Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 623



95 II 623

84. Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Dezember 1969 i.S. Weidmann
gegen Helvetia-Unfall. Regeste

    Art. 129 Abs. 2 KUVG schränkt auch die Haftung des Motorfahrzeughalters
aus Art. 58 SVG und seines Versicherers (Art. 65 SVG) ein, gilt aber nur
für Betriebsunfälle (Erw. 2).

    Arbeiter im Sinne von Art. 129 Abs. 2 KUVG ist, wer in einem
dienstvertraglichen Abhängigkeitsverhältnis steht (Erw. 3).

    Art. 67 Abs. 2 lit. b KUVG. Betriebsunfall. Die Fahrt zur Arbeit, die
der Versicherte frei gestaltet, ist keine zur Förderung der Betriebszwecke
bestimmte Verrichtung (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 28. Juli 1964 schloss Alfred Weidmann als Unterakkordant mit
dem Baugeschäft F. & K. Egle, Bülach, einen schriftlichen Vertrag ab über
die Ausführung von Maurerarbeiten an einer Überbauung im "Wiesengrund" in
Oberglatt. Er zog für diese Arbeiten den ihm aus früherer Zusammenarbeit
bekannten Johannes Gandin bei, mit dem er den Lohn hälftig teilte. Die
Firma F. & K. Egle zahlte für beide die Prämien für Betriebsunfälle
an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Luzern (SUVA). Am
3. November 1964 fanden sich Weidmann und Gandin, da es geregnet hatte,
erst nach 11 Uhr im Personenwagen Gandins auf der Baustelle in Oberglatt
ein, um die Arbeit aufzunehmen. Der auf dem Arbeitsplatz tätige Polier
wies sie an, sich bei der Firma F. & K. Egle in Bülach zu melden. Die
beiden fuhren darauf im Wagen Gandins nach Bülach und sprachen bei Karl
Egle vor, der sie auf die Baustelle schickte. Unterwegs stiess der Wagen
Gandins mit einem ihm entgegenfahrenden Lastwagen zusammen. Weidmann und
Gandin wurden dabei verletzt. Die SUVA anerkannte den Unfall Weidmanns
als Betriebsunfall im Sinne von Art. 67 Abs. 2 KUVG und sprach eine
Invalidenrente von jährlich Fr. 1575.-- zu.

    Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte Gandin wegen fahrlässiger
Körperverletzung zu einer Busse von Fr. 300.--.

    B.- Weidmann klagte gegen die Helvetia-Unfall als
Haftpflichtversicherer Gandins auf Ersatz des durch die SUVA nicht
gedeckten Schadens von Fr. 17'338.40 nebst Zins. Die Beklagte anerkannte
die Forderung im Betrage von Fr. 1069.50, d.h. mit Bezug auf die
Schadensposten, für die das KUVG keine Leistungen vorsieht (Sachschaden
und Genugtuung).

    Das Bezirksgericht Dielsdorf wies am 25. September 1968 die Klage im
Restbetrag ab.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 24. Juni 1969 den
erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Der Kläger beantragt mit der Berufung, das vorinstanzliche
Urteil aufzuheben, die "Haftpflicht der Beklagten zu bejahen", die
Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuem Entscheid an das Obergericht
zurückzuweisen.

    Die Beklagte beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell
sie abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Eintretensfrage).

Erwägung 2

    2.- a) Wenn der Arbeitgeber des Versicherten die von ihm in der
obligatorischen Unfallversicherung geschuldeten Prämien bezahlt hat,
haften er, seine Familienangehörigen, Angestellten und Arbeiter gegenüber
einem bei der SUVA versicherten Geschädigten nur, wenn sie den Unfall
absichtlich oder grob fahrlässig verursacht haben. Diese Beschränkung gilt
nicht nur für die Haftung gemäss Obligationenrecht, sondern auch für die in
Art. 58 SVG geregelte Haftung des Motorfahrzeughalters, denn Art. 80 SVG
behält Art. 129 Abs. 2 KUVG vor. Diese Vorschrift bezieht sich indessen
ausschliesslich auf Betriebsunfälle, da nach Art. 108 Abs. 1 KUVG der
Arbeitgeber nur für diese Prämien bezahlen muss (BGE 67 II 231 f., 88 II
41 Erw. 1; MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen
Unfallversicherung, 2. Aufl. S. 21 und 356; OSWALD, Die beschränkte
Haftung des Arbeitgebers gemäss KUVG 129 II, in Schweiz. Zeitschrift für
Sozialversicherung 1962 S. 260). Bei Nichtbetriebsunfällen kann daher der
Geschädigte die in Art. 129 Abs. 2 KUVG aufgezählten Haftpflichtigen für
den von der SUVA nicht gedeckten Schaden (sog. Restforderung) wie Dritte
belangen (OFTINGER, Haftpflichtrecht I S. 389).

