Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 639



95 II 639

86. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Dezember 1969
i.S. Küng gegen Küng. Regeste

    Einrede der abgeurteilten Sache.

    In Prozessen über Ansprüche aus dem Bundeszivilrecht kann mit der
Berufung an das Bundesgericht nicht bloss geltend gemacht werden, die
Vorinstanz habe die auf ein rechtskräftiges kantonales Urteil gestützte
Einrede der abgeurteilten Sache zu Unrecht geschützt, sondern auch,
sie habe diese Einrede zu Unrecht verworfen (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Eine von Küng im November 1961 angehobene Scheidungsklage
wurde durch Urteil des erstinstanzlichen Gerichts vom 17. Januar
1963 abgewiesen. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Im Dezember 1965
klagte Küng neuerdings auf Scheidung. Die Beklagte erhob die Einrede
der abgeurteilten Sache. Das erstinstanzliche Gericht wies die Klage
am 3. November 1966 ab. Das obere kantonale Gericht hiess sie dagegen
mit Urteil vom 10. Februar 1969 gut. Auf Berufung der Beklagten hin
weist das Bundesgericht die Klage ab, weil der Kläger im neuen Prozess
keine neuen erheblichen Tatsachen (vgl. BGE 78 II 403 ff. E. 2, 85 II 59
ff. E. 2) vorgebracht und nachgewiesen habe, so dass der neue Prozess den
gleichen Scheidungsanspruch betreffe wie der frühere und die Einrede der
abgeurteilten Sache begründet sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- In seiner bisherigen Rechtsprechung nahm das Bundesgericht an, die
materielle Rechtskraft, d.h. die Verbindlichkeit für spätere Prozesse,
werde den formell rechtskräftigen Urteilen der kantonalen Gerichte
vom kantonalen Prozessrecht verliehen. Aus dem Bundesprivatrecht folge
nur, dass in einem Prozess über einen bundesrechtlichen Anspruch ein
früheres Urteil bloss dann als verbindlich angesehen, d.h. die Einrede
der abgeurteilten Sache bloss dann geschützt werden darf, wenn der neue
Prozess die gleichen Parteien und den gleichen Anspruch betrifft wie
das frühere Urteil. Dagegen hindere das Bundesprivatrecht den kantonalen
Richter nicht, einen bundesrechtlichen Anspruch, der bereits Gegenstand
eines rechtskräftigen kantonalen Urteils ist, ohne Rücksicht auf dieses
Urteil in einem Prozess zwischen den gleichen Parteien neuerdings zu
beurteilen. Nur die Gutheissung, nicht auch die Abweisung der auf ein
früheres kantonales Urteil gestützten Einrede der abgeurteilten Sache
könne daher durch Berufung an das Bundesgericht angefochten werden
(vgl. namentlich BGE 75 II 290, 78 II 401, 81 II 146 f., 88 I 164).

    An dieser Auffassung haben mehrere Autoren Kritik geübt
(vgl. namentlich KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft
im schweiz. Recht, 1954, S. 62 ff. und 98 Anm. 2; BÜHLER, Das
Ehescheidungsverfahren, ZSR 1955 II S. 427 a ff.;

GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. A. 1958, S. 65; derselbe,
Bundesprivatrecht und kantonales Zivilprozessrecht, ZSR 1961 II S. 17 und
26/27; VOYAME, ebenda S. 172; HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht,
3. A. 1967, S. 226/27; vgl. auch BALMER, Erläuterungen zum Entwurf eines
Bundesgesetzes betr. die Anpassung der kantonalen Zivilprozessverfahren
an das Bundeszivilrecht, in der vom Vorstand des Schweiz. Juristenvereins
1969 herausgegebenen, mit gleicher Seitenzählung auch in ZSR 1969 II
enthaltenen Schrift "Zur Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts",
S. 411, 419, 435 ff.). Die meisten dieser Autoren sind der Meinung,
zur Verwirklichung des Zivilrechts, die der Zivilprozess ermöglichen
müsse, sei notwendig, dass den formell rechtskräftigen Urteilen über
zivilrechtliche Ansprüche materielle Rechtskraft beigelegt werde; die
materielle Rechtskraft solcher Urteile sei also eine Einrichtung des
Zivilrechts. Trifft das zu und ist folglich anzunehmen, die materielle
Rechtskraft eines formell rechtskräftigen kantonalen Urteils über einen
Anspruch aus dem Bundeszivilrecht sei vom Bundesrecht im Sinne von Art. 43
OG vorgeschrieben, so kann in einem Prozess über einen solchen Anspruch
beim Vorhandensein der objektiven Voraussetzungen der Berufung an das
Bundesgericht (Art. 44-50 OG) mit diesem Rechtsmittel geltend gemacht
werden, das kantonale Gericht habe die auf ein rechtskräftiges kantonales
Urteil gestützte Einrede der abgeurteilten Sache zu Unrecht verworfen. -
BÜHLER lässt (aaO) dahingestellt, ob jedem Zivilurteil von Zivilrechts
wegen materielle Rechtskraft zukomme, tritt aber dafür ein, dass auf jeden
Fall im Ehescheidungsverfahren die materielle Rechtskraft eines die Klage
abweisenden kantonalen Urteils aus dem materiellen Bundesrecht abzuleiten
und deshalb vom Bundesgericht im Berufungsverfahren zu beachten sei,
und zwar von Amtes wegen (S. 430 a).

