Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 33



95 I 33

6. Auszug aus dem Urteil vom 22. Januar 1969 i.S. Gemeinde St. Moritz
gegen N. Hartmann & Cie AG und Grosser Rat des Kantons Graubünden. Regeste

    Gemeindeautonomie.

    Sie ist auch verletzt, wenn die zuständige kantonale Behörde
eine autonome Satzung der Gemeinde willkürlich anwendet (Änderung der
Rechtsprechung) (Erw. 2).

    Die angefochtene Auslegung von Art. 32 der St. Moritzer Bauordnung
durch den bündnerischen Grossen Rat hält dem Vorwurf der Willkür stand
(Erw. 4).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Die Firma Nicolaus Hartmann & Cie AG unterhält seit
Jahren im Gebiet "PLAUN SECH", St. Moritz, eine Kiesgrube mit
Kiesaufbereitungsanlage. Im Januar 1967 ersuchte sie den Gemeindevorstand
von St. Moritz, ihr im genannten Gebiet den Bau einer ständigen
Betonaufbereitungsanlage zu bewilligen. Gemäss Projekt würde diese aus
Kies- und Sandlagern, einem Schrapperkran, einer 3,5 m hohen Mischanlage
sowie zwei Zementsilos von je 8,5 m Höhe bestehen.

    Der Gemeindevorstand von St. Moritz wies die gegen das Bauvorhaben
eingereichten Einsprachen ab und erteilte die Baubewilligung, wobei er u.a.
verfügte:
      "1.- Die Anlage ist weitmöglichst nach Süden/SSO zu verschieben.
      Der maschinelle Teil der Betonaufbereitungsinstallationen muss
      fest umbaut

    werden zur Verhütung von Staubaustritten jeglicher Art.
      Der Antrieb der Maschinen wird nur mittels geräuscharmer
      Elektromotoren

    gestattet.
      3.- Erneuerungen, Erweiterungen oder Vergrösserungen der
      eingereichten

    Anlage bedürfen einer neuen Bewilligung durch die Gemeindebehörde.
      6.- Entlang der Via Surpunt ist in ordentlichem Abstand vom
      Strassenrand

    als Immissionsschutz eine dichte, hochwüchsige Baum- oder Staudenreihe

    anzupflanzen.
      7.- Die Betriebszeiten der Anlage unterliegen Abs. 1 der Verfügung
      des

    Gememdevorstandes vom 12. Mai 1965 betreffend Lärmbekämpfung auf dem

    Bausektor (siehe Beilage, diese bildet einen integrierenden Bestandteil
der

    Baubewilligung). Ausnahmebewilligungen sind frühzeitig beim
Gemeindevorstand

    einzuholen.
      Der Gemeindevorstand behält sich vor, im Interesse der Öffentlichkeit
      und

    zum Schutze der benachbarten Wohnsiedlung gegebenenfalls weitere

    Vorschriften zu verfügen."

    Auf Rekurs privater Einsprecher hin hob der Gemeinderat von
St. Moritz (als oberste Gemeinderekursbehörde) die vom Gemeindevorstand
erteilte Baubewilligung wieder auf. Er berief sich auf Art. 32 der
Gemeindebauordnung (BO) und führte aus, die zentral geplante Anlage lasse
eine besonders starke Zunahme des Schwerverkehrs im fraglichen Gebiet
erwarten; diese könne den Anwohnern, den Kur- und Badegästen sowie den
zukünftigen Benützern des im Entstehen begriffenen Höhensportzentrums
nicht zugemutet werden. Zudem sei die Staubentwicklung der Anlage selber
gesundheitsschädlich und auch deshalb nicht duldbar.