    b) Der Kläger ficht diese Auslegung des Art. 129 KUVG nicht an,
macht aber geltend, der Zweckgedanke des KUVG verbiete, kapitalkräftigen
Versicherungsgesellschaften die gleichen Haftungsbeschränkungen einzuräumen
wie den in der erwähnten Vorschrift genannten Personen. Art. 129 Abs. 2
KUVG gelte somit für die Beklagte nicht.

    Die Deckungspflicht des Haftpflichtversicherers reicht nicht weiter
als die Haftung des versicherten Schädigers. Daran ändert nichts, dass
nach Art. 65 SVG der Geschädigte den privaten Haftpflichtversicherer
unmittelbar belangen darf. Diesem stehen grundsätzlich die gleichen
Einreden zu wie dem Versicherten. Ist der Versicherte im Sinne von Art. 129
Abs. 2 KUVG entlastet, so ist es auch sein Haftpflichtversicherer (vgl. BGE
88 II 46 Erw. 5).

Erwägung 3

    3.- Der Kläger hält an der Auffassung fest, er und Gandin seien im
Zeitpunkt des Unfalles nicht Arbeiter im Sinne von Art. 129 Abs. 2 KUVG
der Bauunternehmung Egle gewesen; er behauptet, sie hätten zusammen als
selbständige Unternehmer eine einfache Gesellschaft gebildet, weshalb
die Haftungsbeschränkung der Beklagten schon aus diesem Grunde entfalle.

    Die Vorinstanz stellt auf Grund des Beweisverfahrens fest, dass
sich der Kläger und Gandin vor Arbeitsbeginn zu einer Akkordgruppe
zusammengeschlossen hatten; sie seien auf der Baustelle den Weisungen des
Poliers unterstellt und nicht wesentlich freier gewesen als die sonst von
der Bauunternehmung Egle beschäftigten Arbeiter. Der Kläger behauptet
nicht, diese Feststellungen seien unter Verletzung bundesrechtlicher
Beweisvorschriften zustandegekommen oder beruhten offensichtlich auf
Versehen. Er beanstandet lediglich die Beweiswürdigung, was nicht zulässig
ist (Art. 63 Abs. 2 OG). Die Behauptung sodann, es habe zwischen dem
Kläger und Gandin eine einfache Gesellschaft bestanden, ist erstmals im
Berufungsverfahren aufgestellt worden und nach Art. 55 Abs. 1 lit. c OG
nicht zu hören. Damit bleibt es bei den Feststellungen im angefochtenen
Urteil. Das Obergericht folgert daraus zu Recht, dass die beiden Partner
zur Bauunternehmung Egle in den gleichen tatsächlichen und rechtlichen
Beziehungen standen, obwohl nur der Kläger den schriftlichen Vertrag vom
28. Juli 1964 unterzeichnet hatte. Es ist somit davon auszugehen, dass der
Kläger und Gandin zur Bauunternehmung Egle in einem Abhängigkeitsverhältnis
standen, wie dies für die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
eigentümlich ist. Dem steht die vertraglich vorgesehene Entschädigung nach
Einheitspreisen nicht entgegen, denn Art. 319 Abs. 2 OR behält für den
Dienstvertrag die Bestimmung des Lohnes nach Massgabe der geleisteten
Arbeit ausdrücklich vor. Für das Verhältnis der Unterordnung spricht
sodann der Umstand, dass nach dem schriftlichen Vertrag die Beiträge für
die AHV und die NBUV von den vereinbarten Einheitspreisen abzuziehen,
somit von der Bauunternehmung zu entrichten waren. Dass der Kläger eine
"prompte und in jeder Beziehung einwandfreie Arbeit" versprach, schliesst
einen Dienstvertrag nicht zwingend aus. Die Vorinstanz führt in diesem
Zusammenhang aus, dass der Kläger und Gandin nicht für die Herstellung
eines bestimmten Werkes einzustehen hatten, sondern nur bestimmte zur
Fertigstellung des Neubaues für sich allein nicht genügende Arbeiten
leisten mussten. Angesichts dieser verbindlichen Feststellung lässt sich
die streitige Vertragsbestimmung mit der in Art. 328 Abs. 1 OR verankerten
Sorgfaltspflicht des Dienstnehmers durchaus vereinbaren. Der Kläger und
Gandin waren somit Arbeiter der Bauunternehmung Egle.

