Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 22



95 IV 22

7. Urteil des Kassationshofes vom 24. Januar 1969 i.S. Taverner gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern Regeste

    Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG.

    1.  Diese Bestimmung ist auf alle Straftatbestände des SVG anwendbar
(Erw. 1a).

    2.  Sie ermächtigt den Richter unter der Voraussetzung, dass ein
besonders leichter Fall vorliegt, nicht nur zur Strafbefreiung, sondern
auch zur Strafmilderung (Erw. 1 b).

    3.  Was unter einem besonders leichten Fall zu verstehen ist, beurteilt
sich in erster Linie nach den Wertungen, die dem SVG zugrunde liegen
(Erw. 1c).

    4.  Anwendung der Bestimmung auf einen Fall von Führen eines
Motorfahrzeuges ohne Haftpflichtversicherung, Art. 96 Ziff. 2 SVG (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Erich Taverner half Hans Buser am 20. April 1968 beim Abschleppen
eines "Renault"-Personenwagens, der keine Kontrollschilder trug und
für den auch keine Haftpflichtversicherung bestand. Sie verbrachten
den Wagen von Mauensee nach Kriens zur Garage Baumgartner, wo er auf
Wunsch Schevers, der sich für den "Renault" interessierte, geprüft
werden sollte. Die Prüfung war indes nicht sogleich möglich; auch war
bei der Garage kein Platz zum Parkieren. Taverner setzte sich deshalb um
15 Uhr, als Buser sich mit dem Schleppfahrzeug bereits entfernt hatte,
ans Steuer des "Renault", liess den Motor an und fuhr mit dem Wagen etwa
100 m weit in eine Seitenstrasse, wo er ihn im Bereiche einer Einmündung
abstellte. Während der Fahrt schritt Schever neben dem Wagen her.

    B.- Das Amtsgericht Luzern-Land büsste Taverner am 9.  September 1968
wegen Führens eines Motorfahrzeuges ohne Haftpflichtversicherung und
ohne Kontrollschilder sowie wegen Parkierens an unzulässiger Stelle mit
100 Franken.

    Auf Appellation der Staatsanwaltschaft änderte das Obergericht des
Kantons Luzern dieses Urteil am 7. November 1968 dahin ab, dass es Taverner
zu drei Tagen Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug sowie zu einer Busse
von Fr. 450.-- verurteilte. Es nahm im Gegensatz zum Amtsgericht an, die
unzulässige Fahrt des Angeklagten von der Garage in die Seitenstrasse
dürfe nicht als besonders leichter Fall im Sinne von Art. 100 Ziff. 1
Abs. 2 SVG gewürdigt werden.

    C.- Der Verurteilte führt gegen das Urteil des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde. Er macht sinngemäss geltend, es handle sich um
einen besonders leichten Fall, da er nur im Schrittempo gefahren sei und
sich kein Mensch auf der Strasse befunden habe.

    D. - Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die
Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG kann in besonders leichten Fällen
von der Strafe Umgang genommen werden.

    a) Diese Bestimmung wurde von den eidg. Räten mit Absicht in die
allgemeinen Vorschriften über die Strafbarkeit aufgenommen, damit sie
entgegen dem Entwurf des Bundesrates nicht bloss auf Verletzungen
von Verkehrsregeln und Vollziehungsvorschriften, sondern auf alle
Straftatbestände des SVG angewendet werden könne (StenBull StR 1958 S. 130
und 134, NR 1958 S. 473 und 474). Sie bezieht sich demnach nicht nur
auf fahrlässige Taten, wie aus der vorausgehenden Vorschrift (Abs. 1)
gefolgert werden könnte, noch schliesst sie die Vergehen des SVG zum
vorneherein aus. Eine vorsätzliche Verkehrswidrigkeit wiegt übrigens
nicht notwendig schwerer als eine fahrlässig begangene, eine Übertretung
des Verkehrsstrafrechts nicht notwendig leichter als ein Vergehen. Die
Anwendung des Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG ist sogar bei mehreren
Verstössen gegen Verkehrsvorschriften möglich, doch versteht sich von
selbst, dass der Richter diesfalls wie auch bei Vergehenstatbeständen
wegen der Beschränkung der Bestimmung auf besonders leichte Fälle von
der ihm eingeräumten Befugnis nur zurückhaltend Gebrauch machen darf
(BGE 94 IV 83; SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des SVG, S. 90 ff.).

    Da es sich bei Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG um eine Kannvorschrift
handelt, ist der Richter zudem berechtigt, aber nicht verpflichtet, von der
Strafe Umgang zu nehmen. Er kann daher, insbesondere wenn die Widerhandlung
bloss mit einer Übertretungsstrafe bedroht ist, auch bei Vorliegen eines
besonders leichten Falles eine Strafe verhängen, ohne dadurch das ihm
zustehende Ermessen zu überschreiten (BGE 91 IV 152 Erw. 3). Von einer
Ermessensüberschreitung kann vor allem dann nicht die Rede sein, wenn die
Voraussetzungen für eine Strafbefreiung nach den Tatumständen zwar gegeben
sind, der Richter jedoch findet, der Angeschuldigte verdiene wegen seines
Vorlebens oder seines schlechten Leumundes, den er als Motorfahrzeugführer
geniesst, gleichwohl eine Strafe. Es verhält sich vielmehr gleich wie bei
Art. 64 StGB, den der Richter ebenfalls nicht schon deshalb anzuwenden
braucht, weil eine der darin genannten Voraussetzungen zutrifft (BGE 71
IV 79).

    b) Eine andere Frage ist, ob Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG den
Richter nicht nur zur Strafbefreiung, sondern auch zur Strafmilderung
ermächtige. Der Wortlaut der Bestimmung steht einer solchen Annahme nicht
im Wege. Unter der Befugnis, in besonders leichten Fällen von der Strafe
Umgang zu nehmen, lässt sich zwangslos auch die weniger weit gehende
verstehen, die Strafe bloss zu mildern, wenn der Richter eine Milderung,
nicht aber die völlige Strafbefreiung für gerechtfertigt hält. Dem kann mit
SCHULTZ (aaO, S. 97) freilich entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber
zu sagen pflegt, wenn er sowohl die Strafbefreiung wie die Strafmilderung
zulassen will, und dass er sich auch in Art. 100 Ziff. 2 Abs. 2 SVG an
diese Übung gehalten hat. Bei Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 lässt sich die
Befugnis zur Strafmilderung jedoch nicht nur aus der Ermächtigung zur
Strafbefreiung, sondern auch aus dem Zweck, den der Gesetzgeber jeweils
mit der Formel des besonders leichten Falles verfolgt, ableiten. Diese
Formel der Rechtsfindung wird in der Strafgesetzgebung des Bundes zwar
in verschiedenem Sinne verwendet, bezweckt aber immer dasselbe. Sie will
dem Richter eine vernünftige Handhabung des Gesetzes ermöglichen, ihn
insbesondere in die Lage versetzen, Härten zu vermeiden, die sich aus
der uneingeschränkten Anwendung einer Regel ergeben könnten. Liegt ein
besonders leichter Fall vor, erscheint jedoch die völlige Strafbefreiung
dennoch nicht als angemessen, so würde es vernünftiger Rechtsanwendung
widersprechen, dem Richter nur die Wahl zu lassen, entweder von Strafe
abzusehen oder dann die als übermässige Härte erscheinende Mindeststrafe
auszufällen, die das Gesetz für nicht besonders leichte Fälle vorschreibt
(vgl. BGE 74 IV 168 Erw. 3).

    Solche Härtefälle sind gerade bei der strengen Regel des Art. 96
Ziff. 2 SVG denkbar, wonach wegen Führens eines Motorfahrzeuges ohne
Haftpflichtversicherung stets mit Gefängnis und zudem mit einer Busse von
mindestens einer Jahresprämie der Versicherung zu bestrafen ist. Diese
Strafandrohung ist für nicht besonders leichte Fälle angemessen; der
Richter dürfte sie im übrigen auch dann nicht auf dem Umweg über Art. 100
Ziff. 1 korrigieren, wenn er sie für übersetzt halten sollte. Liegt jedoch
ein besonders leichter Fall vor, dann kann es dem Richter nicht verwehrt
sein, die Strafe zu mildern, falls er nach allen Umständen weder die
gesetzliche Mindeststrafe noch die Strafbefreiung als angemessen erachtet.

    Die Möglichkeit einer Strafmilderung nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG
ist daher zu bejahen, die Bestimmung folglich nicht mehr, wie das in den
Urteilen BGE 91 IV 152 und 94 IV 83 noch dem Sinne nach angenommen wurde,
auf die Strafbefreiung zu beschränken. Dass sich dieses Ergebnis im Rahmen
sinngemässer Auslegung hält, kann übrigens nicht zweifelhaft sein.

    c) Zu untersuchen bleibt, was unter einem besonders leichten Fall im
Sinne von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG zu verstehen ist. Das beurteilt sich
nicht nach der Lehre und Rechtsprechung zu Bestimmungen anderer Gesetze,
wie z.B. zu Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 und Art. 251 Ziff. 3 StGB, wo der
Begriff des besonders leichten Falles ebenfalls vorkommt. Ob ein solcher
Fall vorliege, hängt freilich, hier wie immer, von den gesamten Umständen
ab, die bei der Abwägung des Verschuldens zu berücksichtigen sind.
Dennoch kann die Wendung je nach dem Zusammenhang, in dem sie gebraucht
wird, eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Für die Auslegung des
Begriffes in Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG sind daher in erster Linie die
Wertungen, die diesem Gesetz zugrunde liegen, heranzuziehen.

    Widerhandlungen gegen Verkehrsvorschriften sind vor allem wegen der
Gefahren, denen andere Verkehrsteilnehmer dadurch ausgesetzt sind, mit
Strenge zu ahnden. Setzt der Täter sich bewusst über solche Vorschriften
hinweg, so kann daher von einem besonders leichten Fall nur die Rede
sein, wenn er gute Gründe hatte, von den Vorschriften abzuweichen, und
wenn er zudem nach den gegebenen Umständen die Gewissheit haben konnte,
durch sein verkehrswidriges Verhalten niemanden gefährden zu können
(vgl. Botschaft des Bundesrates zum SVG, S. 62; SCHULTZ, aaO S. 94). Wer
Verkehrsverpflichtungen leichtsinnig verletzt oder eine Gefährdung anderer
in Kauf nimmt, verdient keine Nachsicht, folglich auch keine Milderung,
gleichviel, ob er tatsächlich jemanden gefährdet hat oder nicht.

    Das gilt auch für das Führen eines Motorfahrzeuges ohne
Haftpflichtversicherung. Bei dieser Straftat ist überdies zu beachten,
dass das Gesetz sie nicht nur zum Vergehen erhoben hat, sondern,
wie die vorgesehenen Mindeststrafen zeigen, im allgemeinen besonders
streng geahndet wissen will. Die Strenge des Gesetzes erklärt sich
aus dem erhöhten Bedürfnis nach allgemeiner Abschreckung, weil kein
Motorfahrzeug ohne Haftpflichtversicherung in den öffentlichen Verkehr
gebracht und der Verkehrsteilnehmer vor nicht versicherungsgedecktem
Schaden besonders geschützt werden soll. Der Richter wird einen besonders
leichten Fall im Sinne von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG nur dann annehmen,
wenn die gesamten Umstände des Falles (wie Geschwindigkeit, Strassen-
und Verkehrsverhältnisse, Beweggründe des Täters usw.) das Verschulden
des Fehlbaren nach den Wertungen des Gesetzes als besonders leicht
erscheinen lassen.

Erwägung 2

    2.- Nach dem angefochtenen Urteil hat Taverner den Wagen Busers
mit Motorkraft verstellt, obwohl er wusste, dass die vorgeschriebene
Haftpflichtversicherung nicht bestand und das Fahrzeug keine
Kontrollschilder trug. Der Beschwerdeführer versucht das mit Recht nicht
zu widerlegen. Er gab in der Untersuchung auch zu, das Fahrzeug an einer
"etwas unglücklichen Stelle" abgestellt zu haben. Dass dort zur selben Zeit
angeblich noch drei andere Wagen parkiert waren und der Beschwerdeführer
nur auf Geheiss Schevers gehandelt haben will, ist bei der Strafzumessung
zu berücksichtigen, ändert an der Unzulässigkeit seines Vorgehens aber
nichts.

    Die zurückgelegte Wegstrecke wird im angefochtenen Urteil zunächst mit
100, dann mit 120 m angegeben. Der Amtsstatthalter, der einen Augenschein
vornahm, schätzte sie auf 80 m, wovon auch das Amtsgericht ausging. Die
Behauptung des Beschwerdeführers, dass er bloss im Schrittempo gefahren
und Schever zur Sicherheit neben dem Wagen hergeschritten sei, ist im
Verfahren unwidersprochen geblieben. Die Vorinstanz hat sie gleichwohl in
Zweifel gezogen, ohne jedoch zu sagen, wie es sich nach ihrer Auffassung
verhalten hat.

    Für die Frage, ob ein besonders leichter Fall vorliege, sind
diese Umstände jedoch wesentlich. Beschränkte sich die Fahrt auf eine
verhältnismässig kurze Strecke, fuhr Taverner so langsam, dass Schever
nebenher gehen konnte, und hatte dieser den Fahrer vor auftauchenden
Gefahren zu warnen, so konnte der Beschwerdeführer unter Umständen davon
ausgehen, eine Gefährdung Dritter sei ausgeschlossen. Möglicherweise war
die Verstellung des Wagens durch Motorkraft dann sogar ungefährlicher,
als eine - erlaubte - Verschiebung durch Stossen des Fahrzeuges. Auch
hängt das entgegen der Auffassung des Obergerichts nicht von einer
abstrakten Verkehrslage auf dem fraglichen Strassenstück, sondern von
den konkreten Umständen zur Zeit der Fahrt ab. Hierüber spricht sich
das angefochtene Urteil nicht aus. Angesichts dieser Unklarheiten
kann nicht nachgeprüft werden, ob ein besonders leichter Fall im Sinne
von Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG vorliege. Das angefochtene Urteil ist
deshalb gestützt auf Art. 277 BStP aufzuheben und die Sache zur Klärung
des Sachverhaltes an das Obergericht zurückzuweisen. Die Vorinstanz hat
insbesondere festzustellen, wie es sich mit der Geschwindigkeit und der
behaupteten Aufgabe Schevers verhielt und ob Taverner danach und nach den
übrigen Umständen die Gewissheit haben konnte, eine Gefährdung Dritter sei
ausgeschlossen. Das Obergericht hat sodann neu zu urteilen, wobei es, was
die Auslegung und Anwendbarkeit des Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG anbetrifft,
von den hievor unter Ziff. 1 dargelegten Grundsätzen auszugehen hat.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen,
das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern vom 7. November
1968 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.