Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 68



95 IV 68

19. Urteil des Kassationshofes vom 23. Mai 1969 i.S. S. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    1.  Art. 1 StGB. Vom Wortlaut abweichende Auslegung des Gesetzes
(Erw. 3 a).

    2.  Art. 110 Ziff. 5 StGB. Urkunde. Hängt die Urkundenqualität
ausschliesslich von der Beweiseignung ab, überhaupt nicht von der
Beweisbestimmung? (offen gelassen; Erw. 1c).

    3.  Art. 252 StGB. Fälschung von Ausweisen. Müssen die in diesem
Artikel genannten Papiere notwendig Urkunden gemäss Art. 110 Ziff. 5 StGB
sein? (offen gelassen; Erw. 1 am Anfang).

    4.  Art. 251/252 Ziff. 1 Abs. 3 StGB. Gebrauch gefälschter Urkunden und
Ausweise durch den Fälscher ist strafbar, sofern dieser für die Fälschung
straflos blieb (Erw. 3 b und c).

Sachverhalt

    A.- S., der Ende 1962 an der Eidg. Technischen Hochschule das
Maschineningenieur-Diplom erworben hatte, nahm im Frühjahr 1963 an der
Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich das
Studium der Nationalökonomie auf. Ende Februar 1968 meldete er sich zur
Lizentiatsprüfung an. Im Testatheft, das er dabei einreichte, hatte er
29 Unterschriften von 13 Dozenten gefälscht.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich sprach S. mit Urteil vom 7. Juni 1968
der Fälschung von Ausweisen im Sinne von Art. 252 Ziff. 1 und 2 StGB
schuldig und verurteilte ihn zu einer auf zwei Jahre bedingt aufgeschobenen
Gefängnisstrafe von 14 Tagen.

    Gegen dieses Urteil ergriffen sowohl die Staatsanwaltschaft wie der
Angeklagte die Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, dieser
mit dem Antrag auf Freisprechung, jene mit dem Antrag auf Bestrafung des
Angeklagten mit einem Monat Gefängnis.

    Das Obergericht verurteilte S. am 5. November 1968 unter Bestätigung
des bezirksgerichtlichen Schuldspruchs zu einer nach zwei Jahren Bewährung
löschbaren Busse von Fr. 400.--. C. - Der Angeklagte erhob kantonale
Kassations- und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde.

    Die kantonale Beschwerde wurde vom Kassationsgericht des Kantons
Zürich am 6. März 1969 im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

    Mit der eidgenössischen Beschwerde beantragt der Angeklagte
Aufhebung des Urteils und Rückweisung der Sache an das Obergericht zur
Freisprechung. Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie das Obergericht annimmt,
die in Art. 252 StGB genannten Papiere notwendig Urkunden gemäss Art. 110
Ziff. 5 StGB sein müssen; dafür könnte die Überschrift "Urkundenfälschung"
des elften Titels sprechen, was jedoch weder entscheidend wäre (BGE
84 IV 75) noch schlüssig, denn die "Zeichen" der ebenfalls im elften
Titel enthaltenen Art. 256 und 257 fallen nicht notwendig unter den
Urkundenbegriff des Art. 110 Ziff. 5 (HAFTER, Bes. Teil S. 595, 616, 618);
gegen die Auffassung des Obergerichts spricht sodann, dass in Art. 252 von
"Schriften" die Rede ist, nicht von "Urkunden" wie in Art. 251 (HAFTER,
Bes. Teil S. 609).

    Nach der Zürcher Universitätsordnung, wie sie vom Obergericht
verbindlich dargestellt und gewürdigt wird (Art. 277 bis Abs. 1 und
Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP), kommt den Testaten der Dozenten der Rechts-
und Staatswissenschaftlichen Fakultät Urkundenqualität im Sinne des
Art. 110 Ziff. 5 zu.

    a) Gemäss diesen Vorschriften haben die Studierenden sämtliche
Vorlesungen und Übungen in das Testatbuch einzutragen; die Testate werden
von den Dozenten kraft ihres Lehramtes ausgestellt und können nur von ihnen
erteilt werden; sie bilden die Bescheinigung für den Besuch der Kollegien,
und diese Ausweise oder solche anderer Universitäten sind erforderlich für
die Zulassung zu den Prüfungen. Darnach hat der Besuch der Vorlesungen,
der mit den Testaten bescheinigt wird, unbestritten rechtliche Bedeutung
im Sinne von Art. 110 Ziff. 5.

    b) Materiell sollen die Testate nach den von der Vorinstanz
angeführten Bestimmungen den Nachweis erbringen für das Fachstudium in dem
Mindestumfang, wie es in den von der Fakultät aufgestellten Studienplänen
vorgesehen ist. Demnach haben sie Beweisbestimmung gemäss Art. 110 Ziff. 5.

    c) Damit ist der Urkundencharakter gegeben. Daran ändert nichts, dass
die Testaterteilung nach den Feststellungen der Vorinstanz namentlich für
grosse Vorlesungen mehr und mehr zur blossen Formsache geworden ist, viele
Professoren ihre Unterschriften unbesehen geben und der Beschwerdeführer
deshalb die fehlenden Testate noch nachträglich hätte erhalten können,
wenn er sich darum bemüht hätte. Diese Verhältnisse betreffen nicht die
rechtliche Bestimmung, sondern die tatsächliche Eignung der Testate
zum Beweis des Kollegienbesuches. Nach Art. 110 Ziff. 5 genügt aber
zur Urkundenqualität, dass die Schrift zum Beweis entweder bestimmt
oder geeignet ist (entsprechend die Rechtsprechung des Kassationshofes,
z.B. BGE 81 IV 240, 91 IV 7).

    In der Literatur wird freilich die Auffassung vertreten, Urkunden seien
nur Schriften, die sich zum Beweis eignen, und darauf, ob die Schrift
vom Aussteller zum Beweis bestimmt wurde oder nicht, komme nichts an
(HAEFLIGER, ZStR 1958 S. 404 f.; SCHWANDER, Strafgesetzbuch 2. Aufl. S. 453
Nr. 690a; ablehnend L. BURCKHARDT, ZStR 1960 S. 87 ff.; GERMANN, ZStR 1961
S. 405 FN 11). Jedoch selbst bei Zugrundelegung dieser Auffassung kommt
den Testaten wenigstens insofern Urkundencharakter zu, als sie festhalten,
welche Erklärung der Dozent im betreffenden Augenblick abgegeben hat. Sie
sind auf jeden Fall nicht nur bestimmt, sondern auch geeignet zum Beweis
dafür, dass er die von der Universitätsordnung als Studienausweis für
die Zulassung zur Prüfung vorausgesetzte Bescheinigung ausgestellt hat
(BGE 73 IV 50 Erw. 2, 110 Erw. 2; 80 IV 115 Erw. 2; 88 IV 34 unten).

    Unter diesen Umständen kann ungeprüft bleiben, ob die Testate nicht
auch für den Besuch der Vorlesungen immerhin solange Beweis schaffen, als
nicht das Gegenteil bewiesen ist, was genügen würde; dass sie den vollen
und unwiderleglichen Beweis erbringen, wäre nach der Rechtsprechung nicht
nötig (BGE 91 IV 7).

    Ebenso kann die These der Vorinstanz auf sich beruhen, wonach die
Testate zwar nicht den effektiven Besuch der Vorlesungen nachweisen,
wohl aber bescheinigen, dass der Dozent das eingetragene Kolleg als
besuchte Vorlesung im Sinne der Prüfungsbestimmungen gelten lasse,
sie als besucht anrechne. Rechtserhebliche Tatsache ist schwerlich die
Meinung des Dozenten über die Bedeutung des Testates, sondern das, was
dieses nach der Universitätsordnung darstellt.

Erwägung 2

    2.- Die Absicht, sich das Fortkommen zu erleichtern, - und damit
die sich aus dem Gesetz mittelbar ergebende Absicht, die Fälschung zur
Täuschung zu gebrauchen (Urteil des Kassationshofes vom 2. März 1956
i.S. Weibel; GERMANN, ZStR 1961 S. 403 ff.; HAEFLIGER, SJK 138 Ersatzkarte
S. 7 oben) - erblickt die Vorinstanz darin, dass der Beschwerdeführer den
nächsten Prüfungstermin nicht verpassen wollte; hätte er die fehlenden
Testate auf korrekte Weise einholen wollen, wäre ihm eine rechtzeitige
Anmeldung nicht mehr möglich gewesen. Diese Feststellung erklärt das
Kassationsgericht mangels der nötigen aktenmässigen Grundlage als unhaltbar
für den Fall, dass sie sich auf den Zeitpunkt der Fälschungen, nicht
auf den Zeitpunkt ihres Gebrauchs, beziehen sollte. Welcher Zeitpunkt
massgebend sei, sei Rechtsfrage, die das Bundesgericht, nicht das
Kassationsgericht zu entscheiden habe.

    Diese Würdigung des Sachverhaltes durch das Kassationsgericht schliesst
die Annahme aus, der Beschwerdeführer habe schon die Fälschungen in der
Absicht begangen, den nächsten Prüfungstermin nicht zu verpassen. Wie
sich aus den Erwägungen über den Vorsatz ergibt, nimmt das in Wirklichkeit
auch das Obergericht nicht an. Es räumt vielmehr als möglich ein, dass der
Beschwerdeführer die Unterschriften, abgesehen von den Testaten "Käfer",
ursprünglich aus logisch nicht erfassbaren Gründen mehr oder weniger zum
Zeitvertreib nachgeahmt habe, und wirft ihm als vorsätzliche Strafhandlung
nach Art. 252 StGB nur vor, später von den nachgeahmten Unterschriften
im Bewusstsein ihrer Fälschung gegenüber den Universitätsorganen Gebrauch
gemacht zu haben.

Erwägung 3

    3.- a) Demnach hat das Obergericht Abs. 3 und nicht den von
ihm im Urteilsdispositiv angeführten Abs. 2 von Art. 252 Ziff. 1
StGB angewendet. Damit ist es über den Wortlaut dieser Bestimmung
hinausgegangen, nach welchem der Gebrauch eines Ausweises zur Täuschung
nur strafbar ist, wenn die Schrift von einem Dritten, nicht, wenn
sie vom Gebrauchenden selber hergestellt wurde. Das heisst indessen
nicht notwendig, dass die Vorinstanz entgegen Art. 1 StGB auch über
das Gesetz hinaus gegangen sei. Der Gesetzestext ist Ausgangspunkt der
Gesetzesanwendung. Selbst der klare Wortlaut bedarf aber der Auslegung,
wenn er vernünftigerweise nicht der wirkliche Sinn des Gesetzes sein kann.
Massgeblich ist nicht der Buchstabe des Gesetzes, sondern dessen Sinn,
der sich namentlich aus den ihm zugrundeliegenden Zwecken und Wertungen
ergibt, im Wortlaut jedoch unvollkommen ausgedrückt sein kann. Sinngemässe
Auslegung kann auch zu Lasten des Angeklagten vom Wortlaut abweichen. Der
Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1) verbietet bloss, im Gesetz
fehlende Wertungen zugrundezulegen, also neue Straftatbestände zu schaffen
oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des
Gesetzes nicht mehr gedeckt ist (BGE 87 IV 118, 88 IV 93, 90 IV 96 und
187 Erw. 6, 91 IV 28; 87 I 16, 88 II 482; GERMANN, Kommentar zu Art. 1
StGB N 63, 10 und 125, ZStR 1963 S. 83 ff. und 365 ff., Probleme und
Methoden der Rechtsfindung S. 104 ff.; WAIBLINGER, ZBJV 1955 Bd. 91 bis
S. 235 ff.; SCHULTZ, ZStR 1957 S. 51 ff., 1962 S. 150 ff.; MEIER-HAYOZ,
Kommentar zu Art. 1 ZGB N 51, 132 f., 175 ff.).

