der
Schweiz", ist ein Verein im Sinne des Art. 60 ZGB, der im Jahre 1910 im
Handelsregister von Zürich eingetragen wurde. Das Vereinsgebiet umfasst
die ganze Schweiz und gliedert sich in Bezirke und Gemeinden.

    In den Jahren 1963/64 erwarb die Beschwerdeführerin in den Gemeinden
Frauenfeld, Romanshorn und Steckborn Baulandparzellen, um darauf Kapellen
zu erstellen; eine solche steht seit Mai 1968 auf dem Grundstück in
Steckborn, während die beiden andern Parzellen noch unüberbaut sind.

    Am 12. Juni 1965 ersuchte die Beschwerdeführerin den Regierungsrat
des Kantons Thurgau um Befreiung von den ordentlichen Kapital- und
Ertragssteuern des Staates und der Gemeinden sowie von den Erbschafts- und
Schenkungssteuern. Der Regierungsrat erklärte die Beschwerdeführerin am 19.
April 1966 aufgrund von § 13 lit. e StG steuerfrei, behielt aber die
Gemeindesteuerpflicht für ihr Grundeigentum gemäss § 134 Abs. 2 StG vor.

    Als die Beschwerdeführerin in der Folge von den Gemeindesteuerämtern
Frauenfeld und Steckborn Steuerzettel erhielt, mit denen von ihrem
Grundeigentum evangelische und katholische Kirchensteuern verlangt wurden,
stellte sie bei der kantonalen Steuerverwaltung zuhanden der Kirchenräte
der Evangelischen und der Katholischen Landeskirche das Gesuch um Befreiung
von allen evangelischen und katholischen Kirchensteuern im Kanton Thurgau.

    Die Steuerverwaltung überwies das Gesuch der kantonalen
Steuerrekurskommission, die es als Beschwerde gegen die der
Beschwerdeführerin zugestellten Steuerrechnungen behandelte und diese
Beschwerde am 23. Dezember 1968 abwies.

    C. - Gegen diesen Entscheid hat die Neuapostolische Kirche in
der Schweiz staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie beruft sich auf
Art. 49 Abs. 6 sowie Art. 4 BV und bringt zur Begründung vor: Art. 49
Abs. 6 BV verbiete es den Religionsgenossenschaften, Kirchensteuern
von Nicht-Angehörigen zu erheben. Erst recht habe naturgemäss eine
selbständige Kirche wie die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf den
Schutz des Art. 49 Abs. 6 BV vor der Besteuerung durch eine Landeskirche
oder eine andere Kircheninstitution. Die Besteuerung einer Kirche durch
eine andere sei ein "religiöser und rechtlicher Widersinn", der keinen
Rechtsschutz verdiene, weder gemäss Art. 49 noch gemäss Art. 4 BV.