    Das Bundesgericht hat in den letzten Jahren wiederholt auf die Kritik
an seiner Rechtsprechung hingewiesen, brauchte aber dazu bisher nicht
Stellung zu nehmen, weil in den betreffenden Fällen entweder neue Tatsachen
vorlagen, so dass sich der im zweiten Prozess eingeklagte Anspruch von dem
im ersten Prozess beurteilten unterschied (vgl. die nicht veröffentlichte
Erwägung 2 des in BGE 94 II 145 ff. auszugsweise wiedergegebenen Urteils
der II. Zivilabteilung vom 22. Februar 1968 i.S. Schoch gegen Stiftung
Schüler-Ferienversorgung Herzogenbuchsee; Urteil vom 9. Dezember 1968 i.S.
Eheleute Hüssy, E. 1), oder weil das Urteil der Vorinstanz, die von einem
rechtskräftigen frühern Urteil abgewichen war, schon aus andern Gründen
aufgehoben werden musste (Urteile vom 16. Februar 1961 i.S. Eheleute
Plattner und vom 16. Mai 1968 i.S. Eheleute Bosshard, je E. 1). Der
vorliegende Fall gibt dagegen Anlass, die kritisierte Rechtsprechung
zu überprüfen.

Erwägung 4

    4.- a) Das Bundesgericht hatte ursprünglich angenommen, die auf ein
kantonales Urteil gestützte Einrede der abgeurteilten Sache werde in
Prozessen über bundesrechtliche Ansprüche nur insoweit vom Bundesrecht
beherrscht, als sich dabei die Frage der Identität der Sache und der
Parteien stellt; bei Beurteilung dieser Frage komme es auf die rechtliche
Natur des im frühern und des im neuen Prozess erhobenen Anspruchs an, und
diese rechtliche Natur werde bei bundesrechtlichen Ansprüchen durch das
Bundesrecht bestimmt (BGE 16 S. 768, 30 II 543). Nach dieser Auffassung
war das Bundesrecht nur für die Entscheidung einer durch die erwähnte
prozessuale Einrede aufgeworfenen Vorfrage von Bedeutung.

    In BGE 75 II 290/91, wo zunächst die frühere Praxis zusammengefasst
wurde, brachte das Bundesgericht einen neuen Gedanken zur Geltung, indem
es ausführte, vom Standpunkt des Bundesrechts aus müsse verhindert werden,
"dass eine Partei der Möglichkeit beraubt werde, einen bundesrechtlichen
Anspruch geltend zu machen, wenn dieser - nach dem hiefür massgebenden
Bundesrecht - mit einem bereits rechtskräftig beurteilten Anspruch nicht
identisch ist...". Damit wurde festgestellt, dass das Bundesrecht nicht
bloss die Vorfrage der Identität beherrscht, sondern überdies verlangt,
dass ein noch nicht beurteilter bundesrechtlicher Anspruch nötigenfalls
auf dem Prozessweg geltend gemacht werden kann. Aus dem Bundesrecht den
weitern Schluss zu ziehen, eine Partei müsse sich nicht gefallen lassen,
dass ein bundesrechtlicher Anspruch, der bereits Gegenstand eines formell
rechtskräftigen kantonalen Entscheides ist, in einem Verfahren zwischen
den gleichen Parteien neu beurteilt wird, wurde dagegen vom Bundesgericht
bisher abgelehnt (BGE 75 II 291 und die in E. 3 Abs. 1 hievor erwähnten
spätern Entscheide), wenn man von einem vereinzelt gebliebenen, in diesem
Punkt nicht näher begründeten Entscheide aus dem Jahre 1908 absieht
(BGE 34 II 626 E. 2 Abs. 1; vgl. dazu BGE 75 II 291).

