Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 49



95 IV 49

14. Urteil des Kassationshofes vom 6. Juni 1969 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Thurgau gegen Mattle. Regeste

    Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB. Bedingter Strafvollzug bei
Angetrunkenheit am Steuer.

    1.  Die persönlichen Verhältnisse des Täters einerseits und die
besondern Umstände der Tat anderseits sind nicht getrennt, sondern zusammen
zu beurteilen, wenn es darum geht, ob der Verurteilte Gewähr für dauerndes
Wohlverhalten biete und nach seiner ganzen Persönlichkeit den bedingten
Strafvollzug verdiene (Änderung der Rechtsprechung; Erw. 1a).

    2.  Im übrigen ist an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts
entschieden festzuhalten (Erw. 1 b).

    3.  Guter Leumund und geordnete Lebensführung dürfen nicht bloss
vermutet werden, sondern müssen ausgewiesen sein (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der 55jährige Mattle fuhr am 1. Juli 1968 nach 22 Uhr mit seinem
Personenwagen von Amriswil nach Sulgen, wo er an einem geselligen Abend
des Männerchors teilnahm und bis gegen 00.30 Uhr zwei Flaschen gegorenen
Obstsaft sowie zwei Zweier Weisswein trank. Dann setzte er sich wieder
ans Steuer und fuhr nach Amriswil zurück.

    Auf der Bahnhofstrasse in Amriswil erblickte er ein Hindernis in
der Fahrbahn, das er zunächst für eine grosse Puppe gehalten haben will,
dann aber als einen am Boden liegenden Mann erkannte. Es handelte sich
um den 25jährigen Ernst Balmer, der nach einigen Wirtshausbesuchen beim
Überqueren der Strasse strauchelte und zu Fall kam. Mattle setzte seine
Geschwindigkeit von etwa 50 km/Std nicht herab, sondern versuchte Balmer
links zu umfahren. Auf der Höhe des Hindernisses verspürte er eine von
den rechten Rädern herrührende Erschütterung des Fahrzeuges, hielt aber
nicht an. Nach zehn Minuten kehrte er mit dem Wagen auf die Unfallstelle
zurück, wo er von einem Zeugen erfuhr, dass er Balmer einen Fuss überfahren
habe, die Polizei bereits benachrichtigt und der Verletzte zu einem Arzt
verbracht worden sei. Mattle fuhr daraufhin zum Arzt und erkundigte sich
nach dem Zustand Balmers.

    Die Blutprobe ergab bei Mattle eine Alkoholkonzentration von 1,60,
bei Balmer eine solche von 1,57 Gewichtspromille.

    B.- Das Bezirksgericht Bischofszell verurteilte Mattle am
13. Dezember 1968 wegen Übertretung von Art. 31 SVG sowie wegen Fahrens
in angetrunkenem Zustand zu zehn Tagen Gefängnis und 80 Franken Busse,
gewährte dem Verurteilten den bedingten Strafvollzug und setzte ihm drei
Jahre Probezeit.

    Auf Berufung der Staatsanwaltschaft bestätigte das Obergericht des
Kantons Thurgau am 20. März 1969 dieses Urteil.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Verweigerung
des bedingten Strafvollzuges an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Verurteilte hält die Beschwerde für unbegründet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der bedingte Strafvollzug setzt insbesondere voraus, dass Vorleben
und Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde schon durch eine
blosse Warnungsstrafe von weitern Verbrechen und Vergehen abgehalten
(Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB). Diese Erwartung rechtfertigt sich
nach ständiger Rechtsprechung, die der Kassationshof letztmals im Jahre
1964 überprüft und bestätigt hat (BGE 90 IV 261), gewöhnlich nicht,
wenn der Täter in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt; denn
dadurch bekundet er in der Regel, dass er besonders hemmungslos ist und
ihm die Sicherheit und das Leben anderer gleichgültig sind. Festgehalten
hat der Kassationshof damals insbesondere auch daran, dass der Vollzug
der Strafe in solchen Fällen nur aufzuschieben ist, wenn bestimmte
besondere Umstände den Vorwurf der Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit,
der angetrunkene Fahrer im allgemeinen trifft, als unbegründet erscheinen
lassen, wie z.B. dann, wenn sich der Täter erst unter dem enthemmenden
Einfluss des Alkohols zum Führen eines Motorfahrzeuges entschlossen hat
oder wenn er durch starkes Drängen anderer zur Tat bewogen worden ist
(BGE 79 IV 68, 80 IV 13, 88 IV 7).