    D. - Die Steuerrekurskommission des Kantons Thurgau beantragt Abweisung
der Beschwerde und erklärt, dass die Kirchenräte der evangelischen und
der katholischen Landeskirche sich ihren Ausführungen anschliessen und
ebenfalls Abweisung der Beschwerde beantragen. Diesen Ausführungen ist
zu entnehmen: Nach § 134 Abs. 2 StG seien die Gemeinden berechtigt, auch
Steuern von überbauten Grundstücken juristischer Personen zu erheben. Nach
konstanter Praxis werde jedoch auf die Besteuerung verzichtet, sobald
diese Grundstücke mit einem religiösen Zwecken dienenden Gebäude überbaut
seien. So werde denn die Beschwerdeführerin in Steckborn, wo seit Mai 1968
eine Kapelle stehe, von diesem Zeitpunkt an keinerlei Gemeindesteuern
mehr zu entrichten haben. Dagegen könne sie nicht verlangen, dass
Land zum vorneherein von der Gemeindesteuerpflicht befreit werde, das
möglicherweise später einmal überbaut werde. Die streitige Steuer werde von
der Beschwerdeführerin, nicht von ihren Mitgliedern erhoben. Auch andere
juristische Personen mit religiösem Zweck seien von der Kirchensteuer
nicht befreit; so würden seit jeher die Klöster zur Kirchensteuer beider
Landeskirchen herangezogen und ebenso alle Freikirchen für Liegenschaften,
die nicht unmittelbar kirchlichen Zwecken dienten; sofern sie solche
Liegenschaften besässen, die einen zum Teil erheblichen Ertrag abwürfen,
wäre auch nicht einzusehen, weshalb eine Besteuerung nicht erfolgen
dürfte. Art. 4 und Art. 49 Abs. 6 BV seien nicht verletzt.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Ob es mit Art. 49 Abs. 6 BV vereinbar sei, juristische Personen
zu Kultus- oder Kirchensteuern heranzuziehen, gehört seit dem Erlass
dieser Bestimmung in der BV von 1874 zu den umstrittensten Fragen
des schweizerischen Staats- und Steuerrechts. Das Bundesgericht hat
schon im Jahre 1878 entschieden, dass sich juristische Personen nicht
auf Art. 49 Abs. 6 BV berufen können, da diese Bestimmung nur ein
Ausfluss der in Art. 49 Abs. 1 BV enthaltenen Garantie der Glaubens-
und Gewissensfreiheit sei, also eines Freiheitsrechts, das seiner Natur
nach nur den physischen Personen zustehen könne (BGE 4 S. 536 ff.,
539 und 541). Diese Rechtsprechung, an der das Bundesgericht seither
festgehalten hat (BGE 35 I 335 und dort angeführte Urteile, 52 I 115, nicht
veröffentlichte Urteile vom 24. Mai 1940 i.S. Dr. A. Wander AG und Kons.
sowie vom 23. Dezember 1947 i.S. Société coopérative "La Fraternelle" und
Kons.) ist in der Rechtslehre zwar von zahlreichen Autoren gebilligt,
jedoch überwiegend abgelehnt worden (vgl. die Literaturangaben bei
STIRNIMANN, Die Kultussteuerpflicht der juristischen Personen ZBl 59/1958
S. 290/91 und bei ZUPPINGER, Zur Erhebung der Kirchensteuern im Kt. Zürich,
Steuer-Revue 1964 S. 491). Zu einer Ueberprüfung dieser Rechtsprechung
besteht heute kein Anlass, da die Beschwerdeführerin sich mit ihr nicht
auseinandersetzt und nicht bestreitet, dass juristische Personen zu
Kultussteuern herangezogen werden können; als mit Art. 49 Abs. 6 (und
Art. 4) BV unvereinbar beanstandet sie lediglich, dass eine juristische
Person wie sie, die sich selber religiösen und kirchlichen Zwecken widmet,
zur Entrichtung von Kultussteuern an eine andere Religionsgenossenschaft
verhalten wird. Das Bundesgericht hat für diesen Fall schon in BGE 4
S. 541 a.E. und dann wieder in den angeführten, nicht veröffentlichten
Urteilen i.S. Dr. A. Wander AG (S. 9) und "La Fraternelle" (S. 4) einen
ausdrücklichen Vorbehalt gemacht. Die Frage steht nun zur Entscheidung.

    Der Heranziehung juristischer Personen zu Kultussteuern ist
entgegengehalten worden, dass diese Steuern in letzter Linie doch die an
der juristischen Person beteiligten natürlichen Personen treffen. Das
Bundesgericht hat demgegenüber auf die rechtliche Selbständigkeit der
juristischen Person verwiesen und erklärt, "auch wenn man übrigens darauf
abstellen wollte, dass wirtschaftlich das Vermögen der juristischen
Personen deren Mitgliedern gehört, so wäre doch zu sagen, dass die
letzteren durch die Kirchensteuer in einer Weise indirekt getroffen werden,
dass von einer nach Art. 49 Abs. 6 BV unstatthaften Gewissensbeschwerde
nicht mehr die Rede sein könnte" (BGE 35 I 336). Diese Ueberlegung mag
inbezug auf die juristischen Personen im allgemeinen durchaus vertretbar
sein. Mit dem Sinn und Geist des Art. 49 Abs. 6 BV nicht mehr vereinbaren
lässt sie sich jedoch, wenn sie auch auf juristische Personen angewendet
wird, die selber religiöse und insbesondere kirchliche Zwecke verfolgen,
wie es bei den sogenannten Freikirchen der Fall ist. Zwischen den als
juristische Personen konstituierten Freikirchen und ihren Mitgliedern und
deren religiösem Glauben besteht eine enge Beziehung: die juristische
Person ist die Form der Gemeinschaft, zu welcher sich die Anhänger der
Freikirche zur Pflege ihres religiösen Lebens zusammengeschlossen haben. Da
den Freikirchen im Gegensatz zu den staatlich anerkannten Landeskirchen
kein Besteuerungsrecht zusteht, müssen die finanziellen Mittel, welcher
sie für ihre Tätigkeit bedürfen, von ihren Mitgliedern und Anhängern
aufgebracht werden. Dürften die Landeskirchen die Freikirchen besteuern,
so hätte das zur Folge, dass diese für die Bedürfnisse der Freikirchen
bestimmten Mittel zur Förderung eines anders gerichteten religiösen Lebens
in Anspruch genommen werden (vgl. Urteil der zürch. Oberrekurskommission
vom 14. Mai 1948, ZBl 49/1948 S. 341/42). Dadurch würden die Mitglieder und
Anhänger der Freikirchen in einer Weise betroffen, die mit der in Art. 49
Abs. 1 BV enthaltenen Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit und
mit der in Abs. 6 zu ihrem Schutz errichteten Schranke der Erhebung von
Kultussteuern in einem nicht mehr zu vereinbarenden Widerspruch steht. Es
entspricht daher Sinn und Geist des Art. 49 BV, den juristischen Personen,
die selber einen religiösen oder kirchlichen Zweck verfolgen, im Gegensatz
zu andern juristischen Personen die Berufung auf Art. 49 Abs. 6 BV
zu gestatten.

    In BGE 35 I 336 E. 2 wie auch im angeführten Urteil i.S. "La
Fraternelle" hat das Bundesgericht ausgeführt, eine Aenderung der
Gerichtspraxis, wonach juristische Personen zu Kultussteuern herangezogen
werden dürfen, verbiete sich auch aus dem Gesichtspunkt, dass eine ganze
Reihe Kantone sich in ihrer Steuergesetzgebung dieser Praxis angepasst
haben. Auch aus diesem Gesichtspunkt, der für die Aufrechterhaltung der
heute mehr als 90 Jahre alten Praxis spricht, bestehen indessen gegen
die Befreiung der Freikirchen von der Entrichtung von Kultussteuern keine
Bedenken. Wenn die Landeskirchen der verschiedenen Kantone und insbesondere
die evangelische und die katholische Landeskirche des Kantons Thurgau bei
der Aufstellung ihrer Voranschläge die Steuern der juristischen Personen in
Rechnung gestellt haben, so kann es doch nicht zweifelhaft sein, dass dabei
die von den Freikirchen zu erwartenden Steuern eine ganz untergeordnete
Rolle spielten und der Wegfall dieser Steuern nicht geeignet ist, das
Budgetgleichgewicht ernsthaft zu erschüttern. Uebrigens sehen mehrere
Kantone, welche die juristischen Personen grundsätzlich zur Kirchensteuer
heranziehen, ausdrücklich eine Ausnahme vor für juristische Personen,
welche konfessionelle, religiöse oder kirchliche Zwecke verfolgen,
sei es dass sie diese gänzlich von der Kirchensteuer befreien (§ 1
Abs. 1 des bündn. Gesetzes vom 26. Oktober 1958 über die Erhebung einer
Kultussteuer von den juristischen Personen), sei es dass sie bestimmen,
diese juristischen Personen hätten die Kirchensteuer nur der Kirchgemeinde
zu entrichten, die ihrer Konfession entspricht (§ 150 Abs. 2 zürch. StG
vom 8. Juli 1951 und § 6 des bern. Dekretes vom 21. November 1956 über
die Kirchensteuern; vgl. ferner die Zusammenstellung bei STIRNIMANN aaO
S. 294 ff.).

    Der angefochtene Entscheid ist daher wegen Verletzung des Art. 49
Abs. 6 BV aufzuheben. Ob er überdies gegen Art. 4 BV verstösst, wie die
Beschwerdeführerin weiter geltend macht, braucht unter diesen Umständen
nicht geprüft zu werden.