Erwägung 4

    4.- Der Kläger behauptet, die Vorinstanz habe die Haftung der
Beklagten auch deshalb zu Unrecht abgelehnt, weil es sich nicht um einen
Betriebsunfall, sondern um einen sog. Wegunfall gehandelt habe, der als
Nichtbetriebsunfall gelte.

    Die SUVA hat einen Betriebsunfall angenommen; der Richter ist jedoch an
diese Auffassung nicht gebunden (BGE 88 II 38 f.; MAURER, aaO S. 356 N.
50). Art. 67 Abs. 2 KUVG bezeichnet als Betriebsunfälle "diejenigen
Körperverletzungen, die einem Versicherten zustossen

    a) bei einer Arbeit, die er im Auftrage des Inhabers des die
Versicherung bedingenden Betriebes oder seiner Organe ausführt;

    b) bei einer Verrichtung, die zur unmittelbaren oder mittelbaren
Förderung der Betriebszwecke bestimmt ist und zu der der Versicherte das
Einverständnis des Betriebsinhabers oder seiner Organe voraussetzen darf;

    c) während der Arbeitspause sowie vor Beginn oder nach Beendigung der
Arbeit, wenn der Versicherte sich befugterweise auf der Betriebsstätte
oder im Bereiche der Betriebsgefahren befindet."

    Der Kläger war auf der Fahrt nach Bülach zur Baustelle in Oberglatt
noch nicht bei der Arbeit im Sinne der lit. a und auch nicht auf der
Betriebsstätte oder im Bereiche der Betriebsgefahren im Sinne der lit. c
des Art. 67 Abs. 2 KUVG. Damit fällt nur noch lit. b in Betracht. Diese
Bestimmung will den Kreis der Betriebsunfälle auf Körperverletzungen
erweitern, die dem Versicherten bei gewissen nicht schon von lit. a
oder c erfassten Verrichtungen zustossen. Aus der Entstehungsgeschichte
des Art. 67 Abs. 2 KUVG ergibt sich, dass die Bundesversammlung unter
den Verrichtungen im Sinne der lit. b insbesondere die im Auftrage des
Arbeitgebers ausgeführten Gänge und Reisen ausserhalb des Betriebes
verstand, jedoch klarstellen wollte, dass der Gang des Versicherten von
seiner Wohnung zur Arbeit oder von der Arbeit nach Hause nicht darunter
falle (BGE 88 II 44/45). Unfälle, die der Versicherte auf dem Wege zu
oder von der Arbeit erleidet, sind daher in der Regel keine Betriebs-,
sondern Nichtbetriebsunfälle (MAURER, aaO S. 27).

    Im Gegensatz zu lit. a setzt lit. b des Art. 67 Abs. 2 KUVG für
die Annahme eines Betriebsunfalles voraus, dass sich dieser nicht bei
"einer Arbeit", sondern bei "einer Verrichtung" des Versicherten ereignet
hat. Diese Bestimmung will die von ihr erfassten Unfälle nicht deshalb
als Betriebsunfälle behandelt wissen, weil der Versicherte tätig, sondern
weil dessen "Verrichtung" zur Förderung des Betriebszweckes bestimmt ist,
also normalerweise dem Betriebsinhaber zugute kommt (BGE 88 II 44). Für die
Annahme eines Betriebsunfalles ist somit erforderlich, dass der Versicherte
sich bei einer Verrichtung verletzt, die im überwiegenden Interesse des
Betriebes liegt und für die er "das Einverständnis des Betriebsinhabers
oder seiner Organe voraussetzen darf". Überwiegt dagegen das Interesse
des Versicherten oder einer andern Person an einer Verrichtung, so
ist die Verletzung, die sich der Versicherte dabei zugezogen hat,
ein Nichtbetriebsunfall (MAURER, aaO S. 25). Ob der Versicherte bei
der "Verrichtung" eine aktive oder nur eine passive Rolle spielt, ist
unerheblich. Dass auch ein Unfall, der einem Versicherten während eines
untätigen Verhaltens zustösst, Betriebsunfall sein kann, ergibt sich
schon aus Art. 67 Abs. 2 lit. c KUVG (BGE 88 II 45 Erw. 2 c).

