Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 55



95 IV 55

15. Urteil des Kassationshofes vom 6. Juni 1969 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Thurgau gegen X. Regeste

    Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB. Bedingter Strafvollzug bei
Angetrunkenheit am Steuer.

    1.  Die Voraussetzungen des bedingten Strafvollzuges sind aus spezial-
wie generalpräventiven Gründen selbst dann streng zu beurteilen, wenn
der Täter zum ersten Mal wegen Angetrunkenheit am Steuer bestraft wird
und seine bisherige Lebensführung nicht zu beanstanden ist (Erw. 1).

    2.  Anwendung dieses Grundsatzes auf einen Automobilisten, der von
Berufs wegen Chauffeurlehrlinge auszubilden hatte und sich durch Dritte
nicht davon abhalten liess, im angetrunkenen Zustand weiterzufahren
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der 34jährige X. brachte am Vormittag des 22. August 1968 seine
Frau mit dem Auto von St. Gallen nach Arbon ins Strandbad. Zu Mittag ass
er nichts. Nach einem Abstecher nach Horn, wo er bis 12.20 Uhr fischte,
fuhr er über Steineloh und Amriswil nach Bischofszell. Unterwegs trank
er drei Flaschen Bier und in Bischofszell zusammen mit zwei Frauen einen
Liter Beaujolais. Am späten Nachmittag fuhr er über Amriswil und Egnach
gegen Arbon zurück, wo er seine Frau abholen wollte.

    Auf der Hauptstrasse zwischen Buch und Wiedehorn geriet X. beim
Überholen eines Personenwagens, der von Z. gesteuert war, ins Schleudern,
weil sein linker Hinterreifen plötzlich Luft verlor. Er sah daraufhin
vom Überholen weiterer Fahrzeuge ab und hielt seinen Wagen am rechten
Strassenrand an. Z. tat dasselbe und forderte X. auf, mit einem
platten Reifen nicht weiterzufahren, zumal er offenbar angetrunken
sei. X. bestritt dies, fuhr mit dem Wagen zu einem nahen Gasthaus und,
als er dort mehrere Personen antraf, etwas weiter in eine Nebenstrasse,
wo er das defekte Rad auswechselte. Z. benachrichtigte unterdessen die
Polizei. Er unterrichtete zudem zwei Männer, die dem X. nachfuhren, ihm
seine Betrunkenheit vorhielten und von der Meldung an die Polizei Kenntnis
gaben. X. liess sich von seinem Vorhaben indes nicht abhalten, behob die
Panne und setzte die Fahrt fort. Nach 18 Uhr wurde er in Arbon von der
Polizei angehalten und einer Blutprobe unterworfen, die für die Zeit der
Rückfahrt eine Alkoholkonzentration von 1,7 Gewichtspromille ergab.

    B.- Das Bezirksgericht Arbon verurteilte X. am 20.  Dezember 1968
wegen Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand zu sieben
Tagen Gefängnis.

    Auf Berufung des Verurteilten änderte das Obergericht des Kantons
Thurgau dieses Urteil am 25. März 1969 dahin ab, dass es X. den bedingten
Strafvollzug gewährte und ihm drei Jahre Probezeit setzte.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, dem Verurteilten den bedingten
Strafaufschub zu verweigern.

    D.- X. beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie das Obergericht zutreffend bemerkt, ist auch bei
Angetrunkenheit am Steuer nicht allgemein nach der Art der Verfehlung,
sondern von Fall zu Fall zu prüfen, ob der Verurteilte sich schon durch
eine blosse Warnungsstrafe dauernd beeinflussen lasse und nach seiner
ganzen Persönlichkeit den bedingten Strafvollzug verdiene. Die nach Art. 41
Ziff. 1 StGB zu stellende Voraussage ist zudem nicht teilbar, noch muss
sie entgegen BGE 88 IV 7 und 90 IV 261 sowohl nach den persönlichen
Verhältnissen wie nach den Umständen der Tat günstig lauten, um einer
blossen Warnungsstrafe die Wirkung einer dauernden Besserung beimessen
zu können. Wie der Kassationshof in Abänderung seiner Rechtsprechung im
Falle Mattle (BGE 95 IV52) ausgeführt hat, ist für den Fall, dass die
Prognose unter dem Gesichtspunkt des Vorlebens gut, unter demjenigen der
Tat dagegen schlecht ausfällt, vielmehr eine Gesamtwürdigung vorzunehmen,
und wenn diese für die Gewährung des bedingten Strafvollzuges spricht,
so genügt das.