    B.- Die Firma Hartmann & Cie AG beschwerte sich gegen den Entscheid
des Gemeinderates beim Kleinen Rat des Kantons Graubünden. Dieser hiess
ihre Beschwerde gut und stellte den Entscheid des Gemeindevorstandes
wieder her. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, der Zonenplan
der Gemeinde St. Moritz kenne weder eine Gewerbe- noch eine Industriezone;
Industrieanlagen müssten deshalb auch in Wohnzonen zugelassen werden. Das
Grundstück der Rekurrentin eigne sich wie kein anderes für die geplante
Anlage. Es sei ausgesprochen exzentrisch gelegen und als Kiesgrube
für Wohnbauten unverwendbar. Das in der Nähe befindliche Wohnquartier
sei in Kenntnis dieser Nachbarschaft und vor allem auch der bestehenden
Kiesaufbereitungsanlage entstanden. Der Gemeindevorstand habe festgestellt,
dass die Aufbereitungsanlage auch unter den veränderten Verhältnissen keine
gesundheitsschädlichen Auswirkungen haben werde, und auch der Vertreter des
Gemeinderates habe dies anlässlich der Augenscheinsverhandlung zugestanden.
Der Gemeinderat sehe das Hindernis im zu erwartenden Werkverkehr. Wenn
dieser aber nachts ruhe, sei er nicht als gesundheitsschädlich zu
betrachten. Ein intensiver Werkverkehr werde zwar im Bereich eines
Kurortes unbestrittenermassen nicht besonders geschätzt. Doch handle
es sich hierbei um Fragen der Verkehrspolizei. Mit der Handhabung der
Baupolizei könne der rollende Verkehr auf den öffentlichen Strassen nicht
allgemein gelenkt werden. Aufgrund von Art. 32 BO habe der Gemeinderat
nur die Anlage selber beurteilen dürfen, ohne Rücksicht auf den durch
sie bedingten Mehrverkehr. Der Entscheid des Gemeinderates verletze
auch den Grundsatz der Verhältnismässigkeit; denn der Gemeindevorstand
habe als erstinstanzliche Baubewilligungsbehörde alle ihm gutscheinenden
Anordnungen auch in bezug auf den Werkverkehr getroffen, und er habe
sich nötigenfalls weitere vorbehalten. Damit habe er das Verantwortbare
getan. Ein Bauverbot sei nicht mehr verhältnismässig.

    C.- Gegen den Entscheid des Kleinen Rates reichte die Gemeinde
St. Moritz beim Grossen Rat des Kantons Graubünden eine Beschwerde ein. Sie
machte geltend, die Erteilung oder Verweigerung einer Baubewilligung sei
weitgehend Ermessensfrage und daher der Überprüfung durch den Kleinen
Rat entzogen. Der Kleine Rat verkenne die Bedeutung von Art. 32 BO,
wenn er den Hinweis auf den zu erwartenden Schwerverkehr als unzulässig
betrachte. Aber auch von der Anlage selber würden erhebliche Auswirkungen
ausgehen, die gemäss einem vom Ärztlichen Bezirksverein Thun erstatteten
Gutachten die Gesundheit der Menschen gefährde, die in der Umgebung
wohnen. Die zu erwartende Luftverschmutzung zu verhindern, gehöre zu den
wichtigsten Aufgaben eines Kurortes.

    Der Grosse Rat wies die Beschwerde der Gemeinde St. Moritz ab, wobei
er die Begründung des Kleinen Rates bestätigte.

    D.- Die Gemeinde St. Moritz, vertreten durch den Gemeinderat, ficht
den Entscheid des Grossen Rates mit staatsrechtlicher Beschwerde an. Sie
beantragt, den grossrätlichen Entscheid aufzuheben sowie den Grossen Rat
anzuweisen, dass er die Beschwerde der Gemeinde St. Moritz gutheisse,
den Rekursentscheid des Kleinen Rates aufhebe und den Entscheid des
Gemeinderates St. Moritz bestätige. Es wird gerügt, der Grosse Rat
habe die Gemeindeautonomie sowohl durch willkürliche Auslegung des
kommunalen Baugesetzes als auch durch unbefugte Aufhebung eines kommunalen
Ermessensentscheides verletzt.

    E. - Die Firma Nicolaus Hartmann & Cie AG stellt den Antrag, auf die
Beschwerde nicht einzutreten, evt. sie abzuweisen. Der Grosse Rat des
Kantons Graubünden hat sich nicht vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Beschwerdegegnerin spricht der Beschwerdeführerin die
Legitimation ab, weil die Gemeinde nach ständiger Praxis lediglich auf dem
Gebiet der Rechtsetzung, nicht aber auf demjenigen der Rechtsanwendung
zur Autonomiebeschwerde befugt sei. Jene Unterscheidung betrifft jedoch
die Frage nach Bestand und Umfang der Gemeindeautonomie, also die
Begründetheit und nicht die Zulässigkeit der Beschwerde (vgl. BGE 93 I
431 E. 1 und 3 b). Zur Autonomiebeschwerde legitimiert ist eine Gemeinde
demgegenüber schon dann, wenn der Entscheid der kantonalen Behörde sie
in ihrer Eigenschaft als Trägerin hoheitlicher Gewalt trifft und sie
mit hinreichender Begründung eine Verletzung der Gemeindeautonomie
rügt (BGE 93 I 157/8 E. 3 mit Hinweisen, 431 E. 1). Ob es dabei um
kommunale Rechtsetzung oder um Rechtsanwendung geht, ist in diesem
Zusammenhang belanglos. Indem der Grosse Rat des Kantons Graubünden
den Entscheid des Kleinen Rates bestätigte, hat er dem Baugesuch der
Beschwerdegegnerin gegen den Willen des Gemeinderates von St. Moritz (als
oberster Gemeinderekursbehörde) entsprochen. Sein Entscheid schränkt die
Gemeinde demnach in der Ausübung ihrer Verwaltungstätigkeit ein, trifft
sie mithin als Trägerin hoheitlicher Gewalt. Entgegen der Ansicht der
Beschwerdegegnerin ist die nur wegen Verletzung der Gemeindeautonomie
geführte Beschwerde grundsätzlich zulässig.

