Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 59



95 IV 59

16. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. April 1969
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen J. Herrmann und R. Käser.
Regeste

    1.  Art. 63 ff. StGB. Ermittlung von Art und Mass der Strafe bei
Zusammentreffen von strafbaren Handlungen; Vorgehen, Aufgabe und Ermessen
des kantonalen Richters (Erw. 1).

    2.  Art. 65 und 100 Ziff. 1 Satz 1 StGB. Der Milderungsgrund des
jugendlichen Alters lässt eine weitere Herabsetzung des Strafrahmens zu,
wenn er mit einem andern Milderungsgrund zusammentrifft (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Brüder J. und X. Herrmann sowie R. Käser und J.  Knecht
stahlen vom 7. Juli bis zum 13. August 1967, als drei von ihnen verhaftet
wurden, aus Häusern und abgestellten Personenwagen wiederholt Geld oder
Gebrauchsgegenstände. Sie handelten bald alle zusammen, bald zu zweit
oder zu dritt, teils bei sich gerade bietender Gelegenheit und teils nach
vorgefasstem Plan.

    Für die Nacht vom 12. auf den 13. August hatten sie einen Raubüberfall
auf einen Wirt in Neukirch vorgesehen. Gegen Mitternacht brachte
J. Herrmann seinen Bruder und R. Käser mit dem Auto an den Tatort. Nach
1.00 Uhr schlichen die beiden letzteren ins Gasthaus, wo Käser den
schlafenden Wirt mit einem Gummiknüttel bewusstlos schlagen und der
ortskundige X. Herrmann sich den Tresorschlüssel verschaffen sollte. Der
Wirt wurde jedoch sofort wach und rollte sich nach einem ersten zögernd
geführten Schlag des Käser aus dem Bett. Als daraufhin die Haushunde Laut
gaben, flohen die Täter durch ein Fenster, ohne etwas zu erbeuten.

    J. Herrmann war damals bald 24, R. Käser etwas über 19, X. Herrmann
und J. Knecht weniger als 18 Jahre alt.

    B.- Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau verurteilte am 30. Oktober
1968 J. Herrmann wegen unvollendeten qualifizierten Raubversuchs,
einfachen und wiederholten qualifizierten Diebstahls sowie wegen Hehlerei
zu vier Jahren Zuchthaus und drei Jahren Einstellung in der bürgerlichen
Ehrenfähigkeit, R. Käser wegen unvollendeten qualifizierten Raubversuchs,
wiederholten qualifizierten Diebstahls, wiederholter Sachbeschädigung
und wiederholten Hausfriedensbruches zu einer bedingt vollziehbaren
Gefängnisstrafe von einem Jahr.

    X. Herrmann und J. Knecht wurden von Jugendgerichten beurteilt.

    C.- Die Vizestaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil der Kriminalkammer
mit Bezug auf die ausgefällten Strafen aufzuheben und die Vorinstanz
anzuweisen, die beiden Verurteilten strenger, Käser insbesondere mit
Zuchthaus statt bloss mit Gefängnis zu bestrafen.

    D.- J. Herrmann und Käser beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin wirft der Kriminalkammer vor, sie sei
bei der Ermittlung von Strafart und Strafmass falsch vorgegangen;
richtigerweise hätte sie zunächst bei jedem Täter die Strafe für die
schwerste Tat, nämlich den (versuchten) Raubüberfall auf den Wirt,
nach Art. 63 und 139 Ziff. 2 StGB ermitteln sollen und erst dann die
Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründe feststellen, gegeneinander
abwägen und als Elemente der Strafzumessung berücksichtigen dürfen. Es
gehe nicht an, dass die Kriminalkammer die Strafe vorerst einzig unter
Heranziehung der Milderungsgründe zu bestimmen suche und erst hernach
den Strafschärfungsgründen Rechnung trage. Auch sei dem angefochtenen
Urteil nicht zu entnehmen, welches Gewicht die Vorinstanz diesen Gründen
im einzelnen zumesse.

