Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 111



95 I 111

16. Urteil vom 12. März 1969 i.S. Mayer gegen Mayer und Regierungsrat
des Kantons St. Gallen Regeste

    Kantonales Verwaltungsverfahren. Legitimation zur staatsrechtlichen
Beschwerde.

    Der Eigentümer einer Liegenschaft, der durch eine Verwaltungsverfügung
verpflichtet wird, sie durch Sachverständige schätzen zu lassen, wird
durch diese Verfügung in seiner Rechtsstellung beeinträchtigt. Er ist
daher legitimiert

    -  gegen die Anordnung der Schätzung ein kantonales Rechtsmittel,
das dem von einer Verfügung "Betroffenen" zusteht, zu ergreifen und damit
die Zulässigkeit der Schätzung und die Zuständigkeit der sie anordnenden
Behörde zu bestreiten (Erw. 3)

    - gegen die Weigerung der kantonalen Rechtsmittelinstanz, auf das
Rechtsmittel einzutreten, staatsrechtliche Beschwerde zu erheben (Erw. 2).

    Anwendungslereich des in Art. 618 ZGB vorgesehenen Schatzungsverfahrens
(Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Die 1930 gegründete Kommanditgesellschaft Mayer & Cie betreibt
eine Kleiderfabrik in Ganterschwil (SG). Sie bestand seit 1959 aus den
beiden unbeschränkt haftenden Gesellschaftern Oskar Mayer und Willy Mayer
und der einzigen Kommanditärin Witwe Marie Mayer. Der Kommanditgesellschaft
gehören ausser der Fabrikliegenschaft 8 Grundstücke mit Wohnhäusern sowie 2
Waldparzellen, alle in Ganterschwil. Die amtlichen Verkehrswertschatzungen
dieser Liegenschaften stammen aus den Jahren 1959 bis 1961.

    Am 17. Oktober 1965 starb der unbeschränkt haftende Gesellschafter
Oskar Mayer. Als Erben hinterliess er die Ehefrau und zwei minderjährige
Söhne.

    Am 25. Mai 1968 stellten diese Erben beim Bezirksamt Untertoggenburg
gestützt auf § 7 st. gall. EG/ZGB das Begehren, es seien im Sinne des Art.
618 ZGB ein oder mehrere Sachverständige zu bestellen, um den Wert der
der Firma Mayer & Cie gehörenden Liegenschaften im Zeitpunkt des Todes
des Erblassers zu schätzen. In der Begründung des Gesuchs wurde auf die
Bestimmungen verwiesen, die der Gesellschaftsvertrag für den Fall des Todes
eines unbeschränkt haftenden Gesellschafters enthält, und ausgeführt, dass
sich "weder die Erben noch die Gesellschafter" über den Anrechnungswert
der Liegenschaften verständigen könnten.

    Der Bezirksammann gab dem Begehren statt und erliess am 27. Juni
1968 in Sachen Erben des Oskar Mayer gegen Willy Mayer und Witwe Marie
Mayer eine Verfügung, in der er - zur Festsetzung des Verkehrswertes
der Liegenschaften zur Zeit des Ablebens des Oskar Mayer das amtliche
Schatzungsverfahren gemäss Art. 618 ZGB anordnete (Disp. 1),

    - zwei Sachverständige bestimmte (Disp. 2), und

    - den Termin für die Experteninstruktion festsetzte und dazu die
Parteivertreter (d.h. den Anwalt der Erben Oskar Mayer und denjenigen des
Willy Mayer und der Witwe Marie Mayer) sowie die Sachverständigen einlud
(Disp. 3).

    Willy Mayer und Witwe Marie Mayer rekurrierten gegen diese
Verfügung an den Regierungsrat des Kantons St. Gallen mit dem Antrag,
sie aufzuheben. Zur Begründung machten sie im wesentlichen geltend:
Für die Auseinandersetzung beim Tod eines unbeschränkt haftenden
Gesellschafters seien nach dem Gesellschaftsvertrag die bestehenden
amtlichen Verkehrswertschatzungen massgebend. Einer neuen Schatzung bedürfe
es daher nicht. Eine Schatzung gemäss Art. 618 ZGB komme nicht in Frage,
weil die Liegenschaften, deren Bewertung verlangt werde, gar nicht zur
Erbmasse gehörten; Gegenstand des Nachlasses sei bloss ein Anteil am
Ergebnis der Liquidation der Kommanditgesellschaft, über dessen Bewertung
nach den Vorschriften des OR und des Gesellschaftsvertrages zu entscheiden
sei, und zwar durch den ordentlichen Richter. Für ein Verfahren im Sinne
des Art. 618 ZGB sei überhaupt kein Raum.

    Der Regierungsrat wies den Rekurs am 9. Oktober 1968 ab, soweit er
darauf eintrat, und auferlegte den Rekurrenten eine Entscheidgebühr von
Fr. 150.--. Zur Begründung seines Entscheids führte er im wesentlichen
aus: Bestandteil des Nachlasses Oskar Mayer sei dessen Beteiligung an der
Kommanditgesellschaft Mayer & Cie. Über den Anrechnungswert der dieser
Firma gehörenden Liegenschaften, die gegebenenfalls - je nach dem Ausgang
des (vom ordentlichen Richter zu beurteilenden) Streites zwischen der
Erbengemeinschaft und dem überlebenden Gesellschafter Willy Mayer über
den Gesellschaftsvertrag - Bestandteil des Nachlasses würden, könnten sich
die Erben Oskar Mayer nicht verständigen. Im Verfahren nach Art. 618 ZGB
vor dem Bezirksammann seien demnach nur die Erben Parteien gewesen. Die
Rekurrenten seien zum Rekurs gegen die bezirksamtliche Verfügung nur
legitimiert, wenn sie von ihr betroffen seien. Das sei nur insoweit der
Fall, als sie zur Experteninstruktion eingeladen würden (Disp. 3). Durch
die Anordnung der amtlichen Schatzung und die Bestellung der Experten
(Disp. 1 und 2) seien sie nicht betroffen, da sie nicht Erben Oskar Mayers
seien und deshalb aus der Schatzung nach Art. 618 ZGB weder Vor- noch
Nachteile zu erwarten hätten. Auf den Rekurs sei daher nicht einzutreten,
soweit er sich gegen Disp. 1 und 2 richte; der Regierungsrat habe sich
nur mit Disp. 3 zu befassen. Durch dieses seien die Rekurrenten aber
nur zur Experteninstruktion eingeladen, nicht zur Teilnahme verpflichtet
worden. Da sie im Verfahren nach Art. 618 ZGB nicht Partei seien, könnten
sie auch nicht mit Kosten des Schatzungsverfahrens belastet werden. Soweit
auf den Rekurs einzutreten sei, erweise er sich daher als unbegründet.

    B.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellen Willy Mayer und
Witwe Marie Mayer den Antrag, der Rekursentscheid des Regierungsrates vom
9. Oktober 1968 sei in den Punkten 1 und 3 (Abweisung des Rekurses und
Auferlegung von Kosten), die Verfügung des Bezirksamts Untertoggenburg vom
27. Juni 1968 in allen Punkten aufzuheben. Als Beschwerdegründe machen
sie Willkür, Verletzung der Eigentumsgarantie und Unzuständigkeit der
kantonalen Behörden geltend. Die Begründung dieser Rügen ergibt sich,
soweit wesentlich, aus den nachstehenden Erwägungen.

    C.- Der Regierungsrat des Kantons St. Gallen hat auf Vernehmlassung
zur Beschwerde verzichtet. Die Erben des Oskar Mayer beantragen Abweisung
der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführer beantragen neben der Aufhebung der sie
beschwerenden Teile des regierungsrätlichen Entscheids auch die Aufhebung
der Verfügung des Bezirksammanns in allen Punkten, d.h. der Ziff. 1-3 des
Dispositivs. Der Regierungsrat ist auf den Rekurs der Beschwerdeführer
insoweit nicht eingetreten, als er sich gegen die Ziff. 1 und 2 der
bezirksamtlichen Verfügung richtete. In dieser Beziehung kann sich daher
die staatsrechtliche Beschwerde nur gegen den Nichteintretensentscheid
des Regierungsrates richten, nicht gegen die vom Regierungsrat gar
nicht überprüften Ziff. 1 und 2 jener Verfügung. Ziff. 3 derselben aber
kann deshalb nicht Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde sein,
weil der Regierungsrat sie frei überprüft hat und sein Entscheid daher
an die Stelle desjenigen des Bezirksammanns getreten ist (BGE 94 I 196
Erw. 2 sowie 94 I 220 Erw. 1a mit Hinweisen auf frühere Urteile). Auf die
staatsrechtliche Beschwerde kann somit insoweit nicht eingetreten werden,
als sie sich gegen den Entscheid des Bezirksammanns richtet.

Erwägung 2

    2.- Zur staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen Entscheid ist nach
Art. 88 OG legitimiert, wer durch ihn Rechtsverletzungen erleidet. Dem
Einzelnen steht somit das Beschwerderecht nur zur Geltendmachung seiner
eigenen, rechtlich erheblichen Interessen offen; zur Verfolgung bloss
tatsächlicher Interessen ist es nicht gegeben (BGE 91 I 413 Erw. 3 mit
Verweisungen, 93 I 177/8).

    Die Erben des Oskar Mayer verlangten beim Bezirksamt, der
Anrechnungswert der Liegenschaften der Kommanditgesellschaft Mayer & Cie
sei im Sinne des Art. 618 ZGB durch Sachverständige zu ermitteln. Eine
solche Schätzung hat, wie der Regierungsrat zutreffend festgestellt hat,
nur für die Erben Wirkung und ist für Dritte nicht massgebend. Die vom
Bezirksamt angeordnete Schatzung ist deshalb für den Entscheid darüber,
wie die Liegenschaften der Kommanditgesellschaft Mayer & Cie bei Auflösung
des Gesellschaftsverhältnisses zu bewerten sind, bedeutungslos und kann an
sich die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nicht beeinträchtigen. Fragen
kann sich nur, ob die Durchführung der Schatzung rechtlich geschützte
Interessen der Beschwerdeführer verletze. Sie machen dies geltend mit der
Begründung, sie müssten die Liegenschaften zur Schatzung zur Verfügung
halten, d.h. den bestellten Sachverständigen Zutritt zu ihnen gewähren,
wozu nach Art. 618 ZGB nur Erben verpflichtet seien.

    Die fraglichen Liegenschaften sind Teil des Geschäftsvermögens der
Kommanditgesellschaft Mayer & Cie und als solches Gesamteigentum der
Beschwerdeführer und der Erben des verstorbenen Komplementärs Oskar Mayer.
Diesen Erben steht zur Wahrung ihrer Liquidationsinteressen freilich
ein Kontrollrecht zu, das auch den Zutritt zu den Geschäftsräumen
und Wohnhäusern der Gesellschaft umfasst (SIEGWART N. 2/3 zu
Art. 541 OR, HARTMANN, N. 16 zu Art. 557 OR). Nach der Anordnung
des Bezirksammanns müssen die Beschwerdeführer aber nicht bloss die
Ausübung des Kontrollrechts durch die Erben dulden, sondern darüber hinaus
Sachverständigen den Zutritt gewähren. Ob sie hiezu verpflichtet sind, ist
eine Frage des Gesellschaftsrechts, über die, wie die Beschwerde weiter
geltend macht, nicht die Verwaltungsbehörden, sondern die Gerichte zu
entscheiden haben (vgl. Art. 600 Abs. 3 OR). Soweit die Beschwerdeführer
sich gegen die Durchführung der Schatzung wehren und die Zuständigkeit der
Verwaltungsbehörden zur Anordnung derselben bestreiten, machen sie daher
die Verletzung eigener rechtlich erheblicher Interessen geltend und sind
sie zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert. Zudem hat ihnen der
Regierungsrat eine Gebühr auferlegt, womit sie der Entscheid persönlich
und unmittelbar trifft. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten, soweit
sie sich gegen den Entscheid des Regierungsrates richtet.

Erwägung 3

    3.- Der Regierungsrat ist auf den Rekurs der Beschwerdeführer
insoweit, als er sich gegen Ziff. 1 und 2 der bezirksamtlichen Verfügung
(Anordnung der Schatzung und Bezeichnung der Sachverständigen) richtete,
nicht eingetreten und hat ihn insoweit, als er gegen Ziff. 3 (Einladung
zur Experteninstruktion) erhoben wurde, abgewiesen. Es ist zunächst zu
prüfen, ob der Regierungsrat damit den in der Beschwerde in erster Linie
angerufenen Art. 4 BV verletzt habe.