    b) Indessen sind Beschwerden der vorliegenden Art ausschliesslich
kassatorischer Natur. Soweit die Beschwerdeführerin mehr verlangt, als die
Aufhebung des grossrätlichen Entscheides, ist auf ihre Begehren deshalb
nicht einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die bündnerische Gemeinde hat nach Art. 40 Abs. 2 KV das Recht der
selbständigen Verwaltung ihrer Angelegenheiten mit Einschluss der niederen
Polizei. Sie ist befugt, die dahin einschlagenden Ordnungen festzusetzen,
welche jedoch den Bundes- und Kantonsgesetzen und den Eigentumsrechten
Dritter nicht zuwider sein dürfen. Wie das Bundesgericht in BGE 94 I 64
erneut festgestellt hat und auch im vorliegenden Fall nicht bestritten
ist, gehört das öffentliche Baurecht im Kanton Graubünden grundsätzlich
zum Autonomiebereich der Gemeinde.

Erwägung 3

    3.- Nach dem neuesten Stand der bundesgerichtlichen Praxis ist
auf dem Gebiete der kommunalen Rechtsetzung die Gemeindeautonomie
schon dann verletzt, wenn eine an sich zur Überprüfung des kommunalen
Erlasses zuständige kantonale Behörde denselben rechtswidrig aufhebt,
weil sie eine in Wirklichkeit nicht bestehende Rechtsverletzung annimmt
oder sonstwie ihre Rechtskontrolle oder die ihr allenfalls zustehende
Ermessenskontrolle willkürlich ausübt (BGE 94 I 65; zur Entwicklung der
Rechtsprechnug vgl. BGE 93 I 432 f. E. 3 c).

    Die Beschwerdeführerin rügt u.a. als Verletzung ihrer Autonomie,
der Grosse Rat habe die BO von St. Moritz willkürlich (anders als
der Gemeinderat) angewandt. Ein solcher Vorwurf setzt voraus - und die
Beschwerdeführerin verlangt es denn auch ausdrücklich -, dass die erwähnte
neue Rechtsprechung auf den Bereich der kommunalen Verwaltungstätigkeit
ausgedehnt wird. Das Bundesgericht hat diese Frage in BGE 94 I 63 ff.
offengelassen. Sie ist nunmehr zu entscheiden.

    a) Wie das Bundesgericht schon in BGE 94 I 65 angedeutet hat, geniesst
die Gemeinde bezüglich ihrer Autonomie auch nach der neuen Praxis noch
einen unvollkommenen Rechtsschutz. Zwar kann sie sich gegen willkürliche
Eingriffe kantonaler Behörden in die Rechtsetzungsbefugnis selbst dann
mit Erfolg wehren, wenn jene Behörden im Bereich ihrer Zuständigkeit
geblieben sind. Geht es dagegen um die Anwendung des von ihr im Rahmen
ihrer Autonomie gesetzten Rechtes, dann muss die Gemeinde hilflos zusehen,
wie eine kantonale Behörde, die zwar im Bereich ihrer Zuständigkeit bleibt,
dieses Recht willkürlich missachtet. Erfolgreich zur Wehr setzen kann
sich die Gemeinde in diesem Fall nur, sofern die kantonale Instanz ihre
Zuständigkeit überschritten hat. Bei der Genehmigung einer autonomen
Satzung ist also die zuständige kantonale Behörde an das Willkürverbot
gebunden, währenddem eine solche Bindung nach der bisherigen Praxis bei
der Anwendung des Gemeinderechts entfällt. Dieses stossende Ergebnis ist
nur dadurch zu beseitigen, dass auch im Falle der Rechtsanwendung eine
Verletzung der Gemeindeautonomie schon bei willkürlichen Entscheiden
der zuständigen Behörde angenommen wird. Die Einwände, die dagegen
etwa vorgebracht werden könnten (vgl. BGE 94 I 66), halten näherer
Prüfung nicht stand. So mag zwar zutreffen, dass eine in einem Einzelfall
ergangene Verfügung einer kommunalen Verwaltungsbehörde nicht in gleichem
Masse Schutz verdient wie eine autonome Satzung. Das ist hier aber nicht
entscheidend, geht es doch nach dem Gesagten nicht um den Schutz einer
Einzelverfügung, sondern um denjenigen der Autonomie. Auch die Möglichkeit
der Gemeinde, ihre Erlasse zu ändern, bildet keinen ausreichenden
Grund, um von der beabsichtigten Erweiterung des Schutzes der Autonomie
abzusehen. Im Gegensatz zu dem der Gemeinde einzuräumenden Rechtsmittel
vermöchte eine solche Änderung des Gemeindeerlasses Willkürakte des Kantons
in der Rechtsanwendung nicht ungeschehen zu machen. Sie würde überdies
die Gemeinde auch in der Zukunft nicht davor schützen, erneut willkürlich
behandelt zu werden. Dass schliesslich immer mehr Verwaltungsstreitsachen
von richterlichen statt wie bisher von politischen Behörden beurteilt
werden, ist an sich begrüssenswert. Die gerichtliche Behandlung schliesst
indessen keine Garantie dafür ein, dass das Gemeinderecht in allen Fällen
frei von Willkür angewandt werde. Auch dieser letzte Einwand vermag
demnach die Ausdehnung der bisherigen Praxis auf die Rechtsanwendung
nicht als überflüssig erscheinen zu lassen.

    b) Zeigt es sich, dass der Grosse Rat des Kantons Graubünden im Bereich
seiner Zuständigkeit blieb, dann ist die vorliegende Autonomiebeschwerde
mithin nicht schon aus diesem Grunde abzuweisen. Vielmehr hat das
Bundesgericht auch zu prüfen, ob der Grosse Rat die St. Moritzer BO
willkürlich ausgelegt und angewandt habe.

Erwägung 4

    4.- a) Wie die Frage nach dem Bestand, so ist auch diejenige nach
dem Umfang der Gemeindeautonomie aufgrund des betreffenden kantonalen
Rechts zu beantworten. In ständiger Rechtsprechung hat das Bundesgericht
erkannt, dass der Bündner Gemeinde in der Rechtsetzung auf dem Gebiete
des öffentlichen Baurechts eine verhältnismässig grosse Freiheit zukomme
(vgl. BGE 91 I 42 E. 4, 92 I 375 E. 2 b). Damit wurde jedoch über den
Umfang der Autonomie in der Rechtsanwendung auf dem selben Gebiet nichts
ausgesagt. Dieser richtet sich nach der Ausgestaltung der Beschwerdegründe
in der Beschwerde gegen Verwaltungsverfügungen der zuständigen
Gemeindeorgane. Das Prüfungsrecht der kantonalen Rekursinstanzen (d.h. des
Kleinen und des Grossen Rates, vgl. BGE 94 I 65 oben) ist in Art. 4 der
Verordnung über das Verfahren in Verwaltungsstreitsachen vor dem Kleinen
Rat vom 1. Dezember 1942 (VVV) umschrieben. Die Bestimmung lautet:

    "Mit dem Rekurs kann geltend gemacht werden, dass der angefochtene
Erlass, die Verfügung oder der Entscheid dem materiellen Recht des Bundes,
des Kantons oder der betreffenden Körperschaft oder Anstalt widerspreche,
auf einer Überschreitung des pflichtgemässen Ermessens beruhe, unter
Verletzung allgemeiner wesentlicher Grundsätze oder Vorschriften des
Verfahrens zustande gekommen sei oder eine ungültige Vorschrift der
Korporation zur Grundlage habe."