    Diese Rechtsprechung ist in der Lehre wiederholt kritisiert worden;
auch weichen verschiedene kantonale Gerichte davon ab. Es wird ihr
insbesondere entgegengehalten, dass sie bei Angetrunkenheit am Steuer
im Gegensatz zu andern Fällen die Gewährung des bedingten Strafvollzuges
ausschliesslich von den Tatumständen abhängig mache, Vorleben und Charakter
des Täters ausser acht lasse und aus generalpräventiven Überlegungen
von der auch im Strassenverkehrsrecht gültigen Regelung des Art. 41
Ziff. 1 StGB abrücke. Das widerspreche dem Grundgedanken der Bestimmung
und führe praktisch dazu, den bedingten Strafvollzug einer Gruppe von
Tätern gegenüber überhaupt auszuschliessen (vgl. insbes. SCHULTZ, Die
strafrechtliche Rechtsprechung zum neuen Strassenverkehrsrecht, S. 60-68
und dort angeführte kantonale Urteile).

    a) Dass das Bundesgericht den bedingten Strafvollzug bei angetrunkenen
Fahrern von vorneherein verunmögliche, weil es die persönlichen
Verhältnisse des Täters nicht berücksichtige und die Prognose über
künftiges Verhalten ausschliesslich auf die Tatumstände stütze, trifft
nicht zu. Seine Rechtsprechung liess von Anfang an Ausnahmen zu, die
es übrigens nie abschliessend umschrieben hat. In BGE 88 IV 7 gab der
Kassationshof zudem zu erkennen, dass unter den besondern Umständen, durch
die der Vorwurf der Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit entkräftet werden
kann, nicht bloss äussere Tatumstände, sondern auch die persönlichen
Verhältnisse, insbesondere Vorleben und Charakter, verstanden werden
können. Richtig ist dagegen, dass das Bundesgericht bisher Tatsachen des
Vorlebens, wie Vorstrafenlosigkeit und guten Leumund, für sich allein nicht
genügen liess, um einem angetrunkenen Fahrer den bedingten Strafvollzug
zu gewähren; erforderlich sei vielmehr, dass sowohl die persönlichen
Verhältnisse des Verurteilten wie die Tatumstände den Schluss zuliessen,
die Tat sei auf ein einmaliges Versagen und nicht auf einen Charakterfehler
zurückzuführen (BGE 88 IV 7, 90 IV 261).

    Dieses doppelte Erfordernis ist nach erneuter Überprüfung indes nicht
aufrechtzuerhalten. Es führt zu einer einseitigen Berücksichtigung der
Tatumstände mit der Folge, dass ein noch so günstiges Vorleben des Täters
selbst dann, wenn es den Vorwurf der Rücksichtslosigkeit zu entkräften
vermöchte, im Ergebnis unbeachtlich bleibt. Das lässt sich vermeiden, wenn
die persönlichen Verhältnisse des Täters und die besonderen Umstände der
Tat nicht getrennt, sondern zusammen beurteilt werden. Gewiss ist möglich,
dass sich weder aus der einen noch aus der andern Gruppe von Faktoren eine
begründete Aussicht auf künftiges Wohlverhalten ergibt. Möglich ist aber
auch, dass die Tatumstände zwar nicht für sich allein, jedoch zusammen
mit dem Vorleben den Schluss erlauben, der Verurteilte lasse sich schon
durch die in der ausgesprochenen Strafe liegende Warnung dauernd bessern,
werde künftig insbesondere ähnlichen Versuchungen widerstehen. Vorleben,
Leumund, Tat und was sonst noch gültige Schlüsse auf den Charakter des
Täters zulässt, sind daher gesamthaft zu würdigen, wenn es darum geht,
ob der Verurteilte Gewähr für dauerndes Wohlverhalten biete und nach
seiner ganzen Persönlichkeit den bedingten Strafaufschub verdiene.