    a) Gegen Verfügungen, die der Bezirksammann aufgrund von
Art. 7 EG/ZGB erlässt, ist nach Art. 11 EG/ZGB der Rekurs an den
Regierungsrat zulässig. Wer hiezu legitimiert ist, bestimmt sich nach
kantonalem Recht. Der Regierungsrat spricht den Beschwerdeführern die
Legitimation ab, weil sie aus der angeordneten Schatzung weder Vor-
noch Nachteile zu erwarten hätten und daher durch die Ziff. 1 und 2 der
bezirksamtlichen Verfügung nicht "betroffen" seien. Dass die Schatzung
als solche die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nicht berührt,
wurde bereits ausgeführt. Sie haben indessen in ihrer Eigenschaft als
Gesamteigentümer der fraglichen Liegenschaften amtlichen Experten den
Zutritt zu gestatten. Dass ein Gesamteigentümer bei Vorliegen einer
solchen Beschwer nicht als durch die angefochtene Verfügung "betroffen"
zu gelten hätte, behauptet der Regierungsrat nicht. Nach den Ausführungen
GULDENERS (Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz
S. 80), auf die sich der Regierungsrat in diesem Zusammenhang beruft,
gehört zu den "durch die Amtshandlung betroffenen Personen" nicht nur
der Gesuchsteller, sondern jede Person, die durch die Amtshandlung
in ihren subjektiven Rechten verletzt worden ist, wobei dem Wesen der
Sache nach für die kantonalen Rechtsmittel nichts anderes gelten kann
als für die staatsrechtliche Beschwerde (S. 81 mit Fussnote 11). Hat
der Regierungsrat durch Berufung hierauf zum Ausdruck gebracht, dass das
Rekursrecht jedermann zusteht, der in subjektiven Rechten verletzt ist, so
ist es unhaltbar und willkürlich, den Beschwerdeführern die Legitimation
abzusprechen; denn es geht aus dem in Erw. 2 hievor Gesagten hervor,
dass sie insoweit in ihren subjektiven Rechten als Gesamteigentümer
der Liegenschaften verletzt sind, als sie aufgrund der bezirksamtlichen
Verfügung Zutritt und Augenschein der Experten zu dulden haben und als
sie die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden, sie dazu zu verpflichten,
bestreiten. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen, soweit damit die
Weigerung des Regierungsrates, auf den Rekurs gegen Ziff. 1 und 2 der
bezirksamtlichen Verfügung einzutreten, angefochten wird.

    b) Soweit sich der Rekurs gegen Ziff. 3 dieser Verfügung richtete, ist
der Regierungsrat auf ihn eingetreten, hat ihn aber abgewiesen. Die in
Ziff. 3 enthaltene Anordnung, Einladung der Sachverständigen und der
Parteivertreter zur Experteninstruktion, ist jedoch vom Hauptentscheid,
ob eine Schatzung nach Art. 618 ZGB anzuordnen ist, abhängig und kann
für sich allein nicht bestehen bleiben. Der angefochtene Entscheid des
Regierungsrates ist daher in vollem Umfange wegen Verletzung des Art. 4
BV aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens braucht nicht geprüft
zu werden, ob die von den Beschwerdeführern erhobenen weiteren Rügen der
Verletzung der Eigentumsgarantie und der Unzuständigkeit der kantonalen
Behörden begründet wären.

Erwägung 4

    4.- Der Regierungsrat wird bei der Neubeurteilung des Rekurses zu
berücksichtigen haben, dass Art. 618 ZGB nach der Rechtslehre nur für
die Erbteilung, nicht für die Auflösung anderer Gemeinschaften als der
Erbengemeinschaft gilt (TUOR/PICENONI N. 7 zu Art. 617 ZGB) und dass das
dort vorgesehene Schatzungsverfahren nach BGE 66 II 241 sogar nur Platz
greift, wenn ein Erbe die Zuweisung einer Liegenschaft aufgrund eines ihm
den Miterben gegenüber zustehenden Vorrechts beanspruchen kann, ferner
dass Art. 618 ZGB nicht anwendbar ist, wenn eine Rechtsfrage streitig ist
wie z.B. die Frage, welche Art der Bewertung in grundsätzlicher Hinsicht
massgebend ist (TUOR/PICENONI N. 2 zu Art. 618 ZGB). Für den Fall, dass
der Regierungsrat die Anwendbarkeit des Art. 618 ZGB verneinen sollte,
wird er weiter zu prüfen haben, ob die Verwaltungsbehörden oder die
Gerichte sachlich zuständig sind zur Anordnung der von den Erben Oskar
Mayers angestrebten Schatzung der Liegenschaften der Kommanditgesellschaft
Mayer & Cie.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen, soweit
darauf eingetreten werden kann, und der Entscheid des Regierungsrates
des Kantons St. Gallen vom 9. Oktober 1968 aufgehoben.