    b) Art. 252 will wie Art. 251 StGB Treu und Glauben im Verkehr
schützen. Dieses Rechtsgut wird verletzt durch den erfolgreichen
täuschenden Gebrauch gefälschter, verfälschter oder unwahrer Ausweise
und Urkunden. Lediglich in Gefahr gebracht wird es durch die Herstellung
solcher Dokumente. Es kann nun nicht der Sinn des Gesetzes sein, den
Fälscher nur zu bestrafen für die blosse Gefährdung des geschützten
Rechtsgutes, nicht hingegen für seine Verletzung. Ebenso unvernünftig
wäre es, nur den Gebrauch eines fremden Falsifikats, nicht aber den
eines eigenen zu ahnden, denn Treu und Glauben wird durch beides
gleichermassen beeinträchtigt. Das aber wäre die Folge der wörtlichen
Anwendung von Art. 251/252 Ziff. 1 Abs. 3. Dazu kann es freilich nur
kommen, wenn der Fälscher für die Fälschungshandlung nicht zu bestrafen
ist, so weil ihm damals die Täuschungsabsicht fehlte, oder weil die
Fälschungshandlung verjährt ist oder im Ausland begangen wurde und in
der Schweiz nicht verfolgt werden kann. Normalerweise wird der Fälscher
für die Fälschungshandlung bestraft, und eine zusätzliche Ahndung des
durch ihn begangenen Gebrauchs des Falsifikats ist insofern unnötig,
als im Fälschungstatbestand der Vorsatz des täuschenden Gebrauchs bereits
erfasst wird. Auf diesen Normalfall ist der Gesetzestext zugeschnitten. Er
ist zu weit und erfasst auch Ausnahmefälle wie die erwähnten, für die er
zu einem widersinnigen Ergebnis führt. Abgesehen vom Wortlaut besteht
kein Grund, den Fälscher, der das Falsifikat selber verwendet und wegen
der Fälschungshandlung nicht bestraft werden kann, gegenüber dem Dritten,
der eine gefälschte Urkunde gebraucht, zu privilegieren. In diesem Fall
ist deshalb auch der Fälscher wegen Gebrauchs seines Falsifikats zu
bestrafen. Mit dieser Auslegung wird nicht eine Wertung in das Gesetz
hineingetragen. Der Tatbestand des Gebrauchs eines Falsifikats ist im
Gesetz enthalten. Doch sind die Bestimmungen so gefasst, dass der Fälscher
selber bei wörtlicher Anwendung den Tatbestand des Gebrauchs nicht erfüllen
kann. Dass es aber nicht der Sinn des Gesetzes sein kann, den straflos
gebliebenen Fälscher auch noch für den Gebrauch seines Falsifikats
ungestraft zu lassen, ist unzweifelhaft (DUBS, ZStR 1959 S. 94 ff.;
HAEFLIGER, SJK 138 Ersatzkarte S. 6 Ziff. 5; GERMANN, ZStR 1961 S. 403 f.).

    c) Die sinngemässe Auslegung wird gestützt durch die
Entstehungsgeschichte. Nach Art. 176 des Vorentwurfs von 1908 war
die Urkundenfälschung erst mit dem Gebrauch vollendet, ausser bei den
öffentlichen Urkunden, bei denen nach Art. 177, zur Verstärkung des
Strafschutzes (ZUERCHER, Erläuterungen S. 326), schon die Herstellung
des Falsifikats das Delikt vollendete. In beiden Artikeln war daneben der
Gebrauch des Falsifikats als selbständiger Tatbestand vorgesehen. Die 2.
Expertenkommission entschied sich dann für eine alternative Variante
ihrer Redaktionskommission. Diese fasste die beiden Artikel in einem
einheitlichen Urkundendelikt zusammen, das im Sinne des heute geltenden
Textes mit der Fälschung vollendet war; dazu trat der Gebrauch des
Falsifikats durch einen Dritten; die Fälschung öffentlicher Urkunden wurde
zum qualifizierten Fall; als privilegierter Fall wurde die Fälschung von
Ausweispapieren in den Artikel aufgenommen. Durch die Beschränkung des
zusätzlichen Tatbestandes des Gebrauchs auf Drittpersonen sollte für den
Fälscher die Realkonkurrenz ausgeschlossen werden (Prot. 2. ExpK V S. 62
ff.). Offensichtlich wurde aber übersehen, dass der Fälscher für die
Fälschungshandlung unter Umständen gar nicht strafbar oder verfolgbar
ist. Der Fälscher wurde zweifellos nicht bewusst für diese Fälle auch
hinsichtlich des Gebrauchs straflos gelassen, nachdem gleichzeitig der
Schutz des Rechtsgutes durch generelle Vorverlegung des Zeitpunktes der
Vollendung auf die Fälschungshandlung erhöht wurde. Der Tatbestand wurde
vielmehr so umschrieben, um die Realkonkurrenz zwischen Fälschung und
Gebrauch auszuschliessen. Entfällt daher die Realkonkurrenz im Einzelfall,
so ist der Fälscher wegen des Gebrauchs zu bestrafen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.