    b) Im übrigen ist an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts
entschieden festzuhalten. Das gilt insbesondere vom Grundsatz, dass einem
Fahrer in der Regel der Vorwurf der Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit
nicht erspart bleiben kann, wenn er unbekümmert darum, dass er nachher
ein Motorfahrzeug führen wird, sich antrinkt. Es sollte heute jedem Fahrer
bekannt sein, dass die Fähigkeit zur Beherrschung des Fahrzeuges bereits
bei leichter Alkoholisierung beeinträchtigt ist, der Fahrer sich aber
gerade in diesem Stadium für besonders fahrtüchtig hält, dass ferner
die Leistungsfähigkeit des Fahrers spätestens bei 0,8 Gewichtspromille
allgemein nachlässt und die Unfallgefahr erheblich zunimmt. Diese
Tatsachen sind ernst zu nehmen, zumal im heutigen Verkehr oft schon der
nüchterne Fahrer überfordert ist (BGE 90 IV 160 ff.). Sie müssen jedem
Motorfahrzeugführer zur Mahnung gereichen, ganz abgesehen davon, dass vor
keiner andern Widerhandlung im Strassenverkehr so häufig und eindringlich
gewarnt wird. Wer als Führer vor einer Fahrt gleichwohl übermässig
alkoholische Getränke geniesst, verdient daher als unzuverlässiger und
verantwortungsloser Verkehrsteilnehmer behandelt zu werden.

    Ebensowenig darf am Grundsatz gerüttelt werden, dass an die Gewähr,
die ein gestützt auf Art. 91 Abs. 1 SVG Verurteilter für künftiges
Wohlverhalten bieten muss, aus spezial- wie aus generalpräventiven Gründen
besonders strenge Anforderungen zu stellen sind. Sinn und Wortlaut des
Art. 41 Ziff. 1 StGB gestatten dem Richter durchaus, dem Bedürfnis nach
allgemeiner Abschreckung in Fällen von Angetrunkenheit am Steuer in höherem
Masse Rechnung zu tragen als anderswo. Angetrunkenheit am Steuer stellt
heute das häufigste und nach seinen möglichen Auswirkungen das für Leib
und Leben anderer gefährlichste Vergehen dar. Nach den Veröffentlichungen
des Eidg. Statistischen Amtes mussten von 1962 bis 1967 jährlich zwischen
5000 und 6620 Fahrer wegen Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem
Zustand bestraft werden. Dazu kommt eine Unzahl von Fällen, die der
Strafverfolgung entgehen. Die Gefährlichkeit des Vergehens erhellt aus
den Verkehrsunfällen, die auf Angetrunkenheit von Verkehrsteilnehmern
zurückzuführen sind. Von 1964 bis 1968 wurden bei solchen Unfällen jedes
Jahr 189 bis 206 Personen getötet und 1790 bis 2097 verletzt; in 1541
bis 2059 weiteren Fällen blieb es bei Sachschaden. Von diesen Unfällen
wurden 3330 bis 4141 im Jahr durch angetrunkene Fahrzeuglenker, 210 bis
242 durch angetrunkene Fussgänger verursacht.