    Das heisst nicht, dass diesfalls an die Aussichten, die ein gestützt
auf Art. 91 Abs. 1 SVG Verurteilter für künftiges Wohlverhalten bieten
muss, ein weniger strenger Massstab zu legen sei. Angetrunkenheit am Steuer
führt, wie die Statistik zeigt, fast täglich zu schweren und schwersten
Unfällen. Das muss heute angesichts der Publizität, die diesem häufigen
und schwerwiegenden Vergehen eingeräumt wird, einem Motorfahrzeugführer
ebenso bekannt sein wie die Tatsache, dass übermässiger Alkoholgenuss
die Fähigkeit zur Beherrschung des Fahrzeuges erheblich beeinträchtigt,
für den Strassenverkehr folglich ein zusätzliches und ernstzunehmendes
Risiko bedeutet. Die Voraussetzungen des bedingten Strafvollzuges sind
daher aus spezial- wie generalpräventiven Gründen selbst dann streng
zu prüfen, wenn der Täter zum ersten Mal wegen Fahrens in angetrunkenem
Zustand bestraft wird und seine bisherige Lebensführung nicht zu bemängeln
ist. Die Vorinstanz ist übrigens nicht anderer Meinung.

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht begründet den bedingten Aufschub der Strafe damit,
dass das Verhalten des Angeklagten vom 22. August 1968 in keiner Weise zu
seinem Vorleben passe. X. geniesse nach den Führungsberichten im Privat-
und Berufsleben einen einwandfreien Leumund, weise keinerlei Vorstrafen
auf, habe mit Erfolg eine Schlosserlehre durchgemacht, sei Wachtmeister
im Militär, seit 1956 verheiratet und lebe in geordneten Verhältnissen;
er sei seit 1955 Motorfahrzeugführer und habe bisher keinen Hang zu Alkohol
erkennen lassen. Es sei deshalb unerklärlich, dass er sich am 22. August
plötzlich derart gehen liess und in einem mittelschweren Rauschzustand
ein Motorfahrzeug führte. Schon das spreche dafür, dass es sich um ein
einmaliges Versagen unter besonderen Umständen handeln müsse.

    Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. X. ist seit
anfangs 1968 bei einer grossen Autotransportfirma in St. Gallen tätig,
wo er jedenfalls bis zu seiner Verfehlung Chauffeurlehrlinge auszubilden
hatte. Von einem Automobilisten in solcher Stellung darf und muss aber mit
Rücksicht auf seine Untergebenen erwartet werden, dass er sich über die
Pflicht, in angetrunkenem Zustand kein Motorfahrzeug zu führen, besonders
Rechenschaft gebe. Dies gilt umsomehr, als X. auch die Auswirkungen, die
ein Strafverfahren wegen Angetrunkenheit am Steuer auf seine berufliche
Laufbahn haben musste, schlechterdings nicht entgehen konnten. Die
Verfehlung lässt sich daher schon nach den persönlichen Verhältnissen
des Täters nicht als blosses Versagen unter besondern Umständen abtun.

    Dazu kommt, dass X. zweimal vor der Weiterfahrt gewarnt wurde. Eine
solche Warnung ist entgegen der Auffassung der Verteidigung nicht
nur in der Mahnung des Z., sondern auch darin zu erblicken, dass zwei
Männer dem X. nachfuhren und ihm seine Betrunkenheit vorhielten; denn
der Vorhalt hatte vor allem den Sinn, X. dürfe wegen seines Zustandes
auf keinen Fall weiterfahren. Dass er den Alkoholgenuss bestritt und
die Fahrt trotz wiederholter Warnung und der Mitteilung, die Polizei
sei bereits benachrichtigt worden, bis nach Arbon fortsetzte und sogar
nach St. Gallen zurückfahren wollte, zeugt von Einsichtslosigkeit
und Verantwortungslosigkeit. Wäre er wirklich der pflichtbewusste
und charakterfeste Fahrzeugführer, für den ihn das Obergericht hält,
hätte er zumindest nach den Warnungen Dritter sich an die wichtige
Verkehrsverpflichtung erinnert und danach gehandelt.

    Welche besonderen Tatumstände für ein einmaliges Versagen sprechen
sollen, ist nicht zu ersehen. X. befand sich mit dem Wagen unterwegs
und beabsichtigte, damit über Arbon nach St. Gallen zurückzukehren. Er
wusste somit schon vor dem ersten Wirtshausbesuch, dass er nachher
wieder den Wagen lenken werde. Hat er den Entschluss, ein Motorfahrzeug
zu führen, aber nicht erst in der Trunkenheit gefasst, so kann nichts
darauf ankommen, dass ihn eine Wirtin in Amriswil ersucht hat, mit ihr
über Schocherswil nach Bischofszell zu fahren. Der Umstand sodann, dass
er vor der Wegfahrt in St. Gallen mit seiner Ehefrau eine "Differenz"
hatte, taugt von vorneherein nicht, den Vorwurf der Hemmungslosigkeit
und Rücksichtslosigkeit zu entkräften. Wenn er sich wegen einer blossen
Meinungsverschiedenheit, die er übrigens nie näher dargetan hat, derart
gehen lassen konnte, so spräche dies im Gegenteil für Haltlosigkeit, also
nicht für, sondern gegen eine günstige Prognose über künftiges Verhalten.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Thurgau vom 25. März 1969 inbezug auf die
Gewährung des bedingten Strafvollzuges aufgehoben und die Sache zur
Verweigerung dieser Massnahme an die Vorinstanz zurückgewiesen.