    Zum prozessualen Rechtsschutz, dessen das Privatrecht zu
seiner Verwirklichung bedarf und dessen Gewährung daher als von der
Privatrechtsordnung geboten zu gelten hat, gehört jedoch nicht bloss,
dass demjenigen, der einen privatrechtlichen Anspruch zu haben behauptet,
ermöglicht wird, diesen Anspruch gerichtlich geltend zu machen, sofern er
nicht bereits beurteilt ist. Vielmehr ist, wie im angeführten Schrifttum
überzeugend dargelegt wird, zum erwähnten Zweck ausserdem erforderlich,
dass ein formell rechtskräftiger Entscheid über einen solchen Anspruch
die Parteien und ihre Rechtsnachfolger bindet und von einer Partei auf
jeden Fall nicht gegen den Willen der andern in einem neuen Verfahren
wieder in Frage gestellt werden kann, es sei denn durch ausserordentliche
Rechtsbehelfe (etwa auf dem Wege der Revision). Ohne solche materielle
Rechtskraft vermöchte ein Urteil den Parteien keinen vollwertigen
Rechtsschutz zu verschaffen und liesse sich die Privatrechtsordnung
nicht durchsetzen. Die materielle Rechtskraft von Zivilurteilen ist
also in Wirklichkeit eine Einrichtung des Privatrechts. Diejenige
eines formell rechtskräftigen kantonalen Urteils über einen aus dem
Bundesprivatrecht abgeleiteten Anspruch ergibt sich gleich wie das Recht,
einen solchen Anspruch nötigenfalls gerichtlich geltend zu machen,
aus dem Bundesprivatrecht, so dass in Prozessen über bundesrechtliche
Ansprüche mit der Berufung an das Bundesgericht nicht bloss gerügt
werden kann, die Vorinstanz habe die Einrede der abgeurteilten Sache
zu Unrecht geschützt, sondern auch, sie habe diese Einrede zu Unrecht
verworfen. Die I. Zivilabteilung und die Staatsrechtliche Kammer
des Bundesgerichts, die an der bisherigen Rechtsprechung beteiligt
waren (vgl. für die I. Zivilabteilung z.B. BGE 81 II 146/47, für die
Staatsrechtliche Kammer BGE 88 I 164 E. 3), haben sich im Verfahren nach
Art. 16 OG damit einverstanden erklärt, dass diese Rechtsprechung im eben
angegebenen Sinne abgeändert wird.

    Ob die materielle Rechtskraft eines Urteils, das eine Scheidungsklage
abgewiesen hat, in einem spätern Scheidungsprozess zwischen den gleichen
Parteien kraft Bundesrechts nicht bloss auf Einrede hin, sondern von
Amtes wegen zu beachten sei (in diesem Sinne KUMMER aaO S. 65, BÜHLER
aaO S. 428 a ff., HINDERLING aaO S. 227 Anm. 1; anderer Meinung LEUCH,
ZSR 1955 II S. 672 a, und GULDENER, ZSR 1961 II S. 26 Anm. 60; Frage
offen gelassen von BALMER, aaO S. 443), braucht im vorliegenden Falle
nicht entschieden zu werden, da die Beklagte im kantonalen Verfahren
die Einrede der abgeurteilten Sache ausdrücklich erhoben hat und im
Berufungsverfahren als Rechtsfrage unabhängig von der Begründung der
Berufung zu prüfen ist, ob die Vorinstanz durch die Verwerfung dieser
Einrede Bundesrecht verletzt habe.