    Ohne jede Willkür darf aus Art. 4 VVV geschlossen werden, dass
die kantonalen Rekursinstanzen das Gemeinderecht frei auf die richtige
Anwendung hin zu prüfen haben (vgl. BGE 94 I 65 oben), dass sie dagegen
in ihrer Kognition beschränkt sind, wenn es sich um die Kontrolle
der Ermessensbetätigung handelt; diesbezüglich können sie nur bei
Ermessensüberschreitung oder -missbrauch eingreifen. Eine Verletzung der
Gemeindeautonomie liegt demnach nur vor, sofern die genannten Behörden
diesen Rahmen verlassen oder aber die ihnen zustehende Kontrolle
willkürlich handhaben.

    b) Gegen den so umschriebenen Umfang der grossrätlichen
Prüfungsbefugnis hat die Beschwerdeführerin an sich nichts einzuwenden.
Strittig ist jedoch, ob sich der Grosse Rat an diesen Rahmen seiner
Prüfungsbefugnis gehalten hat. Die Beschwerdeführerin hält dafür, es sei
eine Ermessensfrage, ob die umstrittene Betonaufbereitungsanlage ein
"Betrieb mit starker Staubentwicklung" im Sinne von Art. 32 BO sei;
der Grosse Rat erblickt darin eine Rechtsfrage.

    Zwar spricht der Grosse Rat am Schluss seines Entscheides davon, der
Gemeinderat habe sein "pflichtgemässes Ermessen" überschritten. Wie jedoch
den vorangehenden Erwägungen des grossrätlichen Entscheides zu entnehmen
ist, legte die kantonale Instanz die Rechtsätze des Art. 32 BO in der Tat
durchwegs frei aus und würdigte sie auch den Sachverhalt frei. Entgegen
der Ansicht der Beschwerdeführerin war der Grosse Rat hiezu - wie zum
mindesten ohne Willkür angenommen werden darf - auch in bezug auf Auslegung
und Anwendung des Begriffes der "starken Staubentwicklung" berechtigt.

    Wer den Sinn eines solchen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffes zu
finden hat, betätigt nach herrschender Auffassung kein Ermessen, sondern
beantwortet eine Rechtsfrage (vgl. BGE 91 I 75, 94 I 135). Wohl sind diese
Ausdrücke im einzelnen Fall näher zu bestimmen und auf den entsprechenden
Sachverhalt anzuwenden. Sie lassen aber keine Wahl zwischen zwei oder
mehreren gleichwertigen Lösungen. Richtig ist stets nur eine einzige
Auslegung. Diese hat diejenige Behörde zu suchen, die einen gesetzlichen
Erlass anzuwenden hat.

    Wenn der Gemeinderat von St. Moritz dafür hielt, die geplante
Betonaufbereitungsanlage der Beschwerdegegnerin habe eine starke
Staubentwicklung im Sinne von Art. 32 lit. b BO zur Folge,
dann hat er mithin kein Ermessen betätigt, sondern den erwähnten
unbestimmten Rechtsbegriff ausgelegt und auf den konkreten Sachverhalt
angewandt. Dadurch, dass der Grosse Rat auch diese Rechtsanwendung frei
prüfte, hat er seine Zuständigkeit nicht überschritten und somit jedenfalls
in diesem Punkte die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht verletzt.

Erwägung 5

    5.- Wie in Erw. 2 hievor dargelegt wurde, ist der angefochtene
Beschluss des Grossen Rates ferner auch in materieller Beziehung zu
prüfen. In Frage steht dabei die Auslegung des schon erwähnten Art. 32
der St. Moritzer Bauordnung. Die Bestimmung lautet:

    "e) Sanitäre Vorschriften

    Art. 32

    a) Gewerbe, deren Einrichtungen und Betriebe Erscheinungen zur Folge
haben, welche auf Gesundheit von Menschen und Tieren der Nachbarschaft
schädlich wirken, sind untersagt.

    b) Insbesondere sind in bebauten Quartieren des Kurortes untersagt:
Einrichtungen und gewerbliche Betriebe, die üble Ausdünstungen,
starke Rauch- und Staubentwicklung oder starken Lärm, Geräusche und
Erschütterungen des Bodens verursachen oder sonstwie dem Kurort, dem
Gedeihen desselben und der Nachbarschaft erheblichen Schaden bringen
können..."