    Die Vorinstanz stellt fest, es sei mangels rechtzeitiger Bestreitung
von der Behauptung der Beklagten auszugehen, dass der Polier der
Arbeitgeberin die Fahrt des Klägers und Gandins von der Arbeitstelle
in Oberglatt nach Bülach und dass der Mitinhaber der Firma Egle die
Rückfahrt angeordnet habe. Der Kläger wendet dagegen ein, er habe
mit der Bestreitung eines Anstellungsverhältnisses nicht nur die
Weisungsbefugnis der Bauunternehmung, sondern auch die Erteilung von
Weisungen durch diese in Abrede gestellt. Ob die Vorinstanz aus den
Erklärungen der Parteien die richtigen Schlüsse gezogen hat, ist eine
Frage des kantonalen Verfahrensrechtes, dessen Auslegung das Bundesgericht
nicht überprüfen darf (Art. 43 OG; BGE 94 II 366 Erw. 1 und dort erwähnte
Entscheide). Bleibt es somit bei der Feststellung der Vorinstanz, so ist
mindestens erwiesen, dass der Kläger und Gandin die Hin- und Rückfahrt
von Oberglatt nach Bülach im "Einverständnis" der Arbeitgeberin und
des sie vertretenden Poliers unternommen haben. Die Fahrt lag aber in
ihrem eigenen Interesse, weil der Polier ihre Dienste abgelehnt hatte
und sie sich, um die Arbeit überhaupt aufnehmen zu können, zuerst bei
der Arbeitgeberin wegen der Verspätung rechtfertigen mussten. Auch die
Feststellungen des Strafurteils über den Unfallhergang, die sich das
Obergericht ausdrücklich zu eigen macht, bestätigen, dass die Fahrt
nicht betrieblichen Zwecken diente. Der Zusammenstoss ereignete sich um
ca. 13 Uhr 30, woraus erhellt, dass die beiden Arbeiter die Arbeit erst
am Nachmittag aufzunehmen beabsichtigten. Es verstrichen zwischen ihrem
Eintreffen auf der Baustelle in Oberglatt, der Hinfahrt zur Arbeitgeberin
nach Bülach und dem Zusammenstoss auf der Rückfahrt nach Oberglatt
nahezu drei Stunden. Dieser Zeitaufwand war weder durch die Wegstrecke
noch durch die Aussprache mit der Arbeitgeberin bedingt, sondern auf
einen freiwilligen Zwischenhalt zurückzuführen. Der Kläger und Gandin
waren somit in der Gestaltung der Fahrt frei, und es kommt daher nichts
darauf an, ob sie sich innerhalb oder ausserhalb der Arbeitszeit auf
dem Weg zum Arbeitsplatz befanden. Der Unfall des Klägers war daher ein
Nichtbetriebsunfall (Wegunfall), der die Haftungsbeschränkung nach Art. 129
Abs. 2 KUVG ausschliesst. Unter diesen Umständen kann offen bleiben,
ob ein Nichtbetriebsunfall nicht schon deshalb anzunehmen sei, weil sich
der Unfall des Klägers nicht mit einem Wagen der Arbeitgeberin ereignet
hat. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an das
Obergericht zurückzuweisen, damit es den streitigen Schadenersatzanspruch
beurteile.

    In dem in BGE 88 II 38 f. beurteilten Fall mussten sich die Arbeiter
auf der Betriebsstätte einfinden, um im Wagen der Arbeitgeberin auf
einen auswärtigen Arbeitsplatz befördert zu werden. Damit brachte die
Arbeitgeberin - im Gegensatz zum vorliegenden Fall - das Verhältnis der
Unterordnung und ihr eigenes Interesse zum Ausdruck, was die Fahrt zu
einer betrieblichen Verrichtung (vgl. MAURER, aaO N. 51 S. 28) und den
Unfall zu einem Betriebsunfall stempelte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 24. Juni 1969 aufgehoben und die
Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz
zurückgewiesen.