    Alkoholische Exzesse von Fahrzeuglenkern führen somit fast
täglich zu schweren und schwersten Unfällen, was angesichts der
Publizität, die solchen Fällen eingeräumt wird, heute allgemein bekannt
ist. Angetrunkenheit am Steuer lässt sich daher schlechterdings nicht
verharmlosen, weder bei der Strafzumessung noch unter dem Gesichtspunkt des
Art. 41 Ziff. 1 StGB, mag sie von weiten Volkskreisen noch so nachsichtig
beurteilt werden; es ist Pflicht des Richters, solcher Nachsicht mit aller
Entschiedenheit entgegenzutreten. Dazu gehört nicht nur, dass angetrunkene
Fahrer, die sich leichthin über eine wichtige Verkehrsverpflichtung
hinwegsetzen, schärfer bestraft werden, sondern auch, dass ihnen gegenüber
mit der Gewährung des bedingten Strafvollzuges Zurückhaltung geübt wird.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall wusste der Fahrer, dass er mit dem Wagen
heimkehren und ihn selber lenken werde. Gleichwohl genoss Mattle nach
seinen eigenen Angaben während knapp zwei Stunden 16 dl alkoholische
Getränke. Er wies denn auch einen Alkoholgehalt von 1,6 Gewichtspromille
auf, was einem mittleren Rauschzustand entspricht. Dass der Angeklagte
sich im Kreise seiner Sängerkameraden gehen liess und in der gehobenen
Stimmung vergass, im Hinblick auf die Rückfahrt Mass zu halten, wie
die Vorinstanz ihm zugute hält, ist von vorneherein nicht geeignet,
seine Bedenkenlosigkeit und Gleichgültigkeit zu widerlegen; ein solches
Verhalten zeugt im Gegenteil von einer lässigen Gesinnung. Dazu kommt, dass
Mattle an dem am Boden liegenden Mann mit unverminderter Geschwindigkeit
und ohne hinreichenden Abstand zu wahren, vorbeifahren wollte und trotz
der hohen Wahrscheinlichkeit, einen Unfall verursacht zu haben, nicht
sogleich anhielt.

    Die Vorinstanz hält Vorleben und Charakter des nicht vorbestraften
Angeklagten für einwandfrei, räumt aber ein, dass die Akten darüber bis zu
seinem 53. Altersjahr keine nähere Auskunft geben, da in Zürich und Basel,
wo er bis anfangs März 1966 gewohnt habe, keine Führungsberichte eingeholt
worden seien; immerhin sei dem Polizeibericht von Sulgen zu entnehmen,
dass er in Basel während vierzehn Jahren bei der gleichen Firma als Drucker
gearbeitet habe. Das genügt entgegen der Auffassung der Vorinstanzjedoch
nicht zur Annahme, Mattle sei stets gut beleumdet gewesen und habe ein
einwandfreies Leben geführt; guter Leumund und geordnete Lebensführung
dürfen nicht bloss vermutet werden, sondern müssen nachgewiesen sein. Ein
solcher Nachweis muss hier umsomehr gefordert werden, als Mattle nach
dem Polizeibericht in der Freizeit und im geselligen Kreise nicht ungern
über den Durst trinkt, erst seit 1967 eine Fahrbewilligung besitzt und
vor dem 1. Juli 1968, als er noch in Sulgen wohnte, keinen Anlass hatte,
sich mit dem Auto zu den Sängerabenden zu begeben; er will damals den
Männerchor denn auch stets zu Fuss aufgesucht haben.

    Das angefochtene Urteil ist daher mit Bezug auf die Gewährung
des bedingten Strafvollzuges aufzuheben und die Sache zur weitern
Abklärung von Vorleben und Charakter des Verurteilten an das Obergericht
zurückzuweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das gute Vorleben
alle Bereiche des Lebens umfassen muss (BGE 85 IV 122, 91 IV 59/60). Die
Vorinstanz hat sodann nach den hievor angeführten Grundsätzen neu zu
prüfen, ob die Tatumstände zusammen mit der bisherigen Lebensführung
Mattles den bedingten Strafaufschub rechtfertigen oder ausschliessen und je
nach diesem Ergebnis neu zu urteilen. Dasselbe gilt für die Frage nach der
vorzeitigen Bussenlöschung, die unter den gleichen Voraussetzungen steht
wie die Gewährung des bedingten Strafvollzuges (Art. 49 Ziff. 4 StGB).

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil
des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 20. März 1969 inbezug auf
die Gewährung des bedingten Strafvollzuges sowie die Bewilligung der
vorzeitigen Löschung der Busse aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.