Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 131



95 IV 131

33. Urteil des Kassationshofes vom 3. Oktober 1969 i.S. Sch. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 206 StGB. Anlocken zur Unzucht.

    Die unaufdringliche Bekundung der Bereitschaft zur Unzucht, ebenso
die Anwesenheit einer Dirne an einem Marktstand Prostituierter, hat nicht
die Bedeutung eines Antrages; dieser setzt ein weitergehendes Tätigwerden
durch Anreden, Zurufe, Gesten usw. voraus (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Frau Sch., die zeitweise ihrem Beruf nachging, betätigte sich
seit 1956 auch als Dirne. Sie wurde in Bern dreimal wegen Anlockens zur
Unzucht mit Haft bestraft.

    In der Zeit von Mitte März bis Mitte Juni 1968 stellte die Polizei
fest, dass sich Sch. fünfmal gegen Mitternacht in dem als Dirnenmarktstand
bekannten Gebiet der Papiermühlestrasse/Wankdorfstadion aufhielt, wo sie
in unauffälliger Kleidung und Aufmachung herumstand oder hin und her ging
und darauf wartete, von Freiern angesprochen zu werden.

    B.- Der Gerichtspräsident VI von Bern sprach Sch. am 29.  Oktober 1968
des fortgesetzten Anlockens zur Unzucht (Art. 206 StGB) schuldig und
verurteilte sie zu 20 Tagen Haft. Das Obergericht des Kantons Bern, an
das die Angeschuldigte appellierte, bestätigte am 5. Dezember 1968 das
erstinstanzliche Urteil.

    C.- Die Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
sie sei freizusprechen.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 206 StGB bestraft mit Haft oder Busse, wer gewerbsmässig
und öffentlich jemanden durch Zumutungen oder Anträge zur Unzucht anlockt.

    Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist das Anlocken zur Unzucht nur
unter bestimmten Voraussetzungen strafbar, nämlich wenn es gewerbsmässig
und öffentlich sowie durch Zumutungen oder Anträge geschieht. Die Worte
"durch Zumutungen oder Anträge", die nicht auf einem Versehen beruhen,
bedeuten, dass zum gewerbsmässigen öffentlichen Anlocken ein darüber
hinausgehendes Verhalten hinzutreten muss (BGE 81 IV 109). Soll somit nicht
jede Art des öffentlichen Anlockens zur gewerbsmässigen Unzucht bestraft
werden, so kann jedenfalls das unauffällige und unaufdringliche Anlocken
nicht unter Art. 206 fallen. Diese Bestimmung, die nur die Auswüchse der
Prostitution bekämpft, richtet sich auch bloss gegen die Anstoss erregenden
Zudringlichkeiten der Prostituierten (Botschaft des Bundesrates vom
23. Juli 1918 zum Entwurf eines schweiz. Strafgesetzbuches S. 71). Mit dem
Ausdruck "durch Zumutungen oder Anträge" will demnach lediglich die aktive
Kundenwerbung, das aufdringliche Anlocken erfasst werden. Dazu genügt nicht
jedes Verhalten, durch das eine Dirne oder ein männlicher Prostituierter
das Zustandekommen des unsittlichen Geschäfts bewusst fördert, namentlich
nicht der unaufdringliche Hinweis auf die Bereitschaft zur Unzucht. Ein
einladendes, werbendes Verhalten liegt schon im Begriff des Anlockens;
zur eigenen Gewerbsunzucht anlocken, auch unauffällig, kann denn auch
nur, wer mindestens seine eigene Bereitschaft dazu zu erkennen gibt. An
der in BGE 82 IV 195 vorgenommenen Auslegung, wonach jeder Hinweis auf
die Bereitschaft zur Unzucht als Antrag oder Zumutung zu gelten habe,
kann daher nicht festgehalten werden, da sie auf eine Aufhebung der in
Art. 206 ausdrücklich vorgeschriebenen Einschränkung hinausläuft und
zur Folge hat, dass entgegen dem Sinn und Zweck der Bestimmung jede Art
öffentlichen Anlockens zur gewerbsmässigen Unzucht bestraft werden müsste.

    Wie die unaufdringliche Bekundung der Bereitschaft zur Unzucht einen
Antrag im Sinne von Art. 206 StGB nicht zu begründen vermag, so wenig kann
ein solcher darin erblickt werden, dass eine Dirne an einem Marktstand
Prostituierter hinsteht oder auf- und abgeht, um darauf zu warten, von
Kunden angesprochen zu werden. Damit gibt sie lediglich ihre Käuflichkeit
kund. Daran ändert nichts, dass sie ihre Bereitschaft zur Hingabe jedem
Vorübergehenden, nicht nur einem einzelnen, zu erkennen gibt. Entscheidend
für die Anwendbarkeit des Art. 206 ist nicht, ob die Absicht der Werbung
zur Unzucht für einen grösseren oder kleineren Kreis von Personen
erkennbar wird, sondern ob sich die Dirne ein aufdringliches Anlocken
zuschulden kommen lässt. Es kommt deshalb auch nicht auf den Ort, sondern
nur auf die Art der Werbung an. Ebensowenig kann ein Antrag im Sinne von
Art. 206 unter Hinweis auf die obligationenrechtlichen Bestimmungen damit
begründetwerden, dass die Dirne an einem Dirnenmarktstand- gleich wie
der Kaufmann seine Waren - ihren Leib zur Schau stelle, um damit Kunden
zu werben und Geschäfte abzuschliessen (BGE 81 IV 109 f.). Im blossen
Herumstehen oder Herumgehen liegt ein Antrag nach Art. 3 ff. OR schon
deswegen nicht, weil der zu bezahlende Preis nicht zum voraus bekannt
ist und es Dirnen gibt, die ihre Partner auswählen. Davon abgesehen
ist der Antrag nach Art. 206 StGB nicht ein solcher des Privatrechts;
deshalb spricht der französische Text auch nicht von "offres", sondern von
"propositions déshonnêtes". Darunter ist vielmehr ein Tätigwerden durch
Zurufe, Anreden, Anfassen, Gesten u. dgl. zu verstehen, wodurch jemand
veranlasst werden soll, die käuflichen Dienste der Prostituierten in
Anspruch zu nehmen.

    Die Entstehungsgeschichte des Art. 206 StGB führt zum gleichen
Schluss. Art. 261 Ziff. 1 des Vorentwurfes von 1908 bedrohte mit
Strafe, "wer jemanden öffentlich durch unzüchtige Zumutungen oder
Anträge belästigt". ZÜRCHER bemerkte in seinen Erläuterungen (S. 466)
dazu, dass die strafbare Anwerbung (racolage) nicht in jedem Betreten
der öffentlichen Strasse oder im Auf- und Abgehen liege; strafbar sei
erst die Zudringlichkeit der Prostituierten, die sich an die Männer
herandränge, sie zu überreden suche und dadurch lästig oder gefährlich
werde. In den folgenden Beratungen der 2. Expertenkommission wurde
keine abweichende Auffassung vertreten. Gautier nannte als Beispiele
für Zumutungen (insistances) "une attitude effrontée, des frôlements
etc." und verstand unter Anträgen "des propositions formelles"
(Prot. 2. Exp. Komm. VII S. 72/73). In der Folge erhielt der Text
des Vorentwurfes die Fassung "... durch Zumutungen oder Anträge zur
Unzucht auffordert". Wettstein fand den Ausdruck Aufforderung unpassend
mit der Begründung, dass man durch Zumutungen nicht auffordern könne,
weil der Begriff der Zumutung ein Sichaufdrängen gegen den Willen des
andern enthalte (Prot. 2. Exp. Komm. VIII S. 377). Dem Einwand trug die
Redaktionskommission des Nationalrates in der Weise Rechnung, dass sie
das Wort "auffordern" durch "anlocken" ("inciter") ersetzte. Der Sinn der
Bestimmung wurde dadurch nicht geändert und erfuhr auch in den Beratungen
der eidg. Räte keine Änderung.

    Soweit sich die Literatur mit dem Ausdruck "durch Zumutungen oder
Anträge" überhaupt näher befasst, wird er von der überwiegenden Mehrheit
der Autoren im gleichen Sinne ausgelegt. CLERC (Cours élémentaire, N
134 S. 39) verlangt ein provozierendes Verhalten und erklärt, dass diese
Voraussetzung nicht erfüllt sei, wenn eine Dirne auf der Suche nach Freiern
nur auf dem Trottoir auf- und abgehe. Ebenso ist nach DESCHENAUX (JdT
1943 IV 142) "un acte positif" erforderlich. Desgleichen versteht LOGOZ,
bei der Gesetzesberatung Berichterstatter im Nationalrat, unter Zumutungen
oder Anträgen nur solche im eigentlichen Sinne und nennt als Beispiele die
Dirne, "qui vient se frôler aux hommes ou cherche autrement à les décider
à la suivre ou qui ... les invite par la voix ou le geste à monter chez
elle" (Kommentar, N 2 zu Art. 206 StGB). Auch ZBINDEN (Der Polizeibeamte,
1949 S. 197) vertritt die Auffassung, dass die anständige Anwesenheit
einer Dirne auf Strichplätzen kein strafbares Anlocken darstelle.

Erwägung 2

    2.- Der Angeschuldigten wird einzig vorgeworfen, dass sie in der
Absicht, gewerbsmässig Unzucht zu treiben, sich nachts wiederholt auf
einer als Standort von Dirnen bekannten Strasse aufhielt und wartete,
bis sie von Männern angesprochen wurde. Dass sie nebst der Bekundung
ihrer Bereitschaft durch ein weitergehendes aktives Verhalten zur Unzucht
angelockt habe, wird ihr nicht zur Last gelegt. Der Tatbestand des Art. 206
StGB ist daher mangels Zumutungen oder Anträgen objektiv nicht erfüllt
und die Angeschuldigte demzufolge freizusprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Bern vom 5. Dezember 1968 aufgehoben und die Sache
zur Freisprechung der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz zurückgewiesen.