    Nach Ansicht der Beschwerdeführerin hat der Grosse Rat den Art. 32
BO willkürlich ausgelegt. Zwar ist in dieser Rüge auch diejenige
unrichtiger Auslegung enthalten. Indessen prüft das Bundesgericht bei
Beschwerden der vorliegenden Art die Anwendung des kantonalen Rechts,
das nicht der Verfassungsstufe angehört, lediglich unter dem beschränkten
Gesichtswinkel der Willkür. Zu diesem kantonalen Recht gehört ebenfalls
das Gemeinderecht. Auch bei der Prüfung der grossrätlichen Auslegung von
Art. 32 BO ist deshalb die Kognition des Staatsgerichtshofs auf Willkür
beschränkt.

    a) Der Grosse Rat vertritt die Ansicht, eine unzumutbare Immission der
geplanten Betonaufbereitungsanlage auf die unmittelbare Nachbarschaft sei
nicht zu erwarten. Diese optimistische Voraussage stützt die kantonale
Instanz im wesentlichen auf die Tatsache, dass die Baubewilligung des
Gemeindevorstandes zahlreiche Auflagen enthält. Danach dürfen u.a. nur
geräuscharme Elektromotoren verwendet werden. Die ganze Anlage ist
ausserdem in weitmöglichster Entfernung vom benachbarten Wohngebiet
zu errichten und zur Verhütung von Staubaustritten fest zu umbauen. Die
Betriebszeiten sind beschränkt. Für den Fall, dass die bereits getroffenen
Massnahmen nicht genügen sollten, werden schliesslich weitere Auflagen
ausdrücklich vorbehalten. Die Auffassung der kantonalen Instanz, ein
Verbot der Anlage sei nicht zulässig, hält unter solchen Umständen der
Willkürrüge stand. Sie ist insbesondere auch deshalb nicht abwegig, weil
sie dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit ausreichend Rechnung trägt und
zudem berücksichtigt, dass die Bauordnung der Gemeinde St. Moritz keine
Gewerbe- oder Industriezone kennt.

    Die Beschwerdeführerin hat sich im Verfahren vor dem Grossen Rat auf
ein Gutachten berufen, das der Ärztliche Bezirksverein Thun seinerzeit
über ein im Zentrum dieser Ortschaft geplantes Betonwerk erstattet
hat. Dass der Grosse Rat diesem Gutachten keine wesentliche Bedeutung
beimass, verletzt Art. 4 BV ebenfalls nicht. In der Tat enthält jene
Ansichtsäusserung Feststellungen allgemeiner Art, sie ist nicht auf den
vorliegenden Fall zugeschnitten.

    b) Der Grosse Rat weicht noch in einer andern Richtung von der
Auslegung ab, die der Gemeinderat von St. Moritz dem Art. 32 BO gegeben
hat. Die kantonale Instanz nimmt nämlich an, Immissionen im Sinne jener
Bestimmung (insbesondere deren lit. b) seien nur diejenigen, die von der
zu erstellenden Anlage selber ausgingen. Hingegen beziehe sich Art. 32
BO nicht auf den Schwerverkehr mit Lastwagen, den die geplante Anlage
mit sich bringe.

    Man könnte sich bei freier Prüfung fragen, ob diese Auslegung
richtig sei. Der möglicherweise zu erwartende starke Verkehrslärm in der
unmittelbaren Umgebung der Anlage kann die Gesundheit und das Wohlbefinden
der Anwohner ebenso beeinträchtigen wie allfällige Immissionen, die von
der Baute selber ausgehen. Es ist nicht recht einzusehen, inwiefern eine
Berücksichtigung auch dieser notwendigen Folgen des geplanten Betriebes
dem Sinn des Schutzes widersprechen könnte, den der Art. 32 gewähren will
(vgl. BGE 91 I 421). Indessen hat das Bundesgericht nur zu prüfen, ob die
Auslegung der kantonalen Instanz sich nicht auf ernsthafte und sachliche
Gründe stützen lässt, sinn- und zwecklos ist oder Unterscheidungen trifft,
die schlechthin unvernünftig sind. Die Voraussetzungen der Willkür
sind auch hier nicht erfüllt. Der Wortlaut von Art. 32 BO bezieht sich
in erster Linie auf die geplante Anlage selber. Nach der Praxis ist
aber eine dem Wortlaut entsprechende Auslegung nur willkürlich, wenn
sie dem Sinn und Zweck der Vorschrift offensichtlich widerspricht und
zu einem vom Gesetzgeber unmöglich gewollten Ergebnis führt (BGE 89 I
72 E. 4 mit Hinweisen). Dass dies im vorliegenden Falle zutreffe, ist
nicht nachgewiesen. Auch die Beschwerdeführerin vermag nicht darzutun,
selber je dem Art. 32 BO jene Bedeutung gegeben zu haben, die sie ihm
hier zuerkennen will. Von Willkür kann daher in diesem Punkte ebenfalls
nicht die Rede sein.

    Hält indessen der angefochtene Entscheid nach dem Gesagten auch einer
materiellen Prüfung stand, dann hat der Grosse Rat des Kantons Graubünden
die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht verletzt.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.