Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 202



95 I 202

30. Urteil vom 9. Juli 1969 i.S. X. gegen Untersuchungsrichter von Bern
und Anklagekammer des Kantons Bern. Regeste

    Sicherheitsleistung wegen Flucht- und Kollusionsgefahr.

    Art. 4 BV. Die Sicherheit kann nur solange aufrechterhalten werden,
als ein Haftgrund besteht. Sie kann aber auch dann mit Fluchtgefahr
begründet werden, wenn der Beschuldigte die zu erwartende Freiheitsstrafe
voraussichtlich nicht zu erstehen vermag.

Sachverhalt

    A.- X. wurde am 3. Juni 1967 in Bern unter dem dringenden Verdacht,
sich der Veruntreuung und der Urkundenfälschung schuldig gemacht zu haben,
festgenommen und in Untersuchungshaft gesetzt. Am 12. September 1967
entliess ihn der Untersuchungsrichter gegen Leistung einer Sicherheit von
Fr. 100'000.-- aus der Haft, da weiterhin Flucht- und Kollusionsgefahr
bestehe, der Angeschuldigte aber nicht mehr hafterstehungsfähig sei
und in ein Spital eingeliefert werden müsse. Die Sicherheit wurde durch
Hinterlegung von Wertpapieren geleistet. Als im August 1968 einige dieser
Papiere zur Rückzahlung fällig wurden, ersuchte der Angeschuldigte um
deren Herausgabe. Der Untersuchungsrichter erklärte sich dazu bereit,
wenn dafür andere Titel vom gleichen Wert hinterlegt würden.

    X. beschwerte sich daraufhin bei der Anklagekammer des Obergerichts
des Kantons Bern und verlangte, dass die von ihm geleistete Kaution
freigegeben werde. Er machte insbesondere geltend, sein Gesundheitszustand
habe sich seit der Haftentlassung dauernd verschlechtert; es bestehe
daher keine Fluchtgefahr, folglich auch kein Grund mehr zur Verhaftung,
ganz abgesehen davon, dass er nicht hafterstehungsfähig wäre. Unter diesen
Umständen sei es nicht gerechtfertigt, an der Kaution festzuhalten.

    B.- Die Anklagekammer des Obergerichts entschied am 9.  Dezember
1968, dass der Untersuchungsrichter die Freigabe der Sicherheit zu
Recht abgelehnt habe. Sie führt aus, mit dem Hinweis auf die angeblich
weggefallene Fluchtgefahr und die fehlende Hafterstehungsfähigkeit
könne der Angeschuldigte die Kaution nicht zurückverlangen; denn
hafterstehungsunfähig sei er schon zur Zeit der Freilassung gewesen,
und die Fluchtgefahr dürfe sich seither wohl vermindert haben, könne aber
nicht völlig ausgeschlossen werden. Zudem liege keine der Voraussetzungen
vor, unter denen die Sicherheit gemäss Art. 132 des Gesetzes über das
Strafverfahren (StrV) frei werde.

    C.- Der Angeschuldigte führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem
Antrag, den Entscheid der Anklagekammer wegen Verletzung von Art. 4
BV aufzuheben.

    Die Anklagekammer beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 132 Abs. 1 StrV wird die noch nicht verfallene Sicherheit
frei, wenn der Angeschuldigte wieder verhaftet wird, er die erkannte
Strafe antritt, durch rechtskräftiges Urteil freigesprochen oder wenn die
Untersuchung aufgehoben wird und ihm keine Kosten auferlegt werden. Die
Vorinstanz ist der Auffassung, dass diese Bestimmung die Umstände,
unter denen die Sicherheit frei wird, abschliessend aufzähle; aus den
Vorschriften über die Verhaftung und die vorläufige Freilassung eines
Angeschuldigten lasse sich daher nichts zugunsten des Beschwerdeführers
ableiten.

    Diese Auffassung widerspricht indes, wie der Beschwerdeführer mit Recht
einwendet, dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Die vorläufige
Freilassung gegen Sicherheitsleistung setzt nach Art. 129 Abs. 1 StrV
voraus, dass noch ein Verhaftungsgrund vorliegt. Schon daraus erhellt,
dass die Sicherheitsleistung unter der gleichen allgemeinen Voraussetzung
steht wie die Untersuchungshaft. Sie ist im Verhältnis zu dieser bloss
Ersatzmassnahme, will jedoch wie die Untersuchungshaft insbesondere
der Gefahr vorbeugen, dass der Angeschuldigte sich der Strafverfolgung
durch Flucht entzieht. Die Sicherheitsleistung stellt zudem eine
Vergünstigung für den Angeschuldigten dar, da ihm eine Verlängerung der
Untersuchungshaft, wozu an sich Grund bestünde, erspart bleibt. Gleich
wie der Untersuchungsgefangene aus der Haft zu entlassen ist, wenn der
Haftgrund wegfällt, wird aber auch die Sicherheit frei, wenn dieser Grund
nicht mehr besteht. Es wäre daher sinnwidrig, an einer Sicherheitsleistung
festzuhalten, die dem Angeschuldigten dann, wenn er wegen Wegfalls des
Haftgrundes freizulassen ist, nicht auferlegt werden könnte.

