Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 125



95 IV 125

31. Urteil des Kassationshofes vom 20. November 1969 i.S. Guttmann gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Widerruf des bedingten Strafvollzuges.

    1.  Ein ausländisches Kontumazurteil, das weder rechtskräftig noch
vollstreckbar ist, genügt nicht, eine in der Schweiz ausgefällte Strafe
vollziehen zu lassen (Erw. 1).

    2.  Der Richter, der über den Vollzug einer bedingt aufgeschobenen
Strafe zu entscheiden hat, kann das während der Probezeit im Ausland
begangene Verbrechen oder Vergehen gegebenenfalls selber feststellen
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Guttmann am 8.  März
1962 wegen Betruges, vollendeten Betrugsversuches und wiederholter
Urkundenfälschung zu drei Monaten Gefängnis, schob den Vollzug der Strafe
bedingt auf und setzte dem Verurteilten drei Jahre Probezeit. Das Urteil
blieb unangefochten. Es wurde am 2. September 1965 im Strafregister
gelöscht.

    Im Frühjahr 1969 erfuhr das Bezirksgericht, dass Guttmann am
20. November 1965 von einem Pariser Strafgericht wegen Diebstahls von
ffr. 2500.--, den er 1964 in Frankreich begangen haben soll, in Abwesenheit
zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Es beschloss daraufhin,
die Löschung des Urteils vom 8. März 1962 im Strafregister rückgängig zu
machen und die Gefängnisstrafe von drei Monaten vollziehen zu lassen.

    Ein Rekurs Guttmanns gegen diesen Beschluss wurde vom Obergericht
des Kantons Zürich am 15. August 1969 abgewiesen.

    B.- Guttmann führt gegen den Entscheid des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, ihn aufzuheben.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB lässt der Richter die Strafe unter
anderem vollziehen, wenn der Verurteilte während der Probezeit vorsätzlich
ein Verbrechen oder Vergehen verübt. Voraussetzung dazu ist aber immer,
dass das neue Verbrechen oder Vergehen unzweifelhaft feststeht (BGE 86
IV 85). Das ist namentlich dann der Fall, wenn über die neue Straftat
nicht bloss ein Verfahren eröffnet und durchgeführt worden ist, sondern
ein rechtskräftiges Urteil vorliegt.

    Der Beschwerdeführer hält diese Voraussetzung im vorliegenden Fall
nicht für gegeben, da das in seiner Abwesenheit gefällte Urteil des
Pariser Strafgerichtes nicht endgültig sei und zudem auf einer haltlosen
Anklage beruhe, die er schon im kantonalen Verfahren als Folge einer
Verleumdung bezeichnet habe. Obergericht und Staatsanwaltschaft stellen
sich demgegenüber auf den Standpunkt, dass ein Kontumazurteil über eine
während der Probezeit begangene Straftat dem Widerruf des bedingten
Strafvollzuges jedenfalls solange nicht entgegenstehe, als es nicht
aufgehoben worden sei; wenn Guttmann den Diebstahl nicht begangen habe und
sich für unschuldig halte, hätte er übrigens nicht nur die Möglichkeit,
sondern auch Anlass gehabt, sich der französischen Justiz zu stellen und
das Kontumazurteil aufheben zu lassen.

    Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Gewiss kann auch
ein im Ausland während der Probezeit begangenes Verbrechen oder Vergehen
zur Vollstreckung der in der Schweiz ausgefällten Strafe führen, wenn
es sich bei der neuen Tat um ein Auslieferungsdelikt handelt, das nach
schweizerischem Recht als Verbrechen oder Vergehen zu gelten hat (BGE
80 IV 217). Richtig ist zudem, dass ein Kontumazurteil über eine während
der Probezeit verübte Tat für den Widerruf des bedingten Strafvollzuges
ebenfalls genügen kann, wenn das Urteil, wie das in dem vom Obergericht
angeführten Fall zutraf (ZR 57 Nr. 3), rechtskräftig und vollstreckbar ist.

    Die Vorinstanz übersieht indes, dass zwischen dem von einem
schweizerischen Militärgericht gefällten und dem von einem französischen
Strafgericht ausgesprochenen Kontumazurteil ein für die Anwendung
des Art. 41 Ziff. 3 StGB wesentlicher Unterschied besteht. Gemäss
Art. 167 der Militärstrafgerichtsordnung wird das Kontumazurteil vom
Militärgericht, das es gefällt hat, nur auf Verlangen des Verurteilten
aufgehoben. Solange der Verurteilte kein solches Begehren stellt,
bleibt das Urteil rechtskräftig und vollstreckbar. Im Gegensatz dazu
beschränkt die französische Strafprozessordnung (CPP) die Rechtskraft des
Kontumazurteils auf Nebenpunkte (Art. 633, 635 und 637 Abs. 2 CPP); im
Strafpunkt wird es weder rechtskräftig noch vollstreckbar, sondern fällt
von Gesetzes wegen dahin, sobald die Polizei des Verurteilten irgendwie
habhaft wird (Art. 639 Abs. 1 CPP). Das französische Kontumazurteil kann
daher im vorliegenden Fall nicht zum Vollzug der Strafe von drei Monaten
Gefängnis führen.

    Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und der Staatsanwaltschaft
darf der Beschwerdeführer auch nicht auf dem Umweg über Art. 41 Ziff. 3
StGB gezwungen werden, sich der französischen Justiz zu stellen, wenn
er deren Urteil und den Vollzug der Gefängnisstrafe von drei Monaten
für ungerecht finde. Da Guttmann als Schweizerbürger an keinen fremden
Staat ausgeliefert werden darf (Art. 2 Abs. 1 AuslG), geht es nicht an,
dass den französischen Strafbehörden in einem Verfahren über den Widerruf
des bedingten Strafvollzuges mittelbar Rechtshilfe geleistet wird, die
ihnen im Falle eines Auslieferungsbegehrens verweigert werden müsste.

Erwägung 2

    2.- Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, was aber
nicht heisst, dass es bei der Aufhebung bleiben müsse. Nach ständiger
Rechtsprechung des Kassationshofes kann der Richter, der über den
Vollzug einer bedingt aufgeschobenen Strafe zu erkennen hat, das während
der Probezeit begangene Verbrechen oder Vergehen gegebenenfalls selber
feststellen, es vorfrageweise strafrechtlich würdigen und ihm als Täuschung
des richterlichen Vertrauens Rechnung tragen (BGE 79 IV 113, 86 IV 85, 91
IV 62). Das muss auch für den Fall gelten, dass der unter Bewährungsprobe
stehende Verurteilte die neue Tat im Ausland begangen hat, das Urteil
darüber aber nicht als rechtskräftig angesehen werden darf und daher für
den Widerruf des bedingten Strafvollzuges nicht genügt. Nach Art. 6 StGB
kann der schweizerische Richter diesfalls das Strafverfahren über die
neue Tat sogar selber durchführen, wenn der Täter sich in der Schweiz
befindet. Der Einwand der Staatsanwaltschaft, dass ein Verurteilter,
der sich der ausländischen Justiz nicht stellen will, den Widerruf des
bedingten Strafvollzuges sonst beliebig verhindern könnte, wird dann
gegenstandslos.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 15. August 1969 aufgehoben.