    Die Regeln des StGB über die Strafzumessung bestimmen, dass der Richter
die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu bemessen und was er dabei
zu berücksichtigen hat (Art. 63), wann und auf welche Weise er die Strafe
mildern kann (Art. 64-66), dass er bei Rückfall die Strafe schärfen muss
(Art. 67) und dass er den Täter, der mehrere Freiheitsstrafen verwirkt hat,
zu der Strafe der schwersten Tat verurteilen und deren Dauer angemessen
erhöhen soll (Art. 68 Ziff. 1). Daraus erhellt, dass der Richter dann,
wenn der Täter sich wegen verschiedener Straftaten zu verantworten
hat, von der Strafe ausgehen muss, die das Gesetz für die schwerste Tat
vorsieht. In welcher Reihenfolge er die Regeln über die Strafzumessung im
übrigen aber anzuwenden hat, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen; es sagt
insbesondere nicht, dass der Richter nach der von der Beschwerdeführerin
angedeuteten Methode vorgehen müsse. Das ist im Einzelfall vielmehr dem
Richter überlassen. Es widerspricht auch nicht dem Sinn oder Zweck dieser
Regeln, dass schon bei der Ermittlung der Strafe für die schwerste Tat
(Einsatzstrafe), ausser der allgemeinen Bestimmung des Art. 63, allfällige
Milderungs- und Strafschärfungsgründe berücksichtigt werden. Die Anwendung
von Art. 68 Ziff. 1 ist zudem für den Täter nur von Bedeutung, wenn bei der
Strafzumessung der Strafrahmen der schwersten Tat mit Rücksicht auf die
übrigen Taten überschritten wird. Geschieht das nicht, misst der Richter
die Strafe vielmehr im Rahmen der Strafandrohung der schwersten Tat zu,
so kommt das im Ergebnis auf das gleiche heraus, wie wenn er die Mehrheit
der Handlungen nur innerhalb von Art. 63 straferhöhend berücksichtigen
würde (vgl. BGE 77 IV 16).

    Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin braucht der kantonale
Richter im Urteil auch nicht zu sagen, wie viel er als Einsatzstrafe
und wie viel er als Zusatzstrafe in Rechnung stelle, welches Gewicht er
den Umständen, die für die Höhe der Gesamtstrafe entscheidend sind,
im einzelnen beimesse, ob insbesondere ein Milderungsgrund durch
einen gleichfalls gegebenen Schärfungsgrund voll aufgewogen werde
oder ob dieser oder jener überwiege und wenn ja, in welchem Masse. Vom
Richter das verlangen, hiesse seine Aufgabe unnötig erschweren oder gar
verunmöglichen, ohne dass der Kassationshof nachprüfen könnte, ob die
Vorinstanz sie richtig erfüllt habe (BGE 93 IV 57 Erw. a). Eine Strafe
lässt sich naturgemäss weder in ihren Teilen noch in ihrer Gesamtheit
mathematisch errechnen, sondern bloss abschätzen, weshalb dem kantonalen
Richter notwendig ein weitgehendes Ermessen zukommt.

    Auch im Berufungsverfahren besteht die Aufgabe des Richters nicht
darin, dass er die von der ersten Instanz ausgefällte Strafe auf richtige
Bewertung aller Umstände nachzuprüfen hätte, noch ist er gehalten, von
den Ansätzen oder Massstäben der Vorinstanz auszugehen. Wenn die obere
kantonale Instanz sich über die Angemessenheit einer Strafe auszusprechen
hat, setzt sie ihr Ermessen vielmehr an Stelle desjenigen der ersten
Instanz und wendet die Regeln über die Strafzumessung selbständig an
(BGE 80 IV 158, 81 IV 46). Sie braucht zudem sowenig wie die Vorinstanz
sämtliche Umstände, die für das Verschulden und die Höhe der Gesamtstrafe
von Bedeutung sein können, bis in alle Einzelheiten im Urteil anzugeben;
eine Zusammenfassung der wesentlichen Verschuldenselemente muss genügen
(BGE 93 IV 58 Erw. c).

Erwägung 2

    2.- Der Kassationshof dagegen misst die Strafe nicht nach eigenem
Ermessen zu. Er greift auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nur ein, wenn die
ausgesprochene Strafe aus dem gesetzlichen Rahmen fällt oder vom kantonalen
Richter nach unzutreffenden Gesichtspunkten oder in Überschreitung des ihm
zustehenden Ermessens ausgefällt worden ist (BGE 78 IV 72 Erw. 2; 81 IV 46,
123, 314; 90 IV 79). Die Beschwerdeführerin wirft der Kriminalkammer solche
Rechtsverletzungen vor. Sie macht insbesondere geltend, die Vorinstanz
habe die Strafen in unzulässiger Weise gemildert, jedenfalls das ihr
zustehende Ermessen klar überschritten.

    a) Hat der Täter zur Zeit der Tat das achtzehnte, aber nicht das
zwanzigste Jahr zurückgelegt, so kann der Richter die Strafe nach den
Bestimmungen des Art. 65 mildern (Art. 100 Ziff. 1 Satz 1 StGB). Das
gleiche gilt für den Fall, dass der Täter die strafbare Tätigkeit nicht
zu Ende führt, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder
Vergehens begonnen hat (Art. 21 Abs. 1 StGB). Wenn diese Milderungsgründe
eine doppelte Herabsetzung des ordentlichen Strafrahmens erlauben, so
bedeutet das in einem Falle wie dem vorliegenden, dass der Richter statt
auf Zuchthaus von mindestens fünf Jahren, die das Gesetz für bandenmässigen
Raub vorsieht (Art. 139 Ziff. 2 StGB), nicht bloss auf Zuchthaus ohne
bestimmte Mindestdauer, sondern auch auf Gefängnis von sechs Monaten bis
zu fünf Jahren erkennen kann (Art. 65 Abs. 2 und 3).

    Die Vorinstanz hat diese Möglichkeit mit Recht bejaht. Die
Entstehungsgeschichte des Art. 100 StGB zeigt, dass der Milderungsgrund des
jugendlichen Alters eine weitere Herabsetzung des Strafrahmens zulässt,
wenn er mit einem andern zusammentrifft. Art. 100 Ziff. 1 wurde 1950 neu
gefasst, um den Richter bei 18 bis 20jährigen Tätern ganz allgemein zur
Strafmilderung nach Art. 65 StGB zu ermächtigen. Das jugendliche Alter
wurde ausdrücklich als selbständiger Milderungsgrund eigener Art anerkannt
(vgl. Botschaft des Bundesrates, BBl 1949 I 1288; StenBull StR 1949
S. 590, NR 1950 S. 195). Es kann daher schon für sich allein zu einer
Strafmilderung nach Art. 65 führen, lässt aber auch eine weitergehende
Herabsetzung der Strafe zu, wenn noch ein anderer Strafmilderungsgrund
vorliegt. Würde anders entschieden, so wären die 18 bis 20jährigen
Täter, wie die Vorinstanz mit Recht bemerkt, in Wirklichkeit nicht besser
gestellt als die volljährigen. Wie sehr die Möglichkeit einer selbständigen
Milderung wegen des jugendlichen Alters gerechtfertigt ist, erhellt daraus,
dass Art. 100 StGB nach einem neuen Revisionsentwurf des Bundesrates auf
20 bis 25jährige Täter ausgedehnt werden soll (Botschaft des Bundesrates,
BBl 1965 I 586 ff.).

    Die Beschwerdeführerin bestreitet die Möglichkeit einer solchen
Milderung im Grunde genommen nicht; sie wendet bloss ein, dass den
Milderungsgründen der Art. 21 Abs. 1 und 100 Ziff. 1 bei Käser der
Schärfungsgrund des Art. 68 Ziff. 1 gegenüberstehe, was bei gegenseitiger
"Aufrechnung" der Gründe eine zweimalige Anwendung des Art. 65 und damit
eine kumulative Strafmilderung ausschliesse. Die Beschwerdeführerin
übersieht, dass ein Milderungs- und ein Schärfungsgrund sich weder
gegenseitig aufheben noch miteinander zu "verrechnen" sind; wenn solche
Gründe zusammentreffen, hat das bloss zur Folge, dass der Strafrahmen
sowohl nach oben wie nach unten erweitert wird und der Richter die
Strafzumessung innerhalb dieses doppelt erweiterten Strafrahmens
vorzunehmen hat (SCHWANDER, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl.,
S. 200 oben).

    b) Freilich sieht Art. 100 Ziff. 1 Satz 1 bloss eine fakultative
Strafmilderung nach Art. 65 StGB vor, verpflichtet den Richter
folglich nicht, tatsächlich eine andere Strafart auszusprechen oder
unter das angedrohte Mindestmass zu gehen; die Milderung kann sich
in der Herabsetzung innerhalb des ordentlichen Rahmens erschöpfen
(vgl. BGE 71 IV 69). Ebensowenig braucht er zweimal zu mildern,
wenn der Milderungsgrund des Art. 100 Ziff. 1 zwar mit einem weitern
zusammentrifft, der Richter aber nach den Umständen bloss eine einfache
Milderung für gerechtfertigt hält. Findet er dagegen, dass der 18 oder
19jährige Täter nach seiner ganzen Entwicklung und seinem Charakter noch
milder bestraft zu werden verdient, so verletzt der Richter das Gesetz
nicht, wenn er dem Milderungsgrund des jugendlichen Alters nach Art. 65
besonders Rechnung trägt. Zu dieser Auffassung konnte die Vorinstanz aber
bei Käser gelangen, ohne das ihr zustehende Ermessen zu überschreiten
(was näher ausgeführt wird).