    Dass Art. 132 Abs. 1 StrV den Fall, da die Sicherheit zufolge Wegfalls
des Haftgrundes frei wird, nicht ausdrücklich regelt, hilft darüber nicht
hinweg. Das ist zweifellos eine Lücke, die sich aber leicht dadurch
erklärt, dass der Gesetzgeber das Freiwerden der Kaution diesfalls für
selbstverständlich hielt und deshalb nicht besonders erwähnte. Das
ist umsomehr anzunehmen, als es sich um einen allgemein anerkannten
Rechtsgrundsatz handelt, der insbesondere auch in Art. 57 BStP und § 121
der deutschen StPO enthalten ist. Die Auslegung von Art. 132 StrV durch
die Vorinstanz verstösst offensichtlich gegen diesen Grundsatz und hält
daher vor Art. 4 BV nicht stand.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall kann somit die Kaution nur unter der
Voraussetzung, dass immer noch ein Haftgrund gegeben ist, aufrechterhalten
werden. Die Vorinstanz nimmt offenbar mit Recht nicht an, dass weiterhin
Kollusionsgefahr bestehe; nachdem der Angeschuldigte sich bereits
seit Herbst 1967 in Freiheit befindet, wäre heute eine solche Gefahr
jedenfalls schwerlich zu begründen. Dagegen bejaht die Anklagekammer
den Haftgrund der Fluchtgefahr, von der sie annimmt, dass sie durch
den schlechten Gesundheitszustand des Angeschuldigten wohl vermindert
worden sei, aber nicht völlig ausgeschlossen werden könne. Wie der
Beschwerdeführer unter Hinweis auf den Kommentar WAIBLINGER (N. 1 zu
Art. 132 StrV) zutreffend ausführt, genügt nicht jede noch so entfernte
Gefahr, um einen Angeschuldigten wegen Fluchtverdachts in Haft zu setzen;
denn die Möglichkeit, dass ein nicht verhafteter Beschuldigter sich
durch Flucht der Strafverfolgung entzieht, besteht an sich in jedem
Strafverfahren. Es müssen vielmehr Gründe vorliegen, die eine Flucht
nicht nur als objektiv möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen
lassen. Ob letzteres zutreffe oder nicht, hängt von den Umständen des
einzelnen Falles ab. Die Strafbehörde hat sie nach pflichtgemässem Ermessen
zu würdigen. Das Bundesgericht kann nur einschreiten, wenn die kantonale
Behörde die Grenze zulässigen Ermessens offensichtlich überschritten hat
und in Willkür verfallen ist (BGE 89 I 18 und dort angeführte Urteile).

    Dass hier ein solcher Ermessensmissbrauch vorliege, lässt
sich nicht sagen. Gewiss erscheint die Fluchtgefahr angesichts des
Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers nicht als dringlich. Sie
lässt sich aber auch nicht als unbedeutend oder gar als nicht bestehend
abtun. Der Beschwerdeführer lebt in günstigen finanziellen Verhältnissen;
er versteuerte nach den Akten in den Jahren 1965 und 1966 Fr. 521'000.--
Vermögen und Fr. 52'500.-- Einkommen. Berücksichtigt man zudem die
zahlreichen und schwerwiegenden Straftaten, die dem Beschwerdeführer
vorgeworfen werden, so ist die Annahme vertretbar, die Flucht sei
nicht bloss objektiv möglich, sondern bis zu einem gewissen Grad
wahrscheinlich. Der angefochtene Entscheid ist daher im Ergebnis nicht
zu beanstanden.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht mit Recht nicht geltend, dass der
Entscheid der Anklagekammer schon deshalb, weil er weder eine neue
Untersuchungshaft noch eine allfällige Freiheitsstrafe erstehen könnte,
gegen Art. 4 BV verstosse. Die Sicherheit soll zwar für den Fall, dass der
Angeschuldigte mit einer unbedingten Freiheitsstrafe zu rechnen hat, auch
den Antritt der Strafe gewährleisten. Das ist aber nicht ihr einziger und
erster Zweck, da sie vor allem die Anwesenheit des Beschuldigten während
des Strafverfahrens sicherstellen will. Eine Kaution lässt sich daher
selbst dann mit Fluchtgefahr begründen, wenn der Angeschuldigte die zu
erwartende Freiheitsstrafe nicht zu erstehen vermöchte (vgl. Art. 129
Abs. 1 StrV; Komm. LÖWE/ROSENBERG, 21. Auflage, Anm. II 3 zu §§ 117 -
120 der deutschen StPO).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.