    b) Die bisherige Rechtsprechung konnte um so weniger befriedigen,
als sie denjenigen, der die Einrede der abgeurteilten Sache auf ein
früheres Urteil aus dem gleichen Kanton stützte, schlechter stellte als
denjenigen, der sich auf ein früheres Urteil aus einem andern Kanton
berufen konnte. Art. 61 BV bestimmt nämlich, dass die rechtskräftigen
Zivilurteile, die in einem Kanton gefällt sind, in der ganzen Schweiz
sollen vollzogen werden können. Der Vollstreckung der Urteile ist im Sinne
dieser Bestimmung, die sich nur auf interkantonale Verhältnisse bezieht
(BGE 31 I 32 E. 4; AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse,
1967, N. 861 S. 324), die Anerkennung der Urteile gleichzustellen
(BGE 87 I 66/67; AUBERT aaO N. 868 S. 326). Die Vollstreckung und die
Anerkennung eines ausserkantonalen Urteils dürfen nicht von einer neuen
Sachprüfung abhängig gemacht werden (BGE 74 I 134 E. 3, 75 I 144/45;
AUBERT N. 869 S. 327). Sie dürfen vielmehr nur bei Verletzung gewisser
fundamentaler Zuständigkeits- und Verfahrensregeln verweigert werden
(BGE 87 I 71 E. 5). Eine Zivilsache, in der bereits ein rechtskräftiges
kantonales Urteil vorliegt, darf also nach Art. 61 BV in einem andern
Kanton grundsätzlich nicht nochmals beurteilt werden (BGE 78 II 401 mit
Hinweisen), was bedeutet, dass Art. 61 BV den formell rechtskräftigen
Zivilurteilen aus andern Kantonen die materielle Rechtskraft gewährleistet
(BGE 78 II 402; vgl. auch BGE 87 I 66/67, 88 I 163). Dass ein kantonaler
Entscheid diese Bestimmung verletze, kann zwar nicht mit der Berufung
an das Bundesgericht, wohl aber mit staatsrechtlicher Beschwerde
geltend gemacht werden (BGE 78 II 402 mit Hinweisen, 88 I 164). Einen
entsprechenden Schutz genoss derjenige, der sich auf ein früheres Urteil
aus dem gleichen Kanton stützte, nach der bisherigen Rechtsprechung
nicht. Er konnte höchstens mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV geltend machen, das kantonale Gericht habe
kantonales Prozessrecht (oder gegebenenfalls Vorschriften des SchKG)
willkürlich angewendet (vgl. AUBERT aaO N. 861 S. 324/25).

    Die bisherige Rechtsprechung schützte ferner eine Partei, die es in
einem Prozess über einen bundesrechtlichen Anspruch beim Urteil der letzten
kantonalen Instanz hatte bewenden lassen, in einem neuen Prozess über den
gleichen Anspruch weniger gut als eine Partei, welche die Sache an das
Bundesgericht weitergezogen hatte. Die Abweisung der im neuen Prozess
erhobenen Einrede der abgeurteilten Sache durch die letzte kantonale
Instanz konnte im ersten Falle nur durch staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 BV (Willkür) oder gegebenenfalls von Art. 61
BV angefochten werden, wogegen im zweiten Falle die Berufung an das
Bundesgericht zur Verfügung stand, wenn die objektiven Voraussetzungen
dieses Rechtsmittels (Art. 44 ff. OG) zutrafen; denn es ist unzweifelhaft
ein Grundsatz des Bundesrechts im Sinne von Art. 43 OG, dass die Urteile
des Bundesgerichts, die gemäss Art. 38 OG mit der Ausfällung rechtskräftig
werden, in einem spätern Prozess zwischen den gleichen Parteien über
den gleichen Anspruch die Einrede der abgeurteilten Sache begründen. Auch
diese Ungleichheit wird durch die mit dem vorliegenden Entscheid erfolgende
Praxisänderung beseitigt.

    Auf die Rechtsbehelfe, die nach der bisherigen Rechtsprechung zur
Verfügung standen, bleibt angewiesen, wer in einem Prozess über einen vom
kantonalen oder ausländischen Privatrecht beherrschten Anspruch geltend
machen will, die letzte kantonale Instanz habe die auf ein kantonales
Urteil gestützte Einrede der abgeurteilten Sache zu Unrecht verworfen;
denn mit der Berufung an das Bundesgericht kann nicht geltend gemacht
werden, der angefochtene Entscheid verletze das massgebende kantonale
oder ausländische Recht, aus dem sich die materielle Rechtskraft des zur
Begründung der Einrede angerufenen frühern Urteils ableiten liesse. Für
solche Fälle lässt sich der Rechtsschutz nicht durch eine Änderung
der Rechtsprechung, sondern nur durch eine Gesetzesänderung verbessern
(vgl. BALMER aaO S. 436/37; Art. 71 des Entwurfs eines Bundesgesetzes
betreffend die Anpassung der kantonalen Zivilprozessverfahren an das
Bundeszivilrecht, S. 243 ff. der in E. 3 hievor zitierten Schrift